• Rauch und Feuer

    Lew Besymenski
    1974
    Aus dem Russischen übertragen von Reinhild Holler

    Es gibt ein russisches Sprichwort: „Ohne Feuer kein Rauch.“

    Martin Bormann senior

    Man möchte es verwenden, wenn man versucht, in das geheimnisvolle Schicksal des Reichleiters Bormann einzudringen – in das Schicksal dessen, der in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai in Berlin starb oder andernfalls dessen, der aus Berlin entkam.
    Ich wiederhole, was ich zu Beginn des Buches sagte: Das Tagebuch Bormanns enthält in bezug auf diese Frage keine Sensation, wenn man nicht mitrechnet, daß sich auf einer der Seiten ein ungeschickt gezeichnetes Schema über die Orientierung nach den Sternen befindet. Wir sind genötigt, uns nur auf mittelbare Beweise und Aussagen zu stützen.

    Kempka und Hitler.

    Möglicherweise war Erich Kempka, der Chauffeur Hitlers, der erste, der ausführlich sich äußerte. Er war zusammen mit Bormann ausgebrochen und veröffentlichte im Jahre 1950 seine Erinnerungen. Nach seiner Version fiel Bormann bei dem Ausbruchsversuch durch direkten Treffer eines sowjetischen Geschosses in der Nähe der Weidendammbrücke.

    Friedrich Bergold

    Als am 3. Juli 1946 Kempka in Nürnberg betreffs des Kampfes an der Weidendammbrücke verhört wurde, da „preßte“ praktisch der Verteidiger Dr. Bergold aus seinem Zeugen die kategorische Erklärung heraus, Bormann sei tot.

    Im Protokoll heißt es

    Francis Biddle (ganz rechts) als Richter bei den Nürnberger Prozessen mit (von links) Iona Nikittschenko, Norman Birkett und Geoffrey Lawrence.

    „Kempka:
    Gerade an der Stelle, wo der Bormann ging, stieg plötzlich eine Stichflamme heraus, und ich sah noch …
    Richter Biddle:
    Wie weit waren Sie von dem Panzer entfernt, als er explodierte?
    Kempka:
    Ich schätze 3 bis 4 Meter.
    Biddle:
    Und wie weit war Bormann von dem Panzer entfernt?
    Kempka:
    Ich nehme an, daß er sich mit einer Hand daran festgehalten hatte. Ich wurde weggeschleudert …
    Verteidiger Bergold:
    Zeuge, haben Sie Bormann bei dieser Gelegenheit in der sich entwickelnden Stichflamme zusammenbrechen sehen?
    Kempka:
    Jawohl, ich sah noch eine Bewegung, die eine Art Zusammenbrechen, man kann sagen, ein Wegfliegen war.
    Bergold:
    War diese Explosion so stark, daß nach ihrer Beobachtung Martin Bormann dabei ums Leben gekommen sein mußte?
    Kempka:
    Jawohl!“1

    Hans Baur (um 1930)

    Wie wir sehen werden, war das nicht sehr genau, richtiger gesagt, das war recht ungenau. Wenn jemand sich nun einmal in eine komplizierte Sache hineinbeißen will, dann fängt man an, die Aussagen der Teilnehmer an dem nächtlichen Ausbruch zu vergleichen. Uns ist bereits bekannt, was Kempka berichtete. Der Chefpilot Hitlers, Generalleutnant Hans Baur, schilderte die Sache anders. Als der entscheidende Moment des Durchbruchs über die Weidendammbrücke begann, entwickelten sich die Ereignisse nach seinen Worten folgendermaßen: Bormann war nach der Explosion des Panzers danach nicht gestorben, sondern setzte seinen Weg fort:

    „… Wir kamen bis zur Weidendammbrücke. Dort war die Kampflinie der Russen aufgebaut. Ich hatte Bormann an der Ecke Schiffbauerdamm und Friedrichstraße gebeten, zu warten, bis ich eine Durchbruchsstelle erkundet hätte. Gegen 3 Uhr erklärte ich dann Bormann, daß der Durchbruch sehr unwahrscheinlich sei. Wegen des starken Beschusses setzte ich Bormann am Treppenabsatz eines zerschossenen Eckhauses an der Friedrichstraße ab. Von dieser Stelle aus konnte er die ganze Straße einsehen. Hier blieb Bormann längere Zeit sitzen. Ich selbst ging, um auszukundschaften, wo wir ohne Widerstand durchkommen könnten. Ich drang bis zur Ziegelstraße vor. Aber überall waren die Russen. Als ich nach etwa 2 Stunden zurückkam – es war 1 Uhr nachts – bat mich Bormann, doch bei ihm zu bleiben, weil ich der einzige sei, an den er sich noch halten könne. Wir stießen dann bis zur Ecke Ziegel-, Friedrichstraße vor …“

    Werner Naumann

    In der Ziegelstraße sei Bormann dann nach den Worten Baurs, offenbar gefallen.2

    Der Staatssekretär Werner Naumann, der sich in Übereinstimmung mit der Aussage Baurs in der gleichen Gruppe befunden hatte, zeichnet seinerseits ein etwas anderes Bild. Naumann sagte, am 18. Dezember 1963 vor einem westdeutschen Gericht folgendes aus:
    Der Staatssekretär Werner Naumann, der sich in Übereinstimmung mit der Aussage Baurs in der gleichen Gruppe befunden hatte, zeichnet seinerseits ein etwas anderes Bild. Naumann sagte, am 18. Dezember 1963 vor einem westdeutschen Gericht folgendes aus:

    Ruine des Lehrter Bahnhofs, 1955
    Ludwig Stumpf-egger
    Artur Axmann, 1943

    „Ich ging in Richtung Weidendammbrücke zurück. In einem Trichter neben der Brücke traf ich einen kleinen Rest unserer Gruppe. Es mögen ungefähr elf Mann gewesen sein. Zu ihr gehörten Martin Bormann und Axmann – auch Kempka und Rach. Ferner erinnere ich mich noch an Dr. Stumpfegger. Wir gingen sodann auf den Bahngleisen in Richtung Lehrter Bahnhof. Dort gingen wir hinunter. Es kam zu erneuter Kampfberührung mit den Russen. Hierbei spaltete sich unsere Gruppe in drei Teile auf. Ich blieb mit zwei Offizieren … allein am Lehrter Bahnhof.
    Die letzten Eindrücke, die ich von Bormann hatte, waren nicht so, daß er erschöpft und verzweifelt schien. Verwundet war Bormann auch nicht … Der Rest teilte sich auf – auch Bormann und Axmann. Ich weiß nicht, wer mit Bormann zusammen ging. Ich weiß aber, daß Herr Bormann zu diesem Augenblick noch gelebt hat. Das war ungefähr um 3 oder 4 Uhr morgens …“

    Als ich 1973 die Gelegenheit hatte, Werner Naumann, den heutigen Geschäftsführer eines Industrieunternehmens in Westfalen, zu sprechen, wiederholte er die Aussage und fügte hinzu, daß es seiner Überzeugung nach unmöglich gewesen war, aus Berlin auszubrechen.
    Und was berichtet Artur Axmann? Am 11. Oktober 1962 machte er folgende Aussagen:

    Günther Schwäger-mann
    Joseph Goebbels

    „Plötzlich explodierte ein deutscher Tigerpanzer, der zuvor die Panzersperre passiert hatte. Durch Splitterwirkung erlitt ich leichte Verletzungen und sprang zur Deckung in einen Bombentrichter. In diesem Bombentrichter fand ich Martin Bormann unverletzt vor, … gemeinsam mit Bormann, dem früheren Staatssekretär Naumann, dem SS-Arzt Stumpfegger, dem Adjutanten von Goebbels, Schwägermann, und meinem Mitarbeiter Weltzin gingen wir dann auf den Bahngleisen … bis zum Lehrter Bahnhof weiter. Dort verließen wir den Bahnkörper und wurden von russischen Posten vorübergehend festgehalten. Nach kurzer Zeit ließen sie uns wieder laufen. Zuerst entfernte sich Martin Bormann mit Dr. Stumpfegger in Richtung Invalidenstraße. Da sie sich sehr hastig fortbewegten, erweckte dies bei den russischen Posten offensichtlich einiges Mißtrauen. Daraufhin folgte ich Bormann und Stumpfegger mit meinem Mitarbeiter in ruhiger Gangart. Dabei verloren wir Bormann und Stumpfegger aus den Augen. Wir wählten nunmehr den Weg durch die Invalidenstraße in Richtung Alt-Moabit. Als uns russische Panzer entgegenkamen und wir von russischen Truppen beschossen wurden, ging ich mit Weltzin in Richtung Lehrter Bahnhof zurück. Bei diesem Rückweg sah ich auf der Invalidenbrücke Martin Bormann auf dem Rücken liegen … Ich beugte mich über Bormann, berührte ihn und sprach ihn an. Dabei konnte ich feststellen, daß er keinerlei Lebenszeichen von sich gab. Er lag völlig regungslos. Es war jedoch – soweit ich feststellen konnte – keine äußere Verletzung erkennbar … Direkt neben ihm lag Dr. Stumpfegger.“3

    Der Autor dieses Buches verfügte weder früher noch verfügt er heute über eigene Mittel, um das Schicksal des aus unseren Blicken verschwundenen Bormann aufzuklären: Er begründet sein Urteil auf Publikationen, die im Verlauf der letzten Jahre in der Presse erschienen sind. Der Frankfurter Untersuchungsrichter Horst von Glasenapp hatte selbstverständlich das formale Recht, im Jahre 1971 die Voruntersuchung in Sachen Bormann für „abgeschlossen“ zu erklären, denn es gab weder Dokumente noch andere Beweise für eine Flucht des Reichsleiters. Als Herr von Glasenapp mich diesbezüglich nach meiner Meinung fragte, konnte ich ihm – dem Richter, der formale Beweise forderte – nur dieses sagen: Die Untersuchung der Umstände des Ausbruchsversuches der Gruppe Bormann aus Berlin hat den Tod Bormanns weder bestätigt noch widerlegt. Die sowjetischen Patrouillen haben ihn nicht festgenommen; als bekannt wurde, daß Bormann sich in der Ausbruchsgruppe befunden hatte, verlief das Suchen nach ihm ergebnislos. Und schließlich ist auch das damals in Berlin gefundene und abgelieferte Notizbuch kein Beweis für Bormanns Tod. Es kann ihm während des Durchbruchs herausgefallen sein, es kann in der Tasche des Uniformmantels, den Bormann auszog, geblieben sein, es kann bewußt auf die Straße geworfen oder in die Tasche eines beliebigen Toten gesteckt worden sein, um die Erkundungen auf eine falsche Spur zu lenken. Was aber das Notizbuch anbelangt, mußte ich meinen Gesprächspartner um Geduld bitten bis zum Erscheinen dieses Buches.

    Im Dezember 1972 wurde der Öffentlichkeit ein unverhoffter Fund zuteil: Bei Bauarbeiten in der Gegend des ehemaligen Lehrter Bahnhofs (heute West-Berlin) wurde ein Skelett gefunden, das das Skelett Martin Bormanns sein konnte. Darüber berichtete die Zeitschrift STERN, die schon lange an der Version Axmanns festhielt. Der Mitarbeiter der Zeitschrift, Jochen von Lang, der sich auf das Thema spezialisiert hatte und sich sogar auf eine Reise nach Lateinamerika vorbereitet hatte, um dort nach Bormann zu forschen, kam im Jahre 1965 zu der Schlußfolgerung, daß Bormann in Berlin gefallen sei. Aufgrund von Angaben, die eine Reihe von Zeugen gemacht hatten, darunter auch der Postbeamte Krumnow (der, nach seinen Worten, dabeigewesen war, als die Leichen Bormanns und des SS-Arztes Stumpfegger begraben wurden) war man lange der Ansicht, daß Bormann nicht mehr unter den Lebenden weile. Als aber auf Bitten von Lange hin an der von Krumnow angezeigten Stelle 1965 nachgegraben wurde, wurden keine Spuren einer Beerdigung entdeckt. So hatte man also 1965 nichts gefunden, jedoch 1972 entdeckten Arbeiter, die Wasserleitungen verlegten, plötzlich zwei Skelette auf dem West-Berliner Territorium. Die Polizei erschien unverzüglich und natürlich die Redaktion des STERN. Die Beschreibung des Skeletts paßte zu dem, was die Zeitschrift im Jahre 1965 berichtet hatte. Die West-Berliner Staatsanwaltschaft nahm eine genaue Untersuchung in die Hand. Und was stellte sie fest?

