Das Konzept des Faschismus (2)

Zeev Sternhell
Mario Sznajder, Maria Asheri
1988
aus dem Französischen von Cornelia Langendorf

<<- Teil (1)

Enrico Corra-dini
Maurice Barrès

Da die Masse in Wahrheit die Nation ausmachte und es das Hauptanliegen der Politik war, deren Integrität und Macht zu erhalten, mußte der Nationalismus eine Lösung für die soziale Frage finden. Barrés, der wichtigste Theoretiker des „romanischen Nationalismus“, der noch handfester war als der „romanische Marxismus“, begriff als einer der ersten, daß eine „nationale“ Bewegung nur dann Gestalt gewinnen konnte, wenn sie die Eingliederung der ärmsten Schichten der Gesellschaft in das Gemeinwesen gewährleistete. Gleichzeitig erkannte er jedoch auch, daß eine „nationale“ Bewegung weder marxistisch noch liberal, weder proletarisch noch bürgerlich sein konnte. Marxismus und Liberalismus sind zwangsläufig Bürgerkriegsbewegungen: Klassenkrieg oder Krieg aller gegen alle in einer individualistischen Gesellschaft sind nur die zwei Seiten desselben Übels. So kam in Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Synthese zustande, der nationale Sozialismus, die Urform des Faschismus. Barrés gehörte zu den ersten politischen Denkern in Europa (wenn er nicht überhaupt der allererste war), der den Begriff „nationalistischer Sozialismus“ verwandte.18
Diese Idee verbreitete sich rasch in ganz Europa. Sie gab die Antwort auf ein Zivilisationsproblem, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch das Anwachsen des Proletariats und die industrielle Revolution entstanden war. Sehr schnell und fast überall verkündeten Theoretiker, die soziale Frage könne anders als durch den unmenschlichen Kapitalismus oder den Sozialismus des Klassenkampfes bewältigt werden. Diese Lösung, die sich auf den Gedanken gründete, daß das Überleben des Volkes den Frieden zwischen dem Proletariat und der Gesamtheit des Gemeinwesens voraussetze, wurde im Frankreich der Jahrhundertwende von Barrés gepredigt, in Italien im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts von Enrico Corradini.
Wie Barrés etwa zwanzig Jahre früher, suchte Corradini das fundamentale Bündnis familiärer Solidarität, wie er es nannte, zwischen allen Klassen der italienischen Gesellschaft wiederherzustellen. 1910 führte er den Begriff „nationaler Sozialismus“ ein und legte die Ziele für diese Bewegung fest. Zuallererst mußte man den Italienern begreiflich machen, daß ihr Land materiell wie moralisch eine proletarische Nation darstellte, danach ihnen die Notwendigkeit des Krieges gegen ausländische Mächte einhämmern, wie der Sozialismus die Arbeiter die Grundsätze des Klassenkampfes lehrte. Schließlich war der Friede zwischen Proletariat und Nation herzustellen.19 Als sich die faschistische Bewegung nach dem Krieg kräftig entfaltete, brachte Corradini den Gedanken, den er seit der Gründung der Associazione Nazionalista 1910 entwickelt hatte, auf eine knappe Formulierung:

„Da der Nationalismus naturgemäß eine nationale Politik verfolgt, muß er auch auf wirtschaftlichem Gebiet national sein, weil beide zusammenhängen.“20