    Die Antwort auf diese Frage werde ich ein wenig später geben – dann ihr Gewicht kann nur verstehen, wer sich die „publizistische Situation“, die sich nach Kriegsende um das Schicksal Bormanns gebildet hatte, vor Augen hält. Sein Name ist in den letzten Jahren vermutlich viel häufiger erwähnt worden als zu Lebzeiten des Reichsleiters. Ich werde versuchen, diese „publizistische Situation“ übersichtlich zusammenzustellen.

    1945:
    Der erste, der die Todesmeldung Bormanns in Zweifel stellte, war der Flensburger Schriftsteller Heinrich Linau. Linau war lange Zeit in dem Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert. Er behauptete, Martin Bormann am 26. (oder 27.) Juli 1945 in einem Zug Hamburg-Flensburg gesehen zu haben. Er sei in den Zug, in dem Bormann gesessen habe, in Neumünster zugestiegen. Bormann sei in Zivil, in Jagdkleidung gewesen. Linau sei mit ihm bis Flensburg-Weiche gefahren, wo Bormann ausgestiegen sei, wahrscheinlich, um sich von dort nach Dänemark durchzuschlagen.

    1946:
    In der amerikanisch besetzten Zone Deutschlands erschienen Meldungen in den Zeitungen, wonach man Bormann dort gesehen hätte.
    Der Nürnberger Gerichtshof verurteilt Bormann zum Tode in absentia.

    1947:
    Es wurden einige Berichte über Bormann publiziert. Der ehemalige Sekretär der Seemannsgewerkschaft, Joseph Kleemann, erklärte, er habe Bormann in Australien gesehen. Anderen Berichten zufolge sei Bormann in Ägypten erkannt worden, wohin er angeblich mit dem englischen Schiff „Bonifation“ gefahren sein soll. Nach der dritten Version soll Bormann in Spanien aufgetaucht sein.

    1949:
    Die Entnazifizierungskammer für Oberbayern – Senat I Traunstein – beschäftigte sich im Berufungsverfahren mit dem Fall Bormann. Dieser wurde für vermißt erklärt.

    1950:
    Die Kopenhagener Zeitung „Kristeligt Dagblad“ veröffentlichte einen Bericht ihres Korrespondenten Björn Hallström, der Südwestafrika bereist hatte. Nach seiner Meinung hielt Bormann sich in Afrika versteckt. Außerdem brachte die englische Zeitung „Reinold News“ eine Meldung, daß Bormann bis 1947 in Argentinien gewesen sei und sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Südspanien aushielte. Der deutsche Journalist Karl-Heinz Kaerner will ihn in Spanisch-Marokko gesehen haben.

    Albert Bormann (spätes-tens 1938)

    1951:
    Dieses Jahr war reich an Berichten über Bormann. Der Pariser „Figaro“ ebenso wie westdeutsche und österreichische Zeitungen druckten eine Erklärung des früheren deutsche Reichstagsabgeordneten der Zentrumspartei Paul Hesslein ab. Hesslein sagte, er habe Bormann in der Nähe von Llifen in Chile gesehen und erfahren, daß er unter dem Namen Juan Gómez dort lebte. Inzwischen aber sei Bormann, so meinte Hesslein, nach Europa zurückgekehrt und halte sich in Spanien auf.
    Auch der Bruder Bormanns, Albert, kam in der Presse zu Wort. Er hatte sich schon während der Entnazifizierung dahingehend geäußert, daß sein Bruder möglicherweise noch am Leben sei. Außerdem erschienen Meldungen, daß Bormann sich in Italien oder Spanien aufhielte und Verbindungen zu der Organisation „Spinne“ unterhielte. In der BRD erschienen detaillierte Nachrichten – zum Beispiel diese: Drei Monate nach der Kapitulation des Dritten Reiches soll in Argentinien ein U-Boot „U29“ aufgetaucht sein. Ihm sollen drei Matrosen und ein Zivilist entstiegen sein. An der Landestelle habe man später eine wertvolle Tasche mit den Initialen „M. B.“ gefunden, sowie einen Paß auf den Namen Gerhard Ohmke. Auch andere Zeitungen berichteten über einen Aufenthalt Bormanns in Argentinien.

    1952:
    Das Jahr brachte eine Sensation. Der ehemalige italienische Partisan Luigi Silvestri erklärte, er habe Bormann am 10. Mai 1945 vor dem Dominikanerkloster in Bozen gesehen. Ein anderer Augenzeuge, ein früherer Beamter des Reichsministeriums Speer, Stern, sah Bormann in einer Mönchskutte im Franziskanerkloster Sankt Antonio in Rom. Stern kannte Bormann von früher und erkannte ihn jetzt an einer Warze auf der Nase. Bald erschienen Photographien eines „Frater Martin“, der Martin Bormann sehr ähnlich sah. Daraufhin erklärte der General des Franziskanerordens, Augustinus Serpinski, daß auf der Photographie der Franziskanermönch Pater Romualdo Antonuzzi abgebildet sei, der nichts mit Bormann gemein habe. Dessenungeachtet rissen die Meldungen über Bormann nicht ab. Die westdeutsche Presse meldete, daß in Bayern ein Brief Bormanns eingetroffen sei, dem zufolge er nach Brasilien gefahren sei.

    Joachim Tiburtius

    1953:
    Anfang dieses Jahres erschien ein Bericht des ehemaligen SS-Angehörigen Tiburtius, der Einzelheiten über die Kämpfe in Berlin erzählte und meinte, daß Bormann den Ausbruch überlebt habe.

    1954:
    In diesem Jahr befaßte sich ein westdeutsches Gericht erneut mit dem Fall Bormann. Diese Mal erklärte das Amtsgericht von Berchtesgaden Bormann für tot, und sein Tod wurde in den Akten eines Westberliner Standesamtes unter der Nr. 29223 registriert.

    Heinz Linge, 1935

    1955:
    Nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft erklärte der Kammerdiener Heinz Linge, daß Bormann tot sei. Das gleiche erklärte ein ehemaliger Soldat der spanischen „Blauen Division„, Juan Pinar.

    Otto Günsche,

    1956:
    Aus der Gefangenschaft zurückgekehrt, berichtete der Adjutant Hitlers, Günsche, daß er keinen Bormann als Toten gesehen habe. Gleichzeitig publizierte die „Daily Mail“ eine Meldung, die sich auf Angaben des israelischen Geheimdienstes berief und besagte, daß Bormann lebte und sich in Brasilien aufhielt.

    1960:

    Adolf Eichmann, Prozeßbeginn, Jerusalem 1961

    In Argentinien wurde Adolf Eichmann gefangen. Nach Eichmanns Ansicht lebte Bormann. Darauf folgt eine ganze Reihe von Publikationen zu diesem Thema. Einer von diesen zufolge war Bormann in Spanien in dem Kloster Montserrat. Dann brachte die israelische Zeitung „Haolam Hazeh“ die Meldung, daß Bormann lange Zeit in Argentinien gelebt habe, wo er von einem Arzt (aufgrund einer entfernten Warze) identifiziert worden und angeblich von diesem getötet worden sei. Über den Tod Bormanns in Argentinien berichtete auch der „Daily Express„. Die Zeitung „Westdeutsches Tageblatt“ schrieb am 12. Oktober unter Hinweis auf den amerikanischen Journalisten Comer Clark ebenfalls über den Tod Bormanns in Argentinien. Im Herbst 1960 spielte sich folgende Episode ab: In der argentinischen Stadt Zárate wurde ein gewisser Walter Flegel, der Bormann täuschend ähnlich sah, verhaftet. Bei der Prüfung der Identität stellte sich heraus, daß Flegel in den 30er Jahren aus Deutschland emigriert war.

    Leon Degrelle
    Fritz Bauer

    1961:
    Dieses Jahr war besonders ergiebig: Es begann damit, daß die Staatsanwaltschaft von Schleswig-Holstein einen Brief des ehemaligen SS-Standartenführers Walten Leuchtenberg erhielt. In ihm hieß es, daß im Juli 1945 Bormann zusammen mit dem Führer der belgischen Faschisten, Léon Degrelle, heimlich von Bayern nach Schleswig Holstein gelangt sei, und dann seien beide nach Spanien geflohen.
    Eine Reihe von Berichten über das Schicksal Bormanns erschienen im Zusammenhang mit Untersuchungen des Falles Eichmann. Man war insbesondere davon überzeugt, daß Bormann auf dem gleichen Weg von Österreich nach Italien gelangt sei wie Eichmann. Als Datum für den Grenzübergang wurde der 16. August 1947 genannt. Diese Annahme unterstrich auch der Generalstaatanwalt von Hessen, Fritz Bauer. Er erklärte, daß er Angaben über die Tätigkeit der Sonderorganisation „Odessa“ habe, die SS-Angehörigen zur Flucht verholfen habe. 1961 eröffnete die Frankfurter Staatsanwaltschaft die Ermittlung in der Sache Bormann.
    Einen weiteren Bericht über Bormann gab am 19. Mai 1961 der frühere israelische Botschafter in Argentinien. Dr. Topolevsky. Nach seinen Angaben ist Bormann im Mai 1945 auf einem U-Boot in Südamerika eingetroffen.

    Ángel Alcázar de Velasco

    1962:
    Diese Jahr begann mit dem Bericht einer bayerischen Zeitung, demzufolge der geistliche Betreuer der Bormann-Kinder gehört haben will, daß diese nach dem Kriege von einem „geheimnisvollen Menschen“ besucht worden seien. Die österreichische „Volksstimme„, die sich auf Aussagen von Tiroler Einwohnern berief, schrieb am 15. Juli, daß Bormann gleich nach dem Krieg in Wolkenstein, wo zu der Zeit seine Familie lebte, gesehen wurde.
    In diesem Jahr erschienen auch Miteilungen aus diplomatischen Kreisen. Der ehemalige spanische Diplomat und Presseattaché in London, Angel Alcázar de Velasco, erklärte der Presse, er hätte Eichmann (1947) und Bormann (1946) selber bei der Flucht und Ausreise von Spanien nach Lateinamerika geholfen. Bormann war 1945 nach Spanien gekommen und im Mai 1946 nach Argentinien ausgeschifft. Bormann hatte sich einer kosmetischen Operation unterzogen, die es ihm selbst erlaubte, Europa zu besuchen. 1958 hat Velasco Bormann nach seinen Worten in Ecuador gesehen.

    1962:
    In diesem Jahr wiederholte sich die „Affäre Flegel“. In Westberlin wurde der chilenische Staatsbürger Juan Keller verhaftet, den die chilenische Wochenzeitschrift VEA schon im Jahre 1961 verdächtigt hatte, Bormann zu sein. Keller wurde bald freigelassen, denn seine Fingerabdrücke stimmten nicht mit denen Bormanns überein.

    1963:
    Dieses Jahr begann unter dem Zeichen einer Meldung aus Paraguay, wonach Bormann bis 1959 in diesem Lande gelebt hätte. Nach Meldung der Agentur France Presse hätte irgendein „unbekannter Augenzeuge“ erklärt, daß Bormann in einer großen Kolonie von deutschen Umsiedlern in Asunción Unterschlupf gefunden hätte. Dieser Mensch behauptete, Bormann wäre am 17. Februar 1959 gestorben und unter großer Geheimhaltung 40 Kilometer südlich von Asunción begraben worden. Ganz bald danach, am 18. Januar, veröffentlichte der argentinische Journalist Meier-Gleiser in der Zeitung von Buenos Aires „Mundo“ einen Artikel, in dem er schrieb, daß er persönlich Bormann in einer Hütte hoch oben im Gebirge Bariloche, 1500 km von Buenos Aires entfernt, gesehen habe.

    1963:
    1963 setzte die Generalstaatsanwaltschaft in Hessen die Voruntersuchung im Fall Bormann aktiv fort, indem sie eine Reihe von Zeugen vernahm und auf Anweisung des Generalstaatsanwalts Dr. Bauer alle Angaben, die bezeugten, daß Bormann lebte, sammelte.