Der Theoretiker des italienischen Nationalismus wollte also vom Marxismus die Idee des Klassenkampfes übernehmen, um sie auf eine höhere Ebene zu übertragen, auf den Krieg zwischen den Staaten. Das Prinzip blieb dasselbe, die Gewalt war die Triebkraft der Geschichte.
Im wesentlichen unterscheiden sich die Grundsätze des italienischen Nationalismus kaum von jenen, die zwanzig Jahre zuvor in Frankreich aufgestellt worden waren. Der einzig originelle Beitrag Corradinis ist die Vorstellung von der „proletarischen Nation“, welche die Italiener auf den Existenzkampf vorbereiten sollte, das heißt auf den Krieg. Der Krieg ist der natürliche Zustand, der zu allen Zeiten zwischen den Völkern herrscht: Disziplin, Autorität, gesellschaftliche Solidarität, Pflichtgefühl, Opferbereitschaft und Heldentum sind notwendige Voraussetzungen für das Überleben des Landes. Positiv ist alles, was eint: ein starker Staat, Individuen im selbstlosen Dienst an der Gemeinschaft, Gesellschaftsschichten, die gleichermaßen um nationale Größe bemüht sind. Alles trennende muß ausgemerzt werden. Die Philosophie der Aufklärung, die Naturrechtslehre, Internationalismus, Pazifismus, bürgerlicher wie proletarischer Klassenegoismus sind zu vernichten. Dasselbe gilt für die Demokratie, die nichts als der Niederschlag bürgerlicher Klasseninteressen ist. Was den marxistischen Sozialismus angeht, so versucht er, die Nation ihrer Substanz zu berauben, um den Interessen des Proletariats zu dienen. Der Reformsozialismus endlich schließt Kompromisse mit der bürgerlichen Demokratie, um angeblich die Lage der unteren Schichten zu verbessern. Corradini zufolge war dieses Bündnis der Politiker die größte Lüge der Demokratie. Der liberalen Gelddemokratie stellte er eine „Ethnarchie“ entgegen, der Geschäftemacherei, der Plutokratie und dem „Klassenparasitentum“ ein auf natürliche Hierarchien gegründetes Regime der Ordnung und Autorität. Dieses Regime sollte die Produktion und Zusammenarbeit der Klassen fördern und für das Wohlergehen aller sorgen.21
Der zweite Hauptbestandteil des Faschismus, der zusammen mit dem antiliberalen und antibürgerlichen Nationalismus die faschistische Ideologie hervorbrachte, war die antimaterialistische Revision des Marxismus. Diese Rebellion, die sowohl in der extremen Linken wie in der nationalistischen Rechten stattfand, ermöglichte die Verbindung einer neuen Spielart des Sozialismus mit dem radikalen Nationalismus.

Karl Marx

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts mußte sich der Sozialismus in Westeuropa mit zwei Phänomenen von erheblicher Tragweite auseinandersetzen. Es war offenkundig geworden, daß sich die großen Prophezeiungen des Marxismus nicht verwirklichen würden. Niemand konnte damals behaupten, daß sich die gesellschaftliche Polarisierung und der Pauperismus – zwei unabdingbare Voraussetzungen für die Revolution – abzeichneten, im Gegenteil. Schon während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts waren der Lebensstandard und die Kaufkraft der Arbeiterklasse gestiegen, und wenn die sozialen Ungleichheiten auch weiterbestanden, so hatten sich die Lebensbedingungen der unteren Schichten doch erheblich verbessert. Diese Entwicklung führte zu einer in Europa noch nie dagewesenen wirtschaftlichen und politischen Lage. Die technischen und wissenschaftlichen Neuerungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts hatten die Produktionsmittel und das Konsumverhalten sowie den Lebensrhythmus verändert und neue Hoffnungen auf Fortschritt und Wohlstand geweckt. Gewiß bedeutete die technologische Revolution einen Triumph der Bourgeoisie, doch sie veränderte gleichzeitig das Verhältnis zwischen den Klassen. Ein halbes Jahrhundert nach dem Kommunistischen Manifest und ein Vierteljahrhundert nach der Pariser Kommune war man in Westeuropa weit entfernt von der industriellen Hölle in Manchester oder der „Blutwoche“ in Paris.
Die gesellschaftlichen Beziehungen gestalteten sich weniger gewaltsam, denn es lag im Interesse aller, Auseinandersetzungen zu vermeiden, die in offene Konflikte ausarten konnten. Seit der Beendigung des Deutsch-Französischen Krieges stabilisierte sich auch die internationale Lage, und auf dem Kontinent herrschte ein bis dahin beispielloser Friede. All diese Faktoren, zu denen aufgrund der verbesserten Lebensbedingungen noch ein bedeutendes Bevölkerungswachstum kam, bewirkten Ende des 19. Jahrhunderts eine außerordentliche Periode der Expansion und des Wohlstands. Sie schien von Dauer zu sein und brachte eine Gesellschaft hervor, in der die politischen und ökonomischen Phänomene ganz anders waren als jene, die Marx beobachtet hatte. Das sozialistische Denken sah sich vor eine Reihe neuer Probleme gestellt, die mit Hilfe der orthodoxen marxistischen Theorie schwer zu erklären waren. So begann die berühmte „Krise des Marxismus“.
Zu den wirtschaftlichen Veränderungen kamen zwei weitere Entwicklungen, die die Anwendung der Traditionellen marxistischen Analyse ebenfalls in Frage stellten; die Demokratisierung des politischen Lebens und die Nationalisierung der Massen. Der Liberalismus war ein von einer Elite erfundenes politisches System zur Beherrschung einer Gesellschaft mit begrenzter Mitbestimmung. Der Übergang zur parlamentarischen Regierungsform mit allgemeinem Wahlrecht, die Anpassung des Liberalismus an die Demokratie und an die Massengesellschaft gingen nicht ohne tiefgreifende Erschütterungen ab, sie waren sogar wesentliche Faktoren der Krisen um die Jahrhundertwende wie in der Zwischenkriegszeit. Nicht ohne enorme Schwierigkeiten erkannte der Liberalismus schließlich den Grundsatz der politischen Gleichheit an und entwickelte sich zur liberalen Demokratie.
Die neuen Massen der Städte, entstanden durch die industrielle Zusammenballung, erhielten so, wenn auch in sehr geringem Ausmaß, Zugang zu den Schalthebeln der Macht. In einem Regime mit allgemeinem Wahlrecht kann man nicht ständig gegen die Interessen der Mehrheit regieren. Marx hatte nicht vorausgesehen, daß das Proletariat, organisiert in Gewerkschaften, sozialistischen Parteien und Interessenvertretungen, eines Tages auf die Idee kommen würde, die bürgerliche Demokratie könne auch seinen eigenen Interessen dienen. Das allgemeine Wahlrecht – selbst wenn es nicht mit politischer Freiheit einherging, wie in Deutschland zu Jahrhundertbeginn – erwies sich als wahrer Integrationsfaktor. Dazu kamen noch das fortschreitende Wirtschaftswachstum und die unbestreitbaren sozialen Verbesserungen in seinem Gefolge. Die Begründer des Sozialismus hatten weder an den Achtstundetag noch an das freie Wochenende gedacht, weder an Sozialversicherungen noch an obligatorischen kostenlosen Schulunterricht.

Vilfre-do Pareto
Max Weber (1918)
Georg Simmel
Émile Durkheim

Es zeigte sich außerdem, daß die Demokratisierung des politischen Lebens und der soziale Fortschritt nicht notwendig den Sozialismus begünstigen. Im Gegenteil, die Modernisierung des europäischen Kontinents, die politische Mitbestimmung und die Mobilisierung der Massen führten zur Nationalisierung eben dieser Massen. Sehr bald stellte sich heraus, daß der Pflichtunterricht, die Alphabetisierung der Landgebiete, der langsame, aber fortschreitende Zugang der Arbeiterklasse zur Bildung nicht etwa das Klassenbewußtsein des Proletariats förderten, sondern die Bewußtwerdung der nationalen Identität. Die Neustrukturierung der Entlohnung sowie das Entstehen einer Mittelschicht beweisen, daß die Modernisierung, im Gegensatz zu allen Voraussagen, dem Sozialismus schadete. Der vielbeschworene Polarisierungsprozeß fand nicht statt, und in Frankreich wie in Italien oder in Deutschland ernteten die nationalistischen Bewegungen auf politischer Ebene die Früchte dieser Entwicklung. Populistisch und revolutionär schlugen sie den größten Gewinn aus der intellektuellen Revolution des ausgehenden Jahrhunderts. Letzten Endes erhielt der Sozialismus weder durch den Darwinismus noch durch den Antipositivismus Auftrieb, genausowenig durch die neuen Sozialwissenschaften wie Psychologie und Soziologie, die mit Pareto, Simmel, Durkheim und Max Weber sozusagen die Antwort des akademischen Establishments Europas auf den Marxismus gaben. Diese neuen Gegebenheiten wie das geistige Klima, das sie schufen, führten zur Revision des Marxismus.