    Prof. Dr. Werner Heyde alias ‚Fritz Sawade‘
    Friedrich Christian of Schaumburg-Lippe

    1964:
    Dieses Jahr war unerhört reich an Berichten über Bormann. So wurde im Februar an der Grenze zwischen Peru und Chile der Ausnahmezustand im Zusammenhang mit Meldungen verdrängt, wonach Bormann, der von Peru nach Chile gehen wollte, sich hier befände. Kurz darauf, am 26. Februar, erschien in der Londoner Zeitung „Evening Standard“ ein Bericht über die Erzählungen des ehemaligen Chauffeurs der britischen Kontrollkommission, Lesley Blanden. Nachdem er in den Zeitungen das Photo Bormanns gesehen hatte, erzählte er, daß er diesen im Mai 1947 gesehen hätte.
    Daraufhin meldete die dänische Zeitung „Aktuelt“ am 14. März, daß der Pförtner des Schlosses Groosten (in der Nähe der dänischen Stadt Sønderborg) in der Photographie Bormanns einen Mann erkannt hätte, der Mitte Mai 1945 mit einer kleinen Gruppe von SS-Offizieren in dem Schloß gewesen war. In dem Schloß war seinerzeit ein deutsches Kriegslazarett unter der Leitung von SS-Standartenführer Prof. Werner Heyde untergebracht. Dieser bot Bormann Schutz. Es gab auch noch eine andere Mitteilung: ein gewisser Karl K. aus Österreich, der im Mai 1945 in Flensburg diente, war Zeuge dafür, daß gleich nach der Kapitulation in Flensburg ein U-Boot mit aus Berlin eingetroffenen Passagieren in See stach.
    Im Mai 1964 erklärte der damalige Adjutant von Goebbels, Prinz zu Schaumburg-Lippe, daß er Bormann 1950 in der deutschen Stadt Buchloe gesehen hätte.
    Es tauchte auch ein Zeuge auf, der angab, bei dem Begräbnis von Bormann in Berlin anwesend gewesen zu sein – der Tscheche J. Dedic. Bei der Überprüfung dieser Aussage ergab sich jedoch, daß er keine Beweise dafür hatte, daß die im Mai 1945 beerdigte Leiche tatsächlich die Bormanns war. Hartnäckig wiederholten sich Meldungen über einen Aufenthalt Bormanns in Paraguay. Das bewog den hessischen Generalstaatsanwalt im Sommer 1964 erneut dazu, eine Erklärung zu veröffentlichen, daß er Bormann als noch am Leben betrachte. Im Herbst setzte die Staatsanwaltschaft eine offizielle Belohnung von 100 000 DM für die Ergreifung Bormanns aus.

    Martin Adolf Bormann
    Herberts Cukurs 1934
    Alfredo Stroessner

    1965:
    Die westdeutsche Zeitschrift BUNTE ILLUSTRIERTE veröffentlichte eine Artikelreihe von B. Ruland, in der kategorisch behauptet wird, daß Bormann aus Deutschland geflohen sei und jetzt in Lateinamerika lebe. Ruland sammelte auf einer Reise durch einige lateinamerikanische Länder viel Material über Bormann. Nach Rulands Angaben ist Bormann zunächst in Argentinien gelandet, hielt sich dann in Brasilien versteckt und befand sich in den vergangenen Jahren in Paraguay, wo ehemalige Nazis den Schutz der Behörden und des Diktators Alfredo Stroessner persönlich genießen. Die Schlußfolgerung Rulands lautete, daß Bormann den Zusammenbruch Berlins überlebt habe, nach einer Irrfahrt durch Deutschland nach Südamerika übergesetzt sei und dort jetzt in einem Unterschlupf lebe. Demgegenüber publizierte die Zeitschrift STERN einen Artikel, in dem die Meinung vertreten wurde, Bormann sei in Berlin gefallen.
    Im Zusammenhang mit dem Mord an dem nazistischen Henker Zukurs in Uruguay berichteten die Zeitungen des Landes, daß Zukurs zusammen mit Bormann gesehen worden war. Am 28. Mai 1965 erklärte der Sohn Bormanns, Pater Adolf Martin, den belgische Fallschirmspringer aus dem Kongo zurückgebracht hatten, einem Korrespondenten der Agentur France Presse: „Wir können von dem Tod des Vaters nicht hundertprozentig überzeugt sein.“

    Simon Wiesenthal

    1966:
    In diesem Jahr tauchen neue Berichte über Bormanns Aufenthalt in Uruguay auf. So hat man in dem Zimmer eines von der Terrororganisation „Tacuara“ ermordeten Deutschen, Bittner, ein Telegramm gefunden, das den Wortlaut hatte: „Bormann 24. 8 Ankunft in Montevideo mit Flugzeug Pan-American. Erwarte Anweisungen.“ In einem im Oktober 1966 veröffentlichten Bericht äußerte Simon Wiesenthal die Überzeugung, daß Bormann aus Berlin ausgebrochen sei und sich in verschiedenen Dschungelverstecken an den Grenzen Argentiniens, Paraguays und Brasiliens entlang dem Fluß Paraná verborgen hält. Die tschechische Presse publizierte einen Brief des Arztes O. Riess, der sicher war, Bormann 1959 in Asunción gesehen zu haben.

    1967:
    Die amerikanische Presse berichtet über Bormanns Aufenthalt in Argentinien (in den Provinzen Patagonien, Rio Negro und Chubut), insbesondere in der Grenzstadt San Carlos de Bariloche. Diese Meldung berief sich auf Hinweise des ehemaligen SS-Angehörigen Sonnenburg. Eine brasilianische Zeitung bekräftigt, daß Bormann in São Paulo lebt und seine Physiognomie durch eine plastische Operation verändern ließ.

    James „Earthquake McGoon“ McGovern
    Karl Erich Wiedwald,
    Richard Glücks

    1968:
    Im Verlauf dieses Jahres gibt es heftige Auseinandersetzungen um den Bericht des ehemaligen SS-Angehörigen Karl Erich Wiedwald, der aussagt, daß Bormann sich in der Kolonie „Waldner555“ an der Grenze zwischen Brasilien und Paraguay versteckt halte. Wiedewald verließ diese Kolonie im Jahre 1958; Bormann sah er 1965 zum letztenmal. Danach hielt Bormann sich zunächst in Chile auf, wo er unter der Obhut des ehemaligen SS-Gruppenführers Richard Glücks (aus dem Wirtschafts- und Verwaltungs-Hauptamt der SS) lebte. Von dort aus ging er nach Brasilien. Die Kolonieb“Waldner555″ wird nach Herrn Wiedwald durch Mittel aus geheimen Fonds unterhalten, die Bormann nach Kriegsende gebildet hatte (350 Millionen Mark) und aus dem Vermögen der SS (130 Milllionen Mark); Vertreter Bormanns sei der Finanzexperte und Banknotenfälscher Schwendt. Simon Wiesenthal hält diese Angaben für glaubwürdig.
    Der ehemalige Mitarbeiter des CIA, James McGovern, veröffentlichte ein Buch über Bormann, in dem er berichtet, daß nach Angaben des amerikanischen Geheimdienstes ein Aufenthalt Bormanns in Lateinamerika oder im Nahen Osten nicht ausgeschlossen sei.

    1970:
    Einer Behauptung des ehemaligen Agenten des englischen Geheimdienstes, Ronald Grey, zufolge soll Bormann erst 1946 erschossen worden sein. Außerdem erklärte der dänische Arzt S. E. Kofoed, der sich Anfang des Jahres 1945 auf der Insel Bornholm aufgehalten hatte, Bormann dort Anfang Mai 1945 gesehen zu haben.

    Reinhard Gehlen, Leiter des BND von 1956 bis 1968

    1971:
    Dieses war ebenfalls wieder ein „Bormann-Jahr“: Der OKH-General und spätere Chef des Bundesnachrichtendienstes der BRD, Reinhard Gehlen, gibt in seinen Memoiren eine neue Version: Bormann lebt und hält sich in der Sowjetunion versteckt, da er ein „sowjetischer Agent“ war. Diese Version wurde unverzüglich von der Springer-Presse aufgegriffen. Aber die Sensation wurde schnell zunichte gemacht. Gehlen hatte keine Beweise für seine Angaben. Nach der Vernehmung Gehlens durch den Frankfurter Staatsanwalt wurde eine offizielle Erklärung veröffentlicht, daß die Version Gehlens jeder Grundlage entbehrte. Mehr noch als das: In dem oben erwähnten Buch von McGovern findet man Angaben, wonach derselbe Gehlen auf eine offizielle Anfrage seitens des CIA berichtet habe, daß ihm von einem angeblichen Aufenthalt Bormanns in der Sowjetunion nichts bekannt sei.
    Im Zusammenhang mit diesem Skandal erschienen verschiedene neue Veröffentlichungen, aus denen hervorgeht, daß Bormann im Juni 1945 in Berlin gesehen wurde, daß Bormann über Südtirol und Rom nach Südamerika geflohen sei und daß Bormann angeblich 1945 in Berlin begraben wurde, doch eine Öffnung der Gräber hat keine einzige Bestätigung dieser Behauptung ergeben (Meldungen der Frankfurter Staatsanwaltschaft). Ende des Jahres erklärte dann der Untersuchungsrichter Horst von Glsenapp (Frankfurt), daß die Ermittlungen zu keinem eindeutigen Ergebnis geführt hätten. Es gäbe weder Anhaltspunkte dafür, daß Bormannn 1945 gestorben sei, noch einen Beweis für seine Flucht.

    Ladislas Farago

    1972:
    Anfang des Jahres veröffentlichte der Pariser „Figaro“ eine Meldung, wonach der Soldat François H., der im April 1945 bei der SS-Division „Charlemagne“ in Berlin war, erklärte, daß er bei der Identifizierung des toten Bormann zugegen war. Kurz darauf wurde in Kolumbien der 73jährige deutsche Kolonist Johann Hartmann verhaftet, weil man ihn verdächtigte, Bormann zu sei (die „Times“ rechnete nach, daß er der 16. „Quasi-Bormann“ sei, den man nach dem Krieg verhaftet habe). Im November druckte der „Daily Express“ einen Bericht aus Argentinien, nach dem die örtliche Polizei in der Provinz Salta Bormann auf die Spur gekommen sei. Am 5. Oktober 1972 habe Bormann angeblich die brasilianisch-argentinische Grenze überquert und sich dann auf dem Landgut der Familie Krupp aufgehalten. Nach Angaben der argentinischen Behörden wäre Bormann 1948 dann von Italien nach Argentinien gekommen und hätte sich dann in einigen südamerikanischen Ländern (Peru, Chile, Paraguay) aufgehalten. Diese Angaben entsprachen nach Meinung des ehemaligen Mitarbeiters des CIA und bekannten Publizisten Ladislas Farago der Wahrheit. Farago fuhr extra nach Frankfurt, um die Gerichtsbehörden davon zu unterrichten.

    Frederick Forsyth

    Werden durch die vielen „Irrlichter“ der vielen Berichte über das Nachkriegsschicksal Martin Bormanns die wirklichen Wanderwege des fliehenden Reichsleiters oder seiner Kollegen in Rauch gehüllt? Man kann über Einzelheiten streiten: Wiesenthal zum Beispiel, und mit ihm der englische Autor des aufsehenerregenden Bestsellers „Odessa“, Frederic Forsyth, halten die Organisation „Odessa“ für den Hauptorganisator von Fluchtwegen für ehemalige Nazis. Die Funktionen der Organisation „Odessa“, zu deren Leitern auch der bereits genannte Glücks gezählt werden darf, sind von Wiesenthal und Forsyth folgendermaßen umrissen:

    Hudal hält einen Vortrag über Nietzsche, 1937

    1. Organisation der Fluchtwege von früheren Größen des Reiches über Rom und Genf nach Südamerika. Eine führende Rolle spielte hierbei Bischoff Alois Hudal.

    2. Finanzielle Sicherstellung der NS-Emigranten.

    3. Die „Rückführung“ ehemaliger NS-Angehöriger in das gesellschaftliche und politische Leben der BRD.

    4. Entsprechende Wiedereingliederung in das Wirtschaftsleben auf der Basis früherer Beziehungen.

    5. Juristische und finanzielle Unterstützung von Personen, die wegen Verbrechen in der NS-Zeit gerichtlich belangt werden.