Friedrich Engels
Karl Johann Kautsky
Eduard Bernstein
Bis-marck

Diese Revision – in Wirklichkeit eine Neuinterpretation der ideologischen Inhalte des Marxschen Denkens und ihre Anpassung an die neue Situation – folgte der großen Debatte, deren erste Protagonisten die beiden Gefährten von Engels waren, Eduard Bernstein und Karl Kautsky. Der Angriff Bernsteins, die Erwiderung Kautskys, die Intervention aller, die im internationalen Sozialismus Rang und Namen hatten, das Ausmaß der jahrelangen Kontroverse verliehen der berühmten „Bernsteindebatte“ außergewöhnliche Bedeutung.
Halten wir fest, daß auch Kautsky, der von 1880 bis 1895 eng mit Bernstein zusammengearbeitet hatte, nie daran dachte, den Sozialismus von der Demokratie abzutrennen. Aber wenn Bernstein, der lange unter dem Einfluß der Fabianer gestanden hatte, bereit schien, eine konstitutionelle Monarchie zu akzeptieren, so verfolgte Kautsky kein geringeres Ziel als die Errichtung eines radikalrepublikanischen Regimes.22 Es gab keinerlei Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden hinsichtlich der Notwendigkeit, auf die Demokratisierung der deutschen Gesellschaft und des deutschen Staates hinzuarbeiten, und zwar unter Einsatz von Mitteln, die mit dem allgemeinen Wahlrecht und dem Mehrheitsprinzip vereinbar waren. Für Kautsky bedeutete „Revolution“, daß die Machtergreifung durch die Sozialisten unbedingt mit einer völligen Umwandlung der Klassenstruktur einhergehen mußte, alles übrige aber demokratischen Regeln unterworfen bleiben sollte.23
Vergessen wir nicht, daß Kautsky einer der maßgebenden Verfasser des Erfurter Programms war, das 1891 angenommen wurde, nachdem Bismarcks antisozialistische Gesetze aufgehoben worden waren. Der Erfurter Kongreß beschloß die „Marxisierung“ der SPD und zugleich ihren Eintritt in das politische Leben des Reiches. Daher beruhte sein Programm von vornherein auf einer fundamentalen Zweideutigkeit, die sehr schnell zum Vergrößerungsglas für die Schwierigkeiten wurde, mit denen der westliche Marxismus zu kämpfen hatte. Diese Ambivalenz beruhte auf dem offensichtlichen Widerspruch zwischen dem revolutionären, „klassenkämpferischen“ theoretischen Teil des Programms und dem streng demokratischen, „reformistischen“ Inhalt des praktischen und politischen Teils. 1892 veröffentlichte Kautsky ein 260 Seiten umfassendes Werk, Das Erfurter Programm, in dem er seine Gedanken ausführte, und das sofort zu einem Klassiker der sozialistischen Literatur wurde. Dieses Buch trug viel dazu bei, seinen Autor zum offiziellen Theoretiker der Partei zu machen. Einige Jahre später, als die große Kontroverse um den Marxismus ausbrach, wurde es zur Hauptzielscheibe der Revisionisten.

August Bebel, um 1910
Plecha-now 1917
Wilhelm Lieb-knecht
Rosa Luxemburg
Jean Jaurès, 1904