    SS-Standartenführer Walther Rauff (rechts), 1945
    Kardinal Siri
    Krunoslav Draganović

    Im Gegensatz zu Wiesenthal hält Werner Brockdorff die „Odessa“ nicht für die Haupt-Fluchtorganisation für SS-Angehörige, sondern die Beteiligten an der sogenannten „Römischen Marschroute“ (unter der Protektion Bormanns), unter deren Mitarbeitern er Walter Rauff hervorhebt, der Ende des Krieges Leiter des SD in Norditalien war und heute in Chile lebt. Darüber hinaus nennt er den Bischoff Hudal, den kroatischen Geistlichen Draganović, den Kardinal Siri und ebenfalls Mitarbeiter der amerikanischen Wohltätigkeitsorganisation NCWC. In diesem Zusammenhang werden die Organisationen „Edelweiß“ und „Spinne“ genannt.

    Berger als SS-Ober-gruppen-führer und General der Waffen-SS (1944)

    Der kritische Leser hätte natürlich längst sagen können: Ist der „Fall Bormann“ nicht von einer sensationshungrigen Presse erdacht, und sind die Berichte über ihn nicht das Ergebnis der Phantasie verantwortungsloser Journalisten? Ein solches Urteil aber wäre viel mehr verantwortungslos, denn die Nachrichten stammten ja nicht nur von den Journalisten. Eine unter ihnen stammte zum Beispiel von dem SS-Obergruppenführer Gottlob Berger, der Bormann sehr gut kannte. Am 20. April 1964 bat eine westdeutsche Rundfunkanstalt Berger im Rahmen einer Sendung aus Anlaß von Hitlers 75. Geburtstag ans Mikrophon. Berger erzählte bereitwillig darüber, wie man diesen Tag im Jahre 1945 „gefeiert“ hatte. Es wurde auch von Bormann gesprochen. Der Gesprächsleiter fragte Berger, was er über dessen Schicksal dächte.

    Berger:
    „Martin Bormann war viel zu feige, als daß er für den Fall eines unglücklichen Kriegsausganges nicht rechtzeitig Vorsorge für einen Zufluchtsort getroffen hätte. Den Ausgang hätte man vorausahnen und dementsprechend ein Plätzchen zum Verbergen finden können.“
    Gesprächsleiter:
    „Sie glauben also, Herr Berger, daß Martin Bormann durchgekommen ist, daß er nicht in Berlin ..“
    Berger:
    „Ich bin sogar fest davon überzeugt, daß er in Berlin nicht gefallen ist. Er ging in den Teil der Welt, in dem es am leichtesten ist, zu verschwinden, nach Südamerika.“

    Walter Buch (ca. 1934)

    Die Autorin der zweiten Aussage ist ein ganz anderer Typ Mensch, aber sie stammt aus dem gleichen Kreis. Es ist Frau Hildegard Buch, die Schwiegermutter Bormanns. Seit Kriegsende lebten die Buchs in der BRD. Als Hildegard Buch nach dem Tod ihres Mannes Walter Buch am 30. Juni 1960 von der Staatsanwaltschaft vorgeladen wurde, sagte sie folgendes aus:

    „Ich weiß nicht, ob der beschuldigte Martin Bormann heute noch lebt. Nach meiner Kenntnis hat er noch 1949 gelebt … Es waren zwei Männer bei uns, die ich nicht kannte. Sie haben sich mit meinem Mann allein unterhalten … Es waren Zivilisten, die in unseren Garten kamen und auf meinen Mann zugingen. Einer von ihnen war bestimmt Deutscher … Ich glaube, daß mein Mann die Mitteilung über Martin Bormann, die ihm die beiden Zivilisten überbracht haben, als zuverlässig angesehen hat … An dem Abend nach dem Besuch der beiden Zivilisten hat mein Mann zu mir im Bett über Bormann gesagt: „Nun lebt das Schwein doch !“

    SS-Lagerarzt Josef Mengele (Bildaus-schnitt), aufge-nommen an der Solahütte bei Auschwitz, 1944
    Albert Speer (1933)

    Frau Buch fügte hinzu, daß sie vor einigen Jahren einen Brief erhalten hätte, in dem man ihr androhte, daß es ihr dreckig gehen würde, wenn sie in Sachen Bormann Aussagen machen würde.
    Ich hatte die Möglichkeit, im Jahre 1964 mit dem Mann zu sprechen, der die Aussagen von Frau Buch auf ihre Richtigkeit überprüft hat. Das war der Generalstaatsanwalt von Hessen, Dr. Fritz Bauer, der von der Wahrheit der Worte Frau Buchs überzeugt ist.
    Verweilen wir noch bei den persönlichen Eindrücken – von den Presseberichten war schon die Rede.
    Eines Tages – im Jahre 1971 – begegnete ich in Bad Godesberg einer solchen Auskunft „in persona“. Mein Gesprächspartner war ein älterer Mann, ein Deutscher, der lange Jahre in Südamerika gelebt hatte. Er erzählte, daß er bald nach dem Krieg von Bormanns Ankunft in Argentinien ; man berichtete damals, daß Bormann sich im Norden des Landes niedergelassen hätte und später in dem Städtchen San Carlos de Bariloche. Wieder später wäre er nach Brasilien und dann weiter nach Paraguay übergewechselt. Mein Gesprächspartner erzählte, daß er einen Brief von Bormann in Händen habe, den ihm dieser im August 1960 geschrieben hätte.
    In einem anderen Fall – ungefähr vor einem halben Jahr – war die Rede von Nachrichten, die aus Paraguay eingetroffen waren. Ein englischer Kollege hatte mit jemandem gesprochen, für den im September 1972 in dem Gebäude des Außenministeriums von Paraguay ein Treffen mit Dr. Mengele organisiert worden war: Mengele zeigte ihm mehrere von Bormann geschriebene Briefe. Dieser lebte an der Grenze Chiles zu Paraguay und war gerade sehr empört über die Memoiren von Albert Speer. Er wollte mit ihm in eine offene Diskussion eintreten.

    So sah die „publizistische Situation“ aus, als die Berichte über die Funde in West-Berlin veröffentlicht wurden.

    Hugo Blaschke

    Am 7. Dezember (dieses Datum wurde vom STERN angegeben, später war man sich nicht schlüssig, ob es der 7. oder 8. Dezember gewesen sei) 1972 wurden bei Bauarbeiten zwei Skelette gefunden, und es wurde behauptet, das eine davon sei das Skelett Bormanns, das andere das von Dr. Stumpfegger. Laut STERN habe Jochen von Lange dieses Gelände schon lange beobachten lassen, um zukünftige Ausschachtungsarbeiten für die Suche nach Bormanns Überresten zu benutzen. Die Polizei und die Frankfurter Staatsanwaltschaft wurden nach dem Fund sofort eingeschaltet.
    Die Identifizierung der Skelette wurde eingeleitet – bei Stumpfegger war es verhältnismäßig einfach, weil Röntgenaufnahmen seines Gebisses vorhanden waren. Von Bormanns Zahnbild verfügten die Gutachter nur über Zeichnungen, die Professor Blaschke in amerikanischer Gefangenschaft angefertigt hatte. Bei der Untersuchung wurden auch andere Indizien überprüft: die Spuren eines Schlüsselbeinbruches, den Bormann erlitten hatte, wurden festgestellt und die Überreste einer Zyankali-Kapsel. Es fehlte aber ein wichtiger Tei: die Zahnbrücke.
    Das war die Lage Anfang März 1973, als die Staatsanwaltschaft die Verzögerung des Gutachtens meldete. Plötzlich änderte sich das Bild: die Gegend um den Lehrter Bahnhof erwies sich als sehr produktiv, hier wurde am 11. (andere Berichte behaupten am 13.) März eine Zahnbrücke gefunden, die ganz zu Bormanns Skelett paßte. Außerdem wurde ein Münchner Fachmann beauftragt, eine Plastikmaske vom Schädel zu rekonstruieren. Die Maske sah den Photos von Bormann sehr ähnlich.
    Auf der Pressekonferenz des leitenden Staatsanwaltes Joachim Richter erklärte dieser offiziell, daß die Identität Bormanns mit absoluter Sicherheit festgestellt worden sei. Richter erklärte den Fall Bormann als abgeschlossen und bat das Auswärtige Amt, die 100 000 DM Belohnung zurückzuziehen.
    Der Tod Bormanns wurde schließlich im Januar 1974 in das Sterbebuch im Standesamt Tiergarten (West-Berlin) eingetragen. Für die Zeitschrift STERN und die Frankfurter Staatsanwaltschaft war damit der Fall abgeschlossen. Mir war es leider nicht möglich, an der Pressekonferenz von Herrn Richter teilzunehmen, auf der die Resultate des Gutachtens mitgeteilt wurden: Journalistische Verpflichtungen riefen mich nach Hannover. Eine Gruppe englischer Kollegen, die von der Pressekonferenz aus nach Hannover kamen, äußerten sich sehr skeptisch. Aus verschiedenen Briefen, die ich nach der Pressekonferenz erhielt, erfuhr ich, daß nicht nur diese Kollegen Zweifel hegten. Der schon genannte Ronald Grey aus der Grafschaft Kent, der frühere Agent des britischen Geheimdienstes, der versuchte, die Geheimnisse der SS-Organisation „Odessa“ aufzudecken, schrieb mir im Sommer 1973, daß er Bormanns Spur noch im März verfolgt habe. Ich konnte seine Angaben nicht nachprüfen, aber die Erwähnung der Organisation „Odessa“ erinnerte mich daran, daß für uns das Schicksal der Persönlichkeit Bormanns nicht so wichtig ist wie das Schicksal seines „politischen Vermächtnisses“. Als der englische Journalist und Schriftsteller Frederic Forsyth seinen viel Staub aufwirbelnden Roman „Akte Odessa“ schrieb, gab er der erdachten Figur seines Kollegen Peter Miller gewisse verallgemeinernde Züge, die Ereignisse hatte er nicht erdacht.
    Forsyth wurde einmal gefragt:

    „Hatten Sie bei Ihren Recherchen wie Peter Miller den Eindruck, einer stillschweigenden Verschwörung zur Sabotierung von Fahndungen nach Naziverbrechern gegenüberzustehen?“

    Forsyth antwortete:

    „Ich kenne professionelle Nazi-Jäger, die das Tag für Tag erleben. Da verschwinden Dokumente auf dem Weg von einem Büro ins andere, Aufträge zur Ergreifung von Maßnahmen werden auf die lange Bank geschoben, bis die betreffende Person sich absetzen konnte. Ich bin nicht sicher, ob es sich hier um organisierte Aktionen handelt oder ob da alte Freunde einander helfen.“4

    Sigi Sommer (links)
    im Gespräch mit
    Ernst Müller Meiningen jr. beim Münchner Fasching 1955
    Eduard Roschmann

    Forsyth schrieb einen Roman, aber die Hauptfigur des Kommandanten des Rigaer Gettos, Roschmann, ist nicht erdacht. Im Jahre 1945 floh Roschmann aus Berlin über Österreich nach Argentinien. Er hatte mehr Glück als Bormann; Über Roschmann schrieben die Zeitungen nicht tagtäglich, und wenn ich heute über die Wandelbarkeit des verschollenen Bormann nachdenke, dann beginne ich mich zu fragen: Dienen nicht die ewigen Berichte über den angeblich verschwundenen Bormann dem Zweck, die Aufmerksamkeit von all denen abzulenken, die tatsächlich verschwunden sind? Aber das ist nur ein Aspekt des vielschichtigen Problems der Bestrafung von Nazi-Verbrechern, das leider immer noch nicht gelöst worden ist. Ernst Müller-Meiningen schrieb einst in der „Süddeutschen Zeitung“: „Forsyth schrieb einen Roman, aber die Hauptfigur des Kommandanten des Rigaer Gettos, Roschmann, ist nicht erdacht. Im Jahre 1945 floh Roschmann aus Berlin über Österreich nach Argentinien. Er hatte mehr Glück als Bormann; Über Roschmann schrieben die Zeitungen nicht tagtäglich, und wenn ich heute über die Wandelbarkeit des verschollenen Bormann nachdenke, dann beginne ich mich zu fragen: Dienen nicht die ewigen Berichte über den angeblich verschwundenen Bormann dem Zweck, die Aufmerksamkeit von all denen abzulenken, die tatsächlich verschwunden sind? Aber das ist nur ein Aspekt des vielschichtigen Problems der Bestrafung von Nazi-Verbrechern, das leider immer noch nicht gelöst worden ist. Ernst Müller-Meiningen schrieb einst in der „Süddeutschen Zeitung“:

    „Es wird nach wie vor möglich sein, den äußeren Ablauf eines NS-Verbrechens auszuforschen und verhältnismäßig lückenlos darzustellen für die historische Betrachtung. Aber, obwohl die Zahl der Beweisdokumente zunimmt, werden die Chancen immer geringer, bisher unbehelligt gebliebene Verantwortliche vor Gericht zu bringen und den nicht geständigen Tätern ihre Verbrechen nachzuweisen.“

    Nach den Worten Müller-Meiningens liefen laut einer Zusammenstellung Anfang 1973 noch mehr als 400 Ermittlungsverfahren, es war aber noch nicht bekannt, in wie vielen Fällen es zu einem Gerichtsverfahren kommen würde. Skandalöse Umstände meldete die Presse mehr als genug: So hätten sich zum Beispiel die Gerichtsverhandlungen im Falle von vier – der Vernichtung von 60 000 Menschen in Lublin angeklagten – SS-Angehörigen über zweieinhalb Jahre hingezogen. Ein Mann, der angeklagt war, 28 450 Menschen vernichtet zu haben, erhielt nur sechs Jahre Zuchthaus, andere noch weniger oder sie wurden sogar freigesprochen. Das Strafverfahren gegen den Staatssekretär des Reichsverkehrsministeriums, Ganzenmüller, konnte erst 28 Jahre nach dem Zusammenbruch des Nazismus eingeleitet werden und wurde nach einigen Tagen wieder eingestellt.