Damit fand sich die SPD genau zu jenem Zeitpunkt mit einer revolutionären Doktrin ausgestattet, als sie den Weg der Demokratie einschlug und keineswegs mehr an Gewalt oder Umsturz dachte. Selbst wenn Bebel oder Liebknecht, die beiden Führer der Partei, je revolutionäre Absichten gehabt hätten, so war davon nichts mehr übrig, als die Partei marxistisch wurde. In den Augen vieler ausländischer Sozialisten erschien diese Anomalie allmählich als fragwürdiger Opportunismus, umso mehr, als die deutsche Partei als vertrauenswürdigste Erbin des Denkens von Marx und Engels angesehen wurde. Stand der Autor des Anti Dühring nicht bis zu seinem Tode 1895 in ständigem Kontakt mit Kautsky?
Diese Kluft zwischen Theorie und Praxis erklärt sich aus den in Deutschland herrschenden Verhältnissen, wo Doktrinarismus allen Parteien eigen war. Während die politischen Strukturen des Reiches sie daran hinderten, wirkliche politische Verantwortung zu übernehmen, stand es allen deutschen Parteien frei, die Lauterkeit ihrer Lehre zu proklamieren. Das Erfurter Programm wurde nicht nur geschrieben, um Engels zu befriedigen, sondern auch, um die spezifischen Ideen des Marxismus zur Geltung zu bringen. Gleichzeitig setzte sich die SPD für die Demokratisierung des politischen Lebens in Deutschland ein, denn sie glaubte, auf diese Weise die Ziele des Sozialismus verwirklichen zu können.24
Es erwies sich jedoch ziemlich bald, daß die revolutionäre Ideologie den Erfordernissen der Politik nicht gewachsen war, und die Diskrepanz zwischen der Theorie des Klassenkampfes und dem stillschweigenden Einverständnis mit der bestehenden Ordnung wurde schließlich unerträglich. Aus der daraus folgenden langen Polemik, die im wesentlichen von 1895 bis 1905 dauerte, ging praktisch der gesamte westeuropäische Sozialismus unter revisionistischen Vorzeichen hervor. Der Revisionismus begann übrigens nicht erst 1899 mit der Veröffentlichung von Bernsteins Marxismuskritik, sondern fünf Jahre früher, auf dem Frankfurter Kongreß, mit dem Streit über die dem Bauernproblem gewidmeten Passagen des Erfurter Programms und mit der Empörung der bayerischen Sozialisten gegen die in ihren Augen allzu marxistischen Tendenzen darin.25 Diese Debatte sollte die sozialistische Bewegung Europas in zwei Lager von sehr ungleicher Größe spalten, die über Inhalt und Ziele der Reformen völlig uneins waren, aber eines gemeinsam hatten: Sie wollten die Theorie in Einklang mit der Praxis bringen, die Theorie berichtigen, aber nötigenfalls auch die Praxis ändern.
Im Hinblick auf die unmittelbare Wirkung lassen sich die beiden Schulen nicht vergleichen. Die eine umfaßte praktisch den gesamten westlichen Sozialismus, nämlich den sogenannten Reformsozialismus, der liberal und demokratisch im eigentlichen Sinn dieser Wörter war. Der Revisionismus, wie er in den Schriften von Bernstein, Turati und Jaurès zum Ausdruck kam oder in der politischen Praxis der sozialistischen Parteien in Deutschland, Italien und Frankreich (wo die Einigung von 1905 faktisch auf eine reformistische Partei hinauslief, die sich wenig von der deutschen Sozialdemokratie unterschied), akzepierte sowohl die Legitimität als auch die Spielregeln der liberalen Demokratie. Dabei handelte es sich nicht nur um einen Kompromiß mit der bestehenden Ordnung, sondern um die Anerkennung ihrer Prinzipien. Zu Jahrhundertbeginn fand sich die überwältigende Mehrheit des westeuropäischen Sozialismus mit dem unabwendbaren Fortbestand des kapitalistischen Regimes und der bürgerlichen Gesellschaft ab.
Die verbleibende Minderheit sah zwar ebenfalls ein, daß die klassischen marxistischen Voraussagen irrig waren, doch sie weigerte sich, einen ideologischen und politischen Kompromiß zu schließen. Sie beharrte auf ihren revolutionären Absichten und nannte ihre Bewegung, sehr zu Recht, „revolutionären Revisionismus“.26 Tatsächlich waren diese Revisionisten um 1905 die einzigen Sozialisten Westeuropas, die noch revolutionäre Gesinnung aufwiesen. Sie beabsichtigten eine Revision der Doktrin im entgegengesetzten Sinne wie die Bernsteinianer. Sie wollten den Marxismus nicht verdünnen und ihn aus demokratischer Sicht interpretieren, sie wollen zu seinen Quellen zurückkehren und ihn wieder zu dem machen, was er ursprünglich war; eine Kriegsmaschine gegen die bürgerliche Demokratie. Sie wollten die Lehre wieder in den Dienst der Revolution stellen. Für sie war es ein Verrat am Proletariat, wenn man es als Wählerpotential betrachtete oder als Rückgrat einer politischen Massenbewegung, die der Übernahme des Staates und der Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse dienen sollte. Das Proletariat war die Triebkraft der Revolution und mußte sie sein.
Freilich betrafen diese Probleme die Verhältnisse in Westeuropa. In Österreich-Ungarn, im dreigeteilten Polen, in Rußland und sogar in Preußen stellten sie sich anders, aber auch dort spielte Karl Kautsky eine wichtige Rolle. Seine Synthese zwischen orthodoxem Marxismus und demokratischem Sozialismus beeinflußte die Revolutionäre Mittel- und Osteuropas entscheidend. Eine ganze Generation ließ sich durch die zahlreichen Schriften Kautskys inspirieren, der neben Plechanow der eigentliche geistige Vater des russischen Marxismus war. Für ihn bestand die Funktion der Revolution darin, eine vollkommene Demokratie zu verwirklichen, nicht eine „Diktatur des Proletariats„. Der große Unterschied zwischen Kautsky und Bernstein lag in dem Gewicht, das der offizielle Theoretiker der SPD beim Übergang zur Demokratie dem Automatismus des Klassenkampfes beimaß, der wiederum die von Marx beschriebenen Mechanismen de kapitalistischen Ökonomie widerspiegelte. 27
Wurde Kautsky einerseits von den Bernsteinianern angegriffen, die seine Interpretation der Wirtschaft im allgemeinen und des Klassenkampfes im besonderen ablehnten, so geriet er andererseits in die Kritik des linken Flügels unter Führung von Rosa Luxemburg, die ihm seinen „Fatalismus“ vorwarf. In den Augen dieser „Linksradikalen“ waren seine deterministischen Ideen geeignet, die Partei in ihrer gewohnten abwartenden Haltung zu bestärken.

Pawel Axelrod
Victor Adler
Franz Mehring

Die meisten Revolutionäre Mittel- und Osteuropas gehörten bereits einer jüngeren Generation an als die alte Garde Kautsky, Mehring, Victor Adler, Axelrod und Plechanow.

Otto Bauer
Karl Radek
Rudolf Hilfer-ding
Martow, julius
Lenin, 1914
Leo D. Trotzki

Rosa Luxemburg, Otto Bauer, Rudolf Hilferding, Martow, Radek, Trotzki und Lenin verband die gemeinsame Überzeugung, daß Osteuropa – vielleicht sogar ganz Europa – unmittelbar vor einem Erdbeben stand. Die Probleme dieser osteuropäischen Generation von 1905 waren vollkommen andere als jene in Frankreich oder Italien. Aber die Verhältnisse in Osteuropa (die nicht zu unserem Thema gehören) erklären, warum sie dem orthodoxen Marxismus stets treu blieb, während zahlreiche „romanische“ Dissidenten zunächst eine Korrektur versuchten und sich dann von ihm entfernten. Ja, manche von ihnen gingen sogar so weit, eine andere revolutionäre Bewegung zu gründen: den Faschismus.

Fried-rich W. Adler
Karl Renner
Max Adler
Rosa Luxemburg
Karl Lieb-knecht
Alexander Parvus

Tatsächlich verloren die Osteuropäer, im Gegensatz zu den französischen und italienischen Nonkonformisten, das Endziel nie aus den Augen: die Vernichtung des Kapitalismus durch das Proletariat. Für sie hatte die Revolution nie einen anderen Zweck, als in erster Linie der kapitalistischen Ausbeutung, der freien Marktwirtschaft ein Ende zu setzen, mit Hilfe und zum Besten des Proletariats. Sie konnten sich erheblich unterscheiden in ihren Vorstellungen über die revolutionäre Taktik, die Rolle der Partei, des Staates oder über die Diktatur des Proletariats, aber sie hatten das gleiche Ziel. Dies verband die österreichisch-ungarische Schule (Karl Renner, Rudolf Hilferding, Otto Bauer, Friedrich und Max Adler) mit der deutsch-polnischen Gruppe um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, in der sich auch Parvus und Karl Radek befanden, mit den Menschewiki, zu denen damals Trotzki zählte, und den Bolschewiki um Lenin. Die Schicksale dieser Männer – und dieser außergewöhnlichen Frau – waren sehr verschieden, sie begründeten gegensätzliche Schulen und politische Tendenzen, und es sollte zu mörderischen Rivalitäten zwischen ihnen kommen. Dennoch hielten sie alle an den rationalistischen, materialistischen und hegelianischen Dogmen des Marxismus fest. Das von Kautsky unter Engels‘ wachsamem Auge geschaffene Konzept blieb stets der gemeinsame Nenner, im Gegensatz zu den Sorelianern, die sich an eine Revision des Marxismus machten, bei der von seinem ursprünglichen Gehalt nicht viel übrig blieb.
Während die Österreicher, Polen und Russen alles taten, um den Wirtschaftstheorien des Meisters treu zu bleiben, dem Determinismus seines Systems, der Idee von der historischen Notwendigkeit, dem Materialismus in der Geschichtsauffassung, während sie in internationalen und „permanenten“ Dimensionen der Revolution dachten, begann in Frankreich und Italien eine antimaterialistische Revision des Marxismus, die sich auf eine scharfe Kritik der Marxschen Ökonomie gründete. Obwohl Kautsky die Orthodoxie verfocht, bewirkte er schließlich die Verwandlung des orthodoxen Marxismus in einen demokratischen Sozialismus, indes in Frankreich und Italien ein gewaltsamer Kampf gegen die Demokratie einsetzte.
Zum anderen agierten die internationalistischen und revolutionären jüdischen Intellektuellen – Luxemburg, Hilferding, Parvus, Radek, Trotzki, Otto Bauer, Max Adler, Karl Renner und viele andere – in einem von nationalem und konventionellem Haß vergifteten Milieu. Sie alle verabscheuten den völkischen Nationalismus, der in ganz Europa wucherte, in den unterentwickelten Landgebieten des Ostens wie in den Industriezentren des Westens. Keiner verehrte die Volksgemeinschaft und ihren Boden, ihre Frömmigkeit, ihre Traditionen, ihre Sitten, ihre Friedhöfe, ihre Mythen, ihre Helden, ihre Erbfeindschaften. Ihnen lag nichts an der „Heimat“, an der so viele westeuropäische Sozialisten hingen.