    So ist das ungewöhnliche Schicksal des Falles Bormann selbst Ausdruck der Nachkriegswirklichkeit, in der sich ein Kriegsverbrecher des Dritten Reiches nach dem anderen der gerechten Bestrafung entziehen konnte. Mit Hilfe der Organisation „Odessa“ versteckten sich Hunderte von möglichen Angeklagten zukünftiger Gerichtsverfahren, die auf diese Art und Weise nicht stattfanden. Mengele, Rauff, Glücks – das sind nur einige Namen, aber wie viele waren es tatsächlich, die sich der Justiz entzogen. In der BRD der Nachkriegszeit wurden die Strafprozesse gegen die Kriegsverbrecher derartig unheilvoll deformiert, daß der außenstehende Beobachter fragen kann: Ist das eine Komödie, eine Farce, eine Tragikomödie oder schlicht und einfach ein Verhöhnen jedes gesunden Menschenverstandes?

    Die Geschichte der Nachkriegsprozesse – einige von ihnen habe ich schon erwähnt – ist noch nicht geschrieben worden, und ihr zukünftiger Autor wird viel Geduld aufbringen müssen, um seine Gefühle zu beherrschen. Böswillige Verzögerungen, Sabotage, Formalismus, Verzug und schließlich direkte Begünstigung der Verbrecher durch ihre eigenen Kollegen, die sich in den westdeutschen Justizorganen breitgemacht hatten – das sind nur einige Elemente dieser ungeschriebenen Geschichte. Sie lenkte die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit besonders in jenen Jahren auf sich, als die Diskussion um die Verjährung von Kriegsverbrechen lief. Die internationale öffentliche Meinung forderte von der BRD nicht nur die formale, sondern auch die moralische Pflichterfüllung.

    Ein weiterer Grund, weswegen der Name Martin Bormann in den Nachkriegsjahren einen besonderen Klang bekam, einen weit stärkeren, als es der Bedeutung dieses Mannes an sich entsprach: Wenn sich im April 1945 Reichsleiter Bormann (unmittelbar nach Hitler) den Kopf darüber zerbrach, wie man die nationalsozialistische Bewegung erhalten könnte, so wurde auch unabhängig von Bormanns eigenen Anstrengungen des sozialgesellschaftliche Phänomen des Neonazismus in vielen westlichen Ländern Wirklichkeit.
    Was die Bundesrepublik betrifft, so habe ich nicht vor, mit den Autoren der Dutzend (wenn nicht ganzer Hundert) Bücher über den Neonazismus allgemein und über die NPD insbesondere in Konkurrenz zu treten. Dafür gibt es einen recht erfreulichen Grund: Durch die gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik wurde die unmittelbare Gefahr, die der Neonazismus in diesem Lande in den 60er Jahren darstellte, gebannt.

    Adolf von Thadden

    Ich bin überzeugt, daß Martin Bormann mit dem Erfolg des Herrn Adolf von Thadden zufrieden gewesen wäre. Nach einem langen Dahinvegetieren kleiner nazistischer Gruppen in den 50er Jahren ging es mit der nationaldemokratischen Partei Ende der 60er Jahre plötzlich steil aufwärts. Die Daten sind allgemein bekannt: In den Jahren 1966 bis 1968 begann die Partei von Thaddens ihren „Marsch nach Bonn“. Zu dieser Zeit hatte die Partei bei den Wahlen in den einzelnen Ländern höchstens 2,7 Prozent der Stimmen erhalten, im Jahre 1968 schwankten sie jedoch zwischen 5,8 und 9,8 Prozent. Die Thadden-Männer gelangten in sieben von zehn Landtagen, nachdem sie insgesamt 1,9 Millionen Stimmen erhalten hatten.
    Aber zur Jahreswende 1969/1970 kam dieser Marsch zum Stillstand. Bei den Wahlen zum Bundestag im Jahre 1969 erhielt die NPD 4,3 Prozent der Stimmen und dann folgte das Abfallen in den Ländern: Hamburg (2,7 Prozent), Nordrhein Westfalen (1,1 Prozent), Niedersachsen (3,2 Prozent), Saar (3,4 Prozent), Hessen (2,1 Prozent). Und bei den vorgezogenen Bundestagswahlen im November 1972 erlitt die Partei eine vollkommene Niederlage. Wenn man bedenkt, daß die NPD nur ein Teil des „rechten Flügels“ ist, so darf man ihre Niederlage noch nicht als den vollständigen Niedergang eines neuen Momentes in der innenpolitischen westdeutschen Situation werten. Es kam zu dieser Niederlage, weil die breite Masse der Bevölkerung von Thadden nicht akzeptierte und sich durch seine extremistische Propaganda und seine offenen nationalistischen Losungen nicht einfangen ließ. Eine Analyse des Schicksals der NPD darf sich nicht auf Zahlen beschränken und dabei einen anderen , allein wichtigen Faktor übersehen: die Mobilisierung aller Kräfte gegen die neonazistische Gefahr durch die öffentliche Meinung Westdeutschlands und der Welt. Tatsache ist, daß hier ein Alarmsignal gehört wurde, das die demokratischen Kräfte der BRD und, über die Grenzen der BRD hinaus, die Kräfte all derer, denen das Schicksal der Welt am Herzen liegt, zusammenrief. Als der politische Streit eröffnet wurde, zeigten die Neonazisten ihr wahres Gesicht. Sie entlarvten sich als direkte Nachfahren der braunen Epoche bei dem Versuch, deren düstere Tradition in unseren Tagen fortzuführen. Das schreckte viele Menschen ab, die anfangs in von Thadden eine „starke Persönlichkeit“ und in der NPD ein Mittel zu „Law and Order“ gesehen hatten. Mit anderen Worten: Die Partei erfüllte de in sie gesetzten Hoffnungen nicht. Diese Situation befreit den Autor von der Versuchung, simple Parallelen zwischen dem Deutschland der 30er Jahre und der BRD der 60er und 70er Jahre zu ziehen. Das Westdeutschland der 60er und 70er Jahre ist nicht das Deutschland der 30er Jahre.

    Die bis zum Zweiten Weltkrieg in Deutschland und Westeuropa unbegrenzt herrschenden Kräfte verloren die historische Initiative, und der Versuch, diese – kraftlos geworden – wiederzuerlangen, hieße die Entwicklung der heutigen Welt zurückdrehen. Das bedeutet vor allem, daß die Neonazisten – öffentlich und insgeheim – schon nicht mehr so ungehindert handeln können wie seinerzeit die Hitler-Anhänger. Auch auf deutschem Boden sieht es nicht so aus, wie es war: Die Tatsache der Existenz der DDR spricht für sich selbst. Mit den anderen sozialistischen Ländern zusammen übt die DDR einen weitgehenden Einfluß auf die europäische Situation aus. Und innerhalb der Bundesrepublik reifen und festigen sich die Bestrebungen zum Nutzen des Friedens und der Zusammenarbeit in Europa gegen eine Rückkehr der verhängnisvollen Traditionen der Vergangenheit.

    Damit ist das Problem nicht zu Ende. Wenn die Neonazisten in der BRD eine Niederlage erleiden, dann wird das Schicksal der neofaschistischen Kräfte in Italien ähnlich aussehen. Aber Griechenland – spricht dieses nicht für die Zählebigkeit faschistisch-diktatorischer Methoden? Und was ist mit der Aktivität der Ultrarechten in den USA?

    Henry Kissinger als US-Außen-minister (1973)
    David Rockefeller (1953)
    John F. Kennedy
    Richard Nixon

    Der Lärm um die „amerikanischen Ultras“ ist in den letzten Jahren schwächer geworden. Wenn sie selbst auch mit dem Ergebnis zufrieden sind, sie hätten dennoch allen Grund dazu, betrachtet man die 1 045 000 Wählerstimmen, die sie bei der Präsidentenwahl 1972 erhalten haben. Im Jahre 1973 gaben sich die Herren der „Birch-Organization“ wieder zu erkennen: Auf dem amerikanischen Büchermarkt erschien ein Buch von Gary Allen unter dem Titel „Wage keiner, es Verrat zu nennen!“5
    In wenigen Monaten wurde eine Auflage von sechs Millionen Exemplaren restlos ausverkauft und erwies sich der Bezeichnung würdig: „Eine amerikanische Variante von ‚Mein Kampf‘.“ Allen vermittelt dem amerikanischen Leser in etwa das, was die Nazis dem deutschen Leser vermittelt hatten, nämlich das herzzerreißende Bild „einer geheimen Verschwörung“ der sowjetischen Kommunisten mit amerikanischen Politikern, um „die USA zu vernichten“. Zu denen, die an der Verschwörung teilhaben, werden Richard Nixon, Henry Kissinger und David Rockefeller gezählt und auch Präsident Kennedy war einer von ihnen.

    Offensichtlich hatte der Gedanke einer Normalisierung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen die Ultras so aufgeschreckt, daß sie von neuem Zuflucht zu Verleumdungen nahmen, die an Schizophrenie grenzten. Es ist sehr charakteristisch, daß diese Kräfte heute Anstrengungen unternehmen, um die Bewegung der Menschheit für einen dauerhaften Frieden, für eine friedliche Koexistenz und für die Überwindung der verhängnisvollen Folgen der Vergangenheit zu stören.

    Reinhard Kühnl
    Wilhelm Treue
    Rainer Rilling

    Das Problem der latenten neonazistischen Gefahr ist nicht eindimensional. Selbst wenn sich in dem einen oder anderen Land des Westens eine Situation herausbildet, die einer faschistischen oder faschistenähnlichen Massenbewegung oder der Machtübernahme durch offene Diktaturen entgegensteht, bleibt dem Neonazismus eine „dritte Dimension“, das ist die , die die Erscheinung solcher politischer Phänomene ermöglicht. Denkt man über das Schicksal Bormanns nach, darf man nicht vergessen, daß für die Betätigung dieses Menschen eine bestimmt fördernde Umwelt notwendig war. Ich verfolge daher mit großem Interesse die in der BRD geführte Diskussion über die sozialen Voraussetzungen, die für die Entwicklung des Nazismus nötig waren. So wie auf der einen Seite dieser Diskussion die beständigen Verfechter der These von dem „unsozialen Wesen“ des Nazismus stehen, zusammen mit jenen, die das Renomee der großen Unternehmen verteidigen, als ob diese nie irgend etwas mit Hitler gemein gehabt hätten (z. B. Wilhelm Treue) – so stehen auf der anderen Seite die jungen Wissenschaftler, die ernsthaft versuchen, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen. Ich konnte mich nur zu der „Diagnose des Faschismus“ bekennen, die die westdeutschen Soziologen R. Kühnl, R. Rilling und C. Sager gestellt haben.
    Sie stellen fest:

    „Das kapitalistische Wirtschaftssystem begünstigt den Aufstieg faschistischer Bewegungen in vierfacher Weise.
    1. Da die Entscheidungsgewalt in der Wirtschaft in den Händen weniger konzentriert ist, während die große Mehrheit lediglich Anweisungen weitergibt oder ausführt, bilden sich autoritäre Denk- und Verhaltensformen: Das Prinzip von Befehl und Gehorsam wird als natürlich, Diskussion und Kritik werden als störend empfunden. Die Bereitschaft, der Autorität willig zu dienen, erweist sich in hierarchisch gegliederten Systemen (zu denen neben dem Militär vor allem die staatliche Verwaltung gehört) als notwendige Bedingung des beruflichen Aufstiegs. Daher kann eine Partei, die das Prinzip von Befehl und Gehorsam auch auf die politische Willensbildung zu übertragen sucht, auf das Verständnis vieler rechnen.
    2. Das Konkurrenzprinzip des kapitalistischen Systems bedeutet, daß jeder seine Ellenbogen brauchen, im Kampf aller gegen alle rücksichtslos seine Interessen wahren muß, denn der Stärkere setzt sich durch. Da die Vernichtung des Konkurrenten oft die Voraussetzung für die Sicherung der eigenen Existenz ist, werden selbst die formalen Spielregeln … häufig verletzt. (Die hohe Wirtschaftskriminalität ist nur ein Symptom dafür.) Unter solchen Lebensbedingungen gedeiht eine Mentalität, die den Sieg des Stärkeren verherrlicht und Gewaltanwendung als legitimes Mittel betrachtet, denn das Leben ist nun einmal so.
    3. Das kapitalistische System bedeutet, daß ein stetig wachsender Teil der Bevölkerung seine wirtschaftliche Selbständigkeit einbüßt. Da dieses System immer wieder Krisen hervorbringt, die bei allen Lohnabhängigen und kleinen Selbständigen akute Krisenangst wecken und für viele von ihnen tatsächlich sozialen Abstieg und oft sogar materielle Not mit sich bringen, können sich leicht Protestbewegungen bilden, die diese Massen sammeln. Weil viele vom kapitalistischen System zwar in ihrem sozialen Status bedroht, aber durch die herrschende Eigentums- und Aufstiegsideologie zugleich fest an dieses System gebunden sind, verbleibt ihnen im Ernstfall nur ein energischer Scheinprotest mit der Möglichkeit zur Aggressionsentladung, das heißt: Faschismus.
    4. Die ökonomischen Führungsgruppen verfügen zwar über die Dispositionsgewalt in der Wirtschaft, soziale Privilegien und maßgeblichen politischen Einfluß, sind in der bürgerlichen Demokratie aber gleichwohl ständig der Gefahr ausgesetzt, daß sich auf demokratischem Wege eine Mehrheit bildet, die auch die Wirtschaft der Kontrolle der Gesamtheit unterwirft. So neigen sie besonders in wirtschaftlichen und politischen Krisensituationen, wenn … die Mittel der parlamentarischen Demokratie zur Bewältigung der Krise sich als unzureichend erweisen und die Massen unruhig werden, zu Lösungen, die ihrer Interessenlage ohnehin entsprechen: auch den Staat der autoritären Struktur der Wirtschaft anzupassen und somit ihre soziale Vorrangstellung zu sichern. Sie verbinden sich mit … der faschistischen Partei, die ihrerseits das Ziel verfolgt, das Führerprinzip in allen Lebensbereichen durchzusetzen … Da die ökonomische Führungsgruppe demokratisch weder legitimiert noch kontrollierbar sind, können sie kaum daran gehindert werden, ein Bündnis mit dem Faschismus zu schließen, wenn sie das für opportun halten.“

    Eugen Kogon

    Höchstwahrscheinlich kann man hier das Geheimnis der beständigen Wiederkehr des Namens Bormann in der politischen Arena lüften. Die Schatten der Vergangenheit kehren nicht von sich aus zurück, sondern weil die Elemente der Vergangenheit künstlich konserviert werden. Ich möchte gerne Eugen Kogon zitieren, der einmal kritisch schrieb:

    „… Aus der Zeit des Nationalsozialismus kommen einige Leichen nicht zur Ruhe. Aber es sind nicht etwa die Millionen Opfer, für die das eine oder andere von Zeit zu Zeit aufstünde und im deutschen Bewußtsein störend umginge. Nein, Akteure der barbarischen Tyrannei von damals sind es, deren Gestalten am hellichsten Tage, im Scheinwerferlicht der Publizität erscheinen, der kollektiven Neugier sicher. Hätten die Sowjetrussen nicht einwandfrei aus den Überresten Adolf Hitlers, die sie bei der Eroberung Berlins im Hof der Reichskanzlei vorfanden, das Gebiß verifiziert, es ließe sich bestimmt der Schatten des Braunauers selbst in Abständen auf unserer Zeitgeschichtsbühne blicken.“ (Publik, 24. 9. 71)

    In einem hat Kogon Recht: Man sollte nicht so sehr der Verbrecher wie vielmehr der Verbrechen erinnern und alles tun, damit sie nicht wiederholt werden.

    Aber kehren wir jetzt zu der Vergangenheit selbst zurück, zum April des Jahres 1945.

    Die Tage vom 25. bis 29. April

    Göring

    Mittwoch 25. April
    Göring aus Partei ausgestoßen!
    Erster Großangriff auf den Obersalzberg.
    Berlin eingeschlossen!

    Donnerstag, 26. April

    Jodl
    Himmler

    Freitag, 27. April
    Die zu unserem Einsatz marschierenden Divisionen werden von HimmlerJodl angehalten!
    Wir werden mit dem Führer stehen u. fallen: getreu bis in den Tod.
    Andre glauben „aus höherer Einsicht“ heraus handeln zu müssen, sie opfern den Führer und ihre Untreue – pfui Teufel – gleicht ihrem „Ehrgefühl“!

    Fege-lein

    Samstag, 28. April
    Unsere RK wird zum Trümmerhaufen: „auf des Degens Spitze die Welt jetzt steht“!
    Hoch- u. Landesverrat – bedingungslose Übergabe wird vom Ausland bekannt gegeben.
    Fegelein degradiert – versuchte in Zivilkleidung sich feige aus Bln zu entfernen!

    Sonntag, 29. April
    Der Tag beginnt zum 2. Mal mit Trommelfeuer.
    Nacht 28./29.4. = Auslandspresse berichtet über Angebot der Übergabe des Reiches durch H. Himmler.
    Trauung Adolf Hitler + Eva Braun
    Der Führer diktiert sein politisches u. ferner sein privates Testament.
    Die Verräter Jodl, Himmler u. Gen. überlassen uns den Bolschewisten!
    Wiederum Trommelfeuer !
    Nach Feindmeldungen Amerikaner in Mü. eingedrungen.

    W. Wenck
    H. Krebs

    Diese Eintragungen fallen, wie der Leser bemerkt haben wird, offensichtlich aus dem allgemeinen Stil der Notizen heraus obwohl sie von ein und derselben Hand ein und desselben Bormann stammen. Tatsächlich mußte der Zusammenbruch des Reiches sich vollenden, um bei dem Reichsleiter Anzeichen menschlicher Regungen wie Entrüstung, Verzweiflung und Zorn zu wecken!
    Was die von Bormann vermerkten Ereignisse betrifft, so sind diese wohlbekannt und schnell beschrieben. Die Wut Bormanns in bezug auf die Aktionen Görings und Himmlers, die mit Erfolg Kontakte zu den westlichen Alliierten aufgenommen hatten, war natürlich sehr groß. Bis zum letzten Augenblick hatte Hitler – und mit ihm Bormann – gehofft, daß sie ein „Wunder“ bewirken könnten und das Schicksal des Reiches sich wenden würde.
    Die Anstrengungen, die Himmler in dieser Richtung unternommen hatte, sind allgemein bekannt. Aber im Bunker der Reichskanzlei saß man nicht tatenlos herum. So wurde dort zum Beispiel am 29. April eine Direktive an General Wenck, den Befehlshaber der 12. Armee gegeben, derzufolge Hitler seine ganze Hoffnung in diesen setzte. Diese Direktive sollte nicht chiffriert, sondern im Originaltext in Wencks Hände gelangen – eine derartige Bedeutung maßen Martin Bormann und der letzte Chef des Generalstabes, Krebs, ihr bei.
    Die Vorgeschichte dieser Direktive war folgende:
    Wie aus den Aufzeichnungen Bormanns ersehen, erfuhr Hitler am 28./29. April durch eine Radiomeldung, daß Himmler in Verhandlungen mit den westlichen Alliierten eingetreten war. Hitler war außer sich und erklärte den Reichsführer SS zum Verräter. Für gewöhnlich entsprang eine derartige Maßnahme einem kraftlosen Zorn. Möglich, daß Hitler zornig war, vielleicht spielte aber auch ein anderes Gefühl eine Rolle: kraftloser Neid!
    Das bestätigt die Direktive, die in der Nacht zum 29. April aufgesetzt wurde. Sie lautet:

    „Werter General Wenck!
    Wie aus den beiliegenden Meldungen zu sehen ist, hat der Reichsführer SS, Himmler, den Anglo-Amerikanern einen Vorschlag gemacht, der unser Volk bedingungslos dem Plutokraten ausliefert.
    Eine Wende kann nur vom Führer selbst herbeigeführt werden und nur von ihm!
    „Werter General Wenck!
    Wie aus den beiliegenden Meldungen zu sehen ist, hat der Reichsführer SS, Himmler, den Anglo-Amerikanern einen Vorschlag gemacht, der unser Volk bedingungslos dem Plutokraten ausliefert.
    Eine Wende kann nur vom Führer selbst herbeigeführt werden und nur von ihm!
    Die Vorbedingung dafür ist die unverzügliche Herstellung einer Verbindung zwischen der Armee Wencks und uns, damit auf diese Weise der Führer innenpolitische und außenpolitische Handlungsfreiheit für Verhandlungen gewinnt.
    Ihr Krebs
    Chef des Generalstabes

    Heil Hitler,
    Ihr M. Bormann“1a

    Hier ist ersichtlich, in welcher Richtung die Gedanken im Bunker der Reichskanzlei gingen. Unsere nächste Studie, die den 29. April umfaßt, wird jedoch einem anderen Thema gewidmet sein. Das, was im Bunker der Reichskanzlei vor sich ging, war im wesentlichen bereits eine Sache von Toten. Doch das Leben ging weiter. Das deutsche Volk hörte – gegen Hitlers und Bormanns bösen Willen – nicht auf zu existieren. Und eben jene „bösen Bolschewisten“, mit denen der Nazismus den Deutschen so lange Angst eingeflößt hatte, spielten dabei eine historische Rolle.

    Weitere Kapitel aus Besymenskis Buch hier

    Anmerkungen und Fußnoten

    1 IMT, Bd. XVII, S. 488.
    1a Aus dem Privatarchiv von E. Rschewskaja, die zu einem sowjetischen Suchtrupp gehörte, welcher Anfang Mai 1945 die Reichskanzlei durchsuchte.
    2 Bunte Illustrierte, Heft 2 (1963)
    3 Ebenda.
    4 „General-Anzeiger“, Bonn, 2. 3. 1973.
    5 Gary Allen: „None, Dare Call It Conspiracy“, Concorde Press, Seal Beach, California 1972.

    Lew Besymenski

    (Lew Besymenski: Rauch und Feuer. In: Ders.: Die letzten Notizen von Martin Bormann – Ein Dokument und sein Verfasser, Stuttgart 1974, S. 203-234)

    °
    – x ° x –

  • „Gouvernementalität“ (2)

    Meinhard Creydt
    2024

    < — (1)

    Die neue Rationalität

    Michel Foucault

    Der zweite Band von Foucaults „Geschichte der Gouvernementalität“ trägt die Überschrift „Geburt der Biopolitik„. Foucault bemerkt immerhin schon in der achten Vorlesung, „dass ich zu Beginn die Absicht hatte, über Biopolitik zu sprechen, und dann habe ich, wie die Dinge sich eben entwickelten, am Ende lange, und vielleicht zu lange, über den Neoliberalismus gesprochen“ (2006a0m, 260).