Eugen Böhm Ritter von Bawerk

Die ersten Schüsse, die die große Schlacht gegen den Marxismus ankündigten, fielen 1894 bei der Veröffentlichung des dritten Bandes von Das Kapital. Den Angriff eröffnete der österreichische Wirtschaftswissenschaftler Eugen von Böhm-Bawerk, der 1896 die Studie Zum Abschluß des Marxschen Systems herausgab. Das Buch wurde sofort ins Russische und Englische übersetzt und fand großen Widerhall, sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten. Dreimal Finanzminister, Professor für Nationalökonomie an der Universität Wien, war Böhm-Bawerk einer der anerkanntesten und einflußreichsten Ökonomen seiner Zeit. Seine Kritik der Marxschen Thesen über Wert und Mehrwert stellte gewissermaßen die offizielle Entgegnung der wirtschaftswissenschaftlichen Fachwelt dar.28

Bene-detto Croce
Paul Lafargue
Georges Sorel

Im antimarxistischen Lager allgemein anerkannt, regte das Werk des Österreichers auch die Marxismuskritik in den Reihen der Sozialisten selbst an. Vilfredo Pareto oder Benedetto Croce zum Beispiel beschritten denselben Weg. Paretos Kritik erfolgte in zwei Etappen, zunächst 1897 in seiner Einführung zu Lafargues Auswahl aus dem Kapital, später in zwei umfangreichen Kapiteln seines Buches über Die sozialistischen Systeme (1902/03).
Es ist verblüffend, wie nahe Paretos Marxismuskritik jener Sorels kam. Der italienische Soziologe unternahm einen Generalangriff auf den Sozialismus, die marxistische Ökonomie und den Mehrwert. Zwar betrafen die Vorwürfe gegen den deskriptiven Teil des Kapitals Marx‘ Methode. seine „Sophismen“, aber die Kritik galt im wesentlichen der Mehrwerttheorie.29 Pareto, der Böhm-Bawerk kannte, machte sich zum schwungvollen Verteidiger der freien Konkurrenz, ohne jedoch „die Mißbräuche in unserer Gesellschaft zu verzeihen und nicht einmal zu entschuldigen“. Sie gingen auf die Eingriffe des Staates in die Wirtschaft zurück, und da jede Beeinträchtigung der ökonomischen Unabhängigkeit von Übel war, mußte man die Intervention des Staates streng begrenzen.30 Pareto führte diese Themen im zweiten Band seines Werkes Sozialistische Systeme weiter aus. Die Attacke gegen marxistische Ökonomie und Mehrwert ging hier mit einer Kritik der materialistischen Geschichtstheorie einher und mit der Behauptung, daß „der soziologische Teil des Marxschen Werkes in wissenschaftlicher Hinsicht dem ökonomischen Teil weit überlegen ist“.31 Diese Ideen finden sich ausnahmslos auch bei Sorel, den Pareto würdigte, wegen seines Kampfes gegen „den süßlichen und weichlichen Sozialismus und die demokratische Humanitätsduselei, die heutzutage so stark werden“.32 Nur betrachtete sich Sorel – und wurde von anderen (Croce zum Beispiel) als solcher betrachtet – als „eminenter französischer Marxist“33, was bei Pareto natürlich nicht der Fall war.
Zur selben Zeit unterzog auch Croce die Marxsche Ökonomie einer Kritik, die die gleichen Punkte wie Pareto aufgriff, denn seit 1896 befaßte er sich mit den Schwächen der Mehrwerttheorie.34 Sorel gelangte zu ähnlichen Ergebnissen wie die beiden italienischen Denker, die übrigens großen Einfluß auf ihn und seine Schüler hatten. In Wien, wo man ur Marxist oder Antimarxist sein konnte, schlug der Revisionismus keine Wurzeln, trotz der von Böhm-Bawerk eingeleiteten Debatte. Im französisch-italienischen Raum dagegen, der Hochburg des revolutionären Revisionismus, lagen die Dinge anders. Dort konnte man die wirtschaftlichen Grundlagen des Marxismus verwerfen und sich gleichzeitig lautstark zu Marx bekennen, in dem man lieber nur einen Soziologen der Gewalt sah. Man berief sich auf ihn gegen das 18. Jahrhundert und dessen Rationalismus, gegen Descartes, den Intellektualismus, den Positivismus.

Teil (3) –>>

Anmerkungen

18 M. Barrés, „Que faut-il faire?“ in: Le Corriere de’l Etat, 2. Reihe, 12. Mai 1898.
19 E. Corradini, „Principi di nazionalismo“ in: Discorsi politici (1902-1923), Firenze (Vallechi Editore) 1923, S. 100f. Diese Rede hielt er am 3. Dezember 1910 auf dem Kongreß der Nationalisten in Florenz. Vgl. auch eine andere Rede, die er im Januar 1911 in mehreren italienischen Städten hielt: „Le Nazioni proletarie e il nazionalismo„, S. 105-118. Über den Frieden zwischen Proletariat und Nation vgl „Nazionalismo e democrazia“, eine Rede in Rom am . Februar 1913, die er in verschiedenen anderen Städten wiederholte, S. 154.
20 E. Corradini, „Il nazionalismo e i sindicati„, Rede vor dem Nationalistischen Kongreß in Rom am 16. März 1919, ebd., S. 421.
21 E. Corradini, „Il nazionalismo e democrazia„, ebd., S. 155 ff. Siehe auch die Reden „Proletariato, Emigrazione, Tripoli“ (Mai 1911), S. 119-134; „La morale della guerra“ (10. Januar 1912), S. 137-150: „Liberali e nazionalisti“ (Dezember 1913), S. 183-196; „Le nuove dottrine nazionali ed il rinnovamento spirituale“ (13. Dezember 1913 in Triest und Fiume), S. 199-209.

Georg Licht-heim
Peter Gay
Carl E. Schorske

22 Zur intellektuellen Entwicklung Bernsteins siehe das ausgezeichnete Werk von Peter Gay, The Dilemma of Democratic Socialism: Eduard Bernstein’s Challenge to Marx, New York (Colliers Books) 1962; Pierre Angel, Eduard Bernstein et l’évolution du socialisme en Allemagne, Paris (Didier) 1961.
23 K. Kautsky, Der Weg zur Macht, Frankfurt/M. (Europäische Verlagsanstalt) 1972.
24 G. Lichtheim, Marxism: A Historical and Critical Study, London (Routledge and Kegan Paul) 1974, . 260.
25 C. Schorske, German Social Democrazy, 1905 – 1917: The Development of the Great Schism, Cambridge (Harvard University Press) 1955, S. 7-16.

Hubert Lagar-delle während seines Prozesses 1946 in Paris, Frankreich.
Ro-bert Michels
Arturo Labriola
Antonio Labriola

26 Der Begriff „revolutionärer Revisionismus“ war bei den Sorelianern ab 1904 gang und gäbe. Vgl. u. a. H. Lagardelle, „Le socialisme ouvrier“ in Le Mouvement socialiste, Nr. 142, 1. November 1904, S. 5 u. 8; R. Michels, „Le congrès des socialistes de Prusse“, ebd., Nr. 149, 15. Februar 1905, S. 251; Arturo Labriola, „Plusvalue et réformisme“, ebd., S. 216f. und „Syndicalisme et réformisme en Italie“, ebd. Nr. 168-169, 15. Dezember 1905, S. 411f.
27 G. Lichtheim, Marxism: A Historical and Critical Study, London (Routledge & Kegan Paul) 1974, S. 268f.
28 Vgl. das Hauptwerk Eugen von Böhm-Bawerks, Zum Abschluß des Marxschen Systems, Altenburg 1896.
Siehe auch ders., Geschichte und Critik der Capitalzinstheorien, Jena 1921, 4. Aufl. (1. Aufl. unter dem Titel Capital und Capitalzins, Insbruck 1884-1889); Positive Theorie des Capitales, Jena 1921 (4. Aufl.).
29 V. Pareto, Einführung zu Karl Marx: Le Capital, extraits faits par M. Paul Lafargue, Paris (Guillaumin) 1897. Diese Einführung umfaßt 77 Seiten gegenüber 165 Seiten Auszügen aus dem Kapital und 8 Seiten Anmerkungen von Lafargue. Zur Mehrwerttheorie siehe S. XXVII-XXIX; XXXIX-XLIX; LX-LXIII.
30 Ebd., S. XXIX; LXXI, LXXIX.
31 V. Pareto, Les Systémes socialistes, Paris (Giard) 1926 (2. Aufl.), Bd. II, Kap. XIV u. XV. Vgl. besonders S. 398.
32 Ebd., Bd. II, S. 408. Über Pareto siehe auch R. Cirillo, The Economics of Vilfredo Pareto, London (Frank Cass) 1979.
33 B. Croce, Matérialisme historique et économie marxiste, Essais critiques, Paris (Giard et Brière) 1901, S. 101.
34 Ebd. S. 55 ff. Dem ersten Essay „Les theories historiques de M. Loria“, der im November 1896 in Le Devenir social erschienen war, folgte 1899 die wichtige Untersuchung „Les interprétations récentes de la théorie marxiste de la valeur“ (S. 209-234). Vgl. auch S. 101 u. 220 f., wo Croce einerseits die Marxismuskritik Sorels würdigt und andererseits die Gegenkritik Antonio Labriolas zurückweist.

Mario
Sznajder
Zeev Sternhell

(Zeev Sternhell, Sznajder, Maria Asheri : Das Konzept des Faschismus. In: Ders.: Die Entstehung der faschistischen Ideologie – Von Sorel zu Mussolini, Hamburg 1999, S. 26-37.)

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