    Müller-Armack
    Franz Josef Emil Böhm
    Friedrich August v. Hayek
    Gary Becker
    Wilhelm Röpke
    Walter Eucken

    Bis zum Ende der Vorlesungsreihe haben sich „die Dinge nicht so entwickelt“, dass wir etwas über Biopolitik erfahren. Das Thema ist vielmehr der deutsche Ordoliberalismus („Freiburger Schule“: Walter Eucken, Franz Böhm, Alfred Müller-Arnack, Wilhelm Röpke) und der US-Amerikanische Neoliberalismus (Friedrich August von Hayek, Garry Becker).

    In Bezug auf die Herrschaftstechniken der Regierenden rückt Foucault ab von seinen früheren Konzepten der Disziplinargesellschaft. Der Neoliberalismus orientiere sich nicht am „Ideal oder Projekt einer erschöpfend disziplinarischen Gesellschaft“ (Ebd.0m, 359). Im Unterschied zur früher für Foucault maßgeblichen Bestimmung der Gesellschaft durch die Frage, was durch sie ausgeschlossen werde, heißt es nun:

    „Es ist auch keine Gesellschaft, in der ein Mechanismus der allgemeinen Normalisierung erforderlich wäre“ (Ebd.).

    Der Neoliberalismus plädiere für eine Gesellschaft,

    „in der man Schwankungsprozessen freien Raum zugestehen würde, in der es eine Toleranz gäbe, die man den Individuen und den Praktiken von Minderheiten zugesteht, in der es keine Einflußnahme auf die Spieler des Spiels, sondern auf die Spielregeln geben würde und in der es schließlich eine Intervention gäbe, die die Individuen nicht innerlich unterwerfen würde, sondern sich auf ihre Umwelt bezöge“ (Ebd.).

    Foucault misst der wirklichen oder vermeintlichen Tatsache große Bedeutung bei, dass mit der neoliberalen Gouvernementalität nicht mehr die Auffassung herrsche, die Kriminalität mit allen Kräften zu bekämpfen. Vielmehr seien nun die Kosten für die Verbrechensbekämpfung ins Verhältnis zu setzen zu deren Wirkungen (Foucault 2006a0m, 353 ff.). Foucault tut so, als habe in früheren Zeiten das Verhältnis zwischen Aufwand und Effekt keine Rolle gespielt.

    Foucault vertritt die These, „die Frage nach der Genügsamkeit“ des Regierens sei „seit dem Ende des 18., während des ganzen 19. Jahrhunderts und natürlich heute mehr denn je wohl das Grundproblem. Die Frage der Genügsamkeit der Regierung ist gerade die Frage des Liberalismus“ (Ebd., 51) Die „neue Regierungskunst“ bestehe in der „Kunst, sowenig wie möglich zu regieren“ (Ebd., 50). Foucault versteht im Text „Die Geburt der Biopolitik“ von 1979 den Liberalismus nicht als eine Ideologie, die entsteht im Kontext des Aufstiegs des Marktes zum zentralen Medium der gesellschaftlichen Vernetzung. Foucault begrenzt den Liberalismus darauf, im Rahmen der Machtpraktiken bzw. des Regierens „ein Instrument der Realitätskritik“ zu bilden. Zum Objekt dieser Kritik werden zunächst das frühere Regieren im Zeitalter der politischen Souveränität des Fürsten und später dasjenige Regieren in der Gegenwart, das sich suboptimal bzw. als zu teuer erweist. Die bürgerliche Gesellschaft gilt Foucault als Begleitphänomen („Korrelat„) einer „Regierungstechnik“ (Foucault 2006a0m, 405). Letztere soll dann als ökonomisch effizient gelten können, wenn sie ein vertretbares Verhältnis von Aufwand und Ergebnis zeigt.

    Das ist für die bürgerliche Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie charakteristische Gefüge, in dem das Regieren, die Märkte, die kapitalistische Ökonomie und die nicht der Kapitalverwertung überantworteten Bereiche stehen, interessiert Foucault nicht. Nicht die praktischen Aufgaben des Regierens unter den Voraussetzungen der ökonomischen Logiken, Widersprüche und gegensätzlichen gesellschaftlichen Anforderungen stehen für Foucault im Zentrum. Foucault schreibt dem Neoliberalismus die Maxime zu „Man soll für den Markt regieren anstatt auf Veranlassung des Marktes zu regieren“ (Foucault 2006a0m, 174) Foucault diskutiert nicht, wie sich diese Maxime zu denjenigen massiven Handlungsanforderungen an das „Regieren“ verhält, die infolge des allmählichen Marktversagens und aufgrund von unalltäglichen massiven Konjunktureinbrüchen oder Wirtschaftskrisen entstehen.
    Er konzentriert sich vielmehr auf die mit der neuen Gouvernementalität mögliche Prüfung des Regierens am Maßstab ökonomischer Rationalität.

    „Die Einführung der Ökonomie in die Ausübung der Politik ist, glaube ich, der Haupteinsatz des Regierens“
    (Foucault 20060a, 144)

    Foucault erachtet die eigenen Logiken der Marktwirtschaft und der kapitalistischen Ökonomie nicht als Kontext, innerhalb dessen erst das Regieren begreifbar ist. Die Ökonomie kommt Foucault nur insofern in den Blick, als das Regieren ihr einen neuen Maßstab für sich selbst entnimmt: ökonomische Effizienz.

    Foucault blendet die wirtschaftlichen Veränderungen hin zur bürgerlichen Gesellschaft aus. In dem Maße, wie der Tausch von Waren zu Marktpreisen sich ausbreitet, verlieren vorbürgerliche Privilegien an Relevanz.

    „Beim entwickelten Tauschhandel erkennen die Austauschenden sich stillschweigend als gleiche Personen und Eigentümer der resp. von ihnen auszutauschenden Güter an; sie tun das schon während sie einander ihre Güter anbieten und Handels miteinander einig werden. Dies erst durch und im Austausch selbst entspringende faktische Verhältnis enthält später rechtliche Form im Vertrag etc. Aber diese Form schafft weder ihren Inhalt, den Austausch, noch die in ihr vorhandene Beziehung der Personen untereinander, sondern vice versa
    MEW0n 19, 377).79

    Foucault betont die seines Erachtens maßgeblichen Einwirkungen des Rechts auf die Ökonomie. Die Frage, wie die gesellschaftlichen Formen des Wirtschaftens das Recht konstituieren, kommt bei ihm erst gar nicht vor.

    Ordoliberalismus

    Foucault überschätzt die Bedeutung des Ordoliberalismus in der Bundesrepublik. Er habe „zur Zeit von Adenauer und Ludwig Erhard die wirtschaftlichen Entscheidungen der Politik der Bundesrepublik inspiriert“ (Foucault 2006a0m, 442.).

    Lud-wig E-rhard
    Wer-ner Abels-hauser
    Bri-gitte Young
    Hans-Ulrich Jörges
    Frieder Vogel-mann
    Konrad Ade-nauer
    Thomas Bieb-richer
    Dirk Martin

    „Die gängige Wirtschaftsgeschichtsschreibung weiß dagegen, dass es sich hier keinesfalls um eine ordoliberale, sondern um eine ‚korporative Marktwirtschaft‚ handelte (Abelshauser). […] In den entscheidenden wirtschafts- und sozialpolitischen Streitpunkten setze sich Konrad Adenauer gegen den reformliberalen Ludwig Erhard durch, der der wichtigste politische Verbündete der Ordoliberalen war. […] Young und Jörges […] schätzen (in ihren Aufsätzen im Buch von Biebricher, Vogelmann 20170o – Verf.) den Einfluß der Ordoliberalen auf die reale Wirtschaft der frühen Bundesrepublik als nicht dominant ein“
    (Böhm, Martin 20180p).

    Foucault (2006a0m, 128) meint faktisch unzutreffend, die Preise seien in der Bundesrepublik bis 1953 freigegeben worden.

    Jan-Otmar Hesse

    „Zentrale Bereiche der bundesdeutschen Wirtschaft blieben hochgradig reguliert. Auf dem Mietwohnungsmarkt bspw. wurde für die Gebiete mit hoher Nachfrage die Bewirtschaftung des Angebots erst 1961 abgeschafft“
    (Hesse 20060q, 295)

    Philip Manow

    Foucault blendet das skeptische protestantische Menschenbild aus, das die führenden Vertreter des Ordoliberalismus prägte (vgl. Manow 20010r).

    Dietrich Bonhoeffer

    „Der Mensch ist aus der Gnade gefallen und von selbstsüchtigen Trieben beherrscht; er bedarf darum des Zwangs und der Strafe. Aber er hat das sittliche Bewusstsein keineswegs völlig verloren; er bedarf freilich der Ausrichtung, Klärung, Festigung, Erziehung“ (Bonhoeffer-Denkschrift80 19790t, 72).

    Alexander Rüstow
    Franz Böhm

    Weniger Skepsis gegenüber dem Staat als Skepsis gegenüber dem Menschen stand bei den Ordoliberalen im Zentrum. Für viele von ihnen bildete die anspruchsvolle theologische Figur der Person den Ausgangspunkt, nicht der liberale Begriff des Individuums. Wirtschaftspolitik müsse so konzipiert sein, dass sie die „freie, natürliche, gottgewollte Ordnung verwirklicht“ (Eucken 19520s, 176) Die deutschen Ordoliberalen vertraten eine Ethik, die sie per „personenbildender Volkserziehung“ (Bonhoeffer-Denkschrift 19790t, 74) durchsetzen wollen. Es gehe darum, den „menschlichen Trieb zur Beherrschung, Unterdrückung und Ausbeutung von seinesgleichen“ zu begrenzen (Böhm 19600u, LXIII).
    Rüstow mahnte, dass sich,

    Müller, Eckart

    „um der Realisierung ethischer Werte willen auch starke Einbußen an wirtschaftlicher Effizienz rechtfertigen lassen.“
    (zit. n. Müller 19970w, 13).81

    Sowohl der „Staatspaternalismus“ von Müller-Armacks Plädoyer für eine „zweite Phase der sozialen Marktwirtschaft“ als auch Erhards Konzept einer „formierten Gesellschaft“ „stehen deutlich in Kontinuität eines protestantisch eingefärbten Staatsverständnisses.“ Es wies der Regierung „die Aufgabe einer ‚gewaltigen nationalen Erziehungsarbeit‘ “ zu (Manow 20010r, 194).

    „Menschen, die auf dem Markte ihre Kräfte im Wettbewerb miteinander messen, müssen umso stärker im Übrigen durch eine Ethik der Gemeinschaft verbunden werden, da andernfalls sogar der Wettbewerb aufs schwerste entartet“
    (Röpke 19530x, 16)

    Die Ordoliberalen verstehen den Staat als „moralische Autorität“, die dafür zu sorgen habe,

    „dass den Bürgern jene Sittlichkeit vermittelt wird, ohne die Freiheit und Menschenwürde in einer Marktwirtschaft nicht existieren könnten. Mit den elementaren Prinzipien des politischen und ökonomischen Liberalismus hatte das alles wenig gemein“
    (Manow 20010r, 194 f.)

    Elmar Altvater

    Foucault unterschätzt die Selbstregulation von Märkten. Kritiklos spricht er eine zentrale ordoliberale Vorstellung nach: Gegen die Vermachtung von Märkten durch Kartelle und Monopole helfe allein eine starke Politik. Sie sei die einzige Garantie für die Fortexistenz der Marktwirtschaft. Faktisch erweist sich die Macht von Monopolen im modernen Kapitalismus aber als begrenzt. Sie

    „wird in der Konkurrenz immer wieder abgebaut, wobei durchaus die Möglichkeit besteht, dass aufgrund besonderer Bedingungen das Schwinden von monopolistischen Profiten sich über längere Zeit verzögert, dass die Wirkungsweise des Wertgesetzes sich also nur modifiziert durchsetzt. […] Das Wertgesetz begrenzt also monopolistische Machtentfaltung, die Monopolmacht kann niemals an die Stelle des Wertgesetzes treten. Aber sie modifiziert seine Durchsetzung. Sie wirkt dahin, dass sich die Bewegungsgesetze der Produktionsweise eben nur als Tendenzen durchsetzen“
    (Altvater 19750y, 188, 190).

    Foucaults These von der starken Rolle der Gouvernementalität besagt, dass

    „der Markt oder der reine Wettbewerb, der das Wesen des Marktes ist, nur dann in Erscheinung treten kann, wenn er hergestellt wird, und zwar von einer aktiven Gouvernementalität“
    (Foucault 2006a0m, 174)

    Er spricht von dem

    „allgemeinen Prinzip, dass der Markt etwas ist, das man durch die Regierung herstellen muss“
    (Ebd.)

    Für diese These ist die Ignoranz gegenüber innerökonomischen Prozessen, die Monopole und Kartelle auflösen, konstitutiv.82

    Foucault vermag den Ordoliberalismus (wie vorher das Pastorat) nur dadurch stark zu machen, dass er ihn gnadenlos überschätzt und sein Interesse in ihn hineinprojiziert. Foucault modelt sich seinen Gegenstand so, wie er es auf ihn absieht, und sieht von allem ab, was ihm entgegensteht.

    Staatstheoretische Essentials

    Franz Schandl

    „Die Probleme, die auf die Politik zukommen, hat sie in den seltensten Fällen selbst gemacht, aber weil sie diese verwaltet und da und dort mit einem Gesetz, mit einer Förderung, mit einem Appell einspringt, sieht es so aus, als sei sie die Urheberin […]. Dadurch, dass Politik die Gesellschaft moderiert, erscheint sie als wahres Zentrum, gar als jenes, das eigentlich die Gesellschaft leitet“
    (Schandl 20190v, 14)

    Evgeny Pashu-kanis

    Foucault erklärt mit großem Selbstbewußtsein, warum der „Verzicht“ auf Staatstheorie kein Verzicht sei (Foucault 2006a0m, 114 f.). Als Grund führt er an, der Staat habe weder ein „Wesen“ (Ebd., 115) noch stelle er eine „Universale“ (sic!) dar (Ebd., 114), als würde irgendeine gesellschaftstheoretisch relevante zeitgenössische Staatstheorie das behaupten. Foucaults Statement lebt von einem pauschalen Verdacht: Eine an die Analyse der bürgerlichen Gesellschaft und der kapitalistischen Ökonomie anknüpfende Staatstheorie könne nicht mehr zustande bringen als vulgärlinke Vorstellungen. Sie sehen den Staat als das direkte Instrument der Herrschenden („Agentur der Bourgeoisie“) an oder als Apparat, der mit Gewalt die unteren Klassen niederhalte. Foucault bleibt gegenfixiert auf das, was in der Sowjetunion, der DDR und von der Führung der KP Frankreichs als Marxismus verstanden wurde. Von den Fortschritten, die seit Paschukanis (1929)83 und vor allem mit der westdeutschen „Staatsableitungsdebatte“ der 1970er Jahre erzielt wurden, haben Foucault und der Foucault-Ismus keine Notiz genommen.84 Diese Ausblendung sowie die Gegenfixierung auf das skizzierte unterkomplexe linke Staatsverständnis sind konstitutiv für die Akzeptanz von Foucaults Theorie über das Regieren in der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Angesichts dessen wird es erforderlich, in der gebotenen Kürze einige Essentials der Analyse des Staates in der modernen bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie zu vergegenwärtigen.

    Dr. Hans Kasten-diek
    Bernhard Blanke

    Die für die bürgerliche Gesellschaft und die kapitalistische Ökonomie charakteristische Trennung zwischen ökonomischer Macht und politischer Herrschaft wurde ebenso analysiert wie der bürgerliche Staat als Rechtsstaat (Vgl. z. N. Blanke, Jürgens, Kastendiek 19750z, Tuschling 1976A).
    Im Unterschied zu Foucault, der sich wenig für das Recht in der bürgerlichen Gesellschaft interessiert, arbeiteten die genannten Autoren die spezifische Differenz dieses Rechts gegenüber der feudalen Gesellschaft heraus: Rechtlosigkeit i. U. zum Recht als Ordnung der Vorrechte, Trennung zwischen Person und Sache sowie Unabhängigkeit der Justiz.

    Helmut Willke

    In der bürgerlichen Gesellschaft vollzieht sich die gesellschaftliche Arbeit in der Form unabhängiger Privatarbeiten. Die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft verfolgen ihre partikularen bzw. eigennützigen Interessen und bedürfen einer Instanz, die für die allgemeinen Bedingungen der Geschäfte sorgt. Die Marktwirtschaft kann von sich aus bestimmte Güter nicht hervorbringen. Sie sind erstens „unteilbar und nichtexkludierend, wie etwa ein Leuchtturm, der für alle Schiffe leuchtet, oder die nationale Verteidigungsbereitschaft durch eine Armee“ (Willke 1997B, 145).
    Zweitens handelt es sich um Güter, deren „Konsum nicht rivalisierend ist, so dass der Konsum des Gutes durch eine Person den Konsum durch andere Personen weder ausschließt noch mindert: gute Luftqualität oder Genuss eine Nationalparks oder die Nutzung eines Telefonnetzes“ (Ebd.).
    Drittens handelt es sich um Güter, deren Konsum „nicht zurückweisbar ist“.

    „Sie müssen von allen konsumiert werden, ob sie wollen oder nicht“ (Ebd.).

    Der Staat hat eine „besondere Existenz neben und außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft“ (MEW0n 3, 62). Er nimmt die gemeinsamen Anliegen der ökonomischen Akteure wahr, deren Interessen häufig in Konkurrenz und Gegensatz zueinander stehen. Wie der Staat diese gemeinsamen Anliegen fördert, ist nicht unabhängig von den Verhältnissen, die ihm zugrunde liegen. Zwar sind alle Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft am Vorhandensein des Rechts interessiert. Sie wollen, dass sich alle anderen an es halten, neigen aus ihren partikularen Interessen aber selbst dazu, Rechtsvorgaben zu umgehen. Ego möchte Alter übervorteilen. Nur insofern Ego will, das Alter sich an den Tausch von Waren gleichen Werts hält, ist Ego am Recht und an dessen Durchsetzung interessiert. Die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft brauchen eine öffentliche Gewalt, „d. h. eine Gewalt, die keinem im Besonderen gehört, über allem steht und sich an alle richtet“ (Paschukanis 197083a, 126). Im Mittelalter existierte noch keine Scheidung zwischen privatem und öffentlichem Recht.

    „Die öffentlichen Rechte des Feudalherrn gegenüber seinem Bauern waren zugleich seine Rechte als Privatbesitzer, während seine privaten Rechte im Gegenteil, wenn man will, als politische, d. h. öffentliche Rechte ausgelegt werden können“ (Ebd., 116)

    Das Allgemeinwohl der bürgerlichen Gesellschaft orientiert sich an einem Reichtum, der v. a. durch die Orientierung der Wirtschaftsakteure an ihrem jeweiligen Privatinteresse zustande kommt. Die Aktivitäten des bürgerlichen Staats richten sich daran aus, den Umgang der Eigentümer von Arbeitskraft, Kapital und Boden mit diesen Quellen ihres Einkommens dahingehend zu fördern, dass „die Wirtschaft“ floriert und alle ihren Nutzen jeweils nach Maßgabe des von ihnen eingesetzten „Produktionsfaktors“ mehren können.

    „Das Recht tritt bald als Prinzip der gesellschaftlichen Organisation, bald als Mittel auf,, damit sich die Individuen ‚in der Gesellschaft absondern‘ können“
    (Paschukanis 197083a, 73)

    Das Privateigentum gilt in der bürgerlichen Gesellschaft als zentrale Teilmenge eines hohen Gutes, der „allgemeinen Handlungsfreiheit„.

    „Das Grundgesetz […] setzt darauf, dass die wesentlichen wirtschaftlichen Entscheidungen nicht zentral vom Staat, sondern dezentral von den einzelnen Wirtschaftssubjekten getroffen werden.“

    Joachim Detjen

    Die Verfassung gewährleistet „autonomes Wirtschaften und autonomes Verfügen über Wirtschaftsgüter“ (Detjen 2009C, 97 f.).

    „Die Garantie des Eigentums bedeutet, dass sich die Wirtschaftsgüter in der Verfügung Privater befinden“
    (Ebd., 100)

    Das Bundesverfassungsgericht wertet das Eigentumsrecht als

    „ein elementares Grundrecht, das in einem inneren Zusammenhang mit der Garantie der persönlichen Freiheit steht.“

    Es diene dazu, dem Einzelnen

    „einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich sicherzustellen und ihm damit eine eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens zu ermöglichen“
    (BVerfGE 24, 267 [389]).85

    Die öffentliche Gewalt in der modernen bürgerlichen Gesellschaft ist in Bezug auf die Gestaltung der Ökonomie begrenzt. Weite Teile des Wirtschaftens bleiben dem unmittelbaren staatlichen Zugriff entzogen. Es gilt, die Freiheit und Eigeninitiative der privatwirtschaftlichen Akteure zu fördern, sich mit ihrem Eigentum an Geld oder Arbeitskraft in der Konkurrenz zu bewähren. Staatliches Handeln wendet sich in der bürgerlichen Gesellschaft zugleich gegen „Übertreibungen“ bei der Verfolgung von Interessen der Eigentümer von Arbeitskraft, von Kapital sowie von Grund und Boden, die zulasten des Zusammenspiels der drei Produktionsfaktoren gehen. Diese antagonistische Kooperation orientiert sich an der Vergrößerung desjenigen Reichtums, der in einer bürgerlichen Gesellschaft maßgeblich ist.
    In der bürgerlichen Gesellschaft haben deren Mitglieder die Freiheit, ihren Zwecken nachzugehen. Über die faktische Ausstattung der Individuen mit den Mitteln dafür, ihre Zwecke verfolgen zu können, ist damit nichts gesagt. Der bürgerlich verstandenen Freiheit fehlt in ihrem Selbstverständnis dadurch nichts. Der

    Gewährleistungsgegenstand der grundgesetzlichen Freiheitsgarantie ist das reine ‚Wollen-Dürfen‘, die bloße Möglichkeit, seinen Interessen nachgehen zu können, während umgekehrt die Verfügung über die sachlichen Voraussetzungen der Verwirklichung des Willens, also das ‚Haben‘, jenseits des Gewährleistungshorizontes der Freiheit fällt“ (Krölls 2009D, 19)

    Die für den modernen Kapitalismus zentralen Märkte werden einerseits begrüßt und vorausgesetzt als ökonomische Grundlage der marktwirtschaftlichen Gesellschaft. Andererseits sollen die von den Märkten ausgehenden negativen Effekte korrigiert sowie kompensiert und – soweit unter diesen Voraussetzungen möglich und erforderlich – das auf den Märkten nicht befriedigend Angebotene zur Verfügung gestellt werden. Diese undankbaren Rollen des Ausfallbürgen und Reparaturbetriebs, des Lückenbüßers und Schadensentsorgers bei Weiterbestehen der Problemursachen sorgen dafür, dass zum Marktversagen ein Staatsversagen hinzutritt. Der Staat in der bürgerlichen Gesellschaft wird für solche Voraussetzungen und für diejenige Folgenbearbeitung zuständig, die die kapitalistische Ökonomie aus sich heraus nicht leisten kann, derer sie aber bedarf. Die Notwendigkeit, die dafür notwendigen finanziellen Mittel aufzubieten, und die damit verbundenen Nachteile durch die Besteuerung sorgen für Konflikte.

    Katharina Rutschky und Margaret Wirth

    Freiheitsgrade weist das Handeln öffentlicher Stellen (public authorities) insofern auf, als es verschiedene Einschätzungen geben kann, was ökonomisch und politisch förderlich ist, nicht nur aufgrund der Prognoseprobleme, sondern auch, weil „das“ einheitliche Verwertungsinteresse sozial nicht existiert, sondern ein „in sich widersprüchliches Konglomerat von Einzelinteressen“ vorliegt (Wirth 1973E, 38). Die Kapitale stehen in Konkurrenz zueinander. Es existieren verschiedene „Kapitalfraktionen“ (z.B. Exportkapital, für die Binnennachfrage produzierendes Kapital, an Staatsaufträgen orientierte Kapitale). Im Unterschied zu agitatorischen Klischees ist in einer soliden Analyse der bürgerlichen Gesellschaft von „dem“ Interesse „der Kapitalistenklasse“ nur in Bezug auf relativ seltene Fälle die Rede. Es handelt sich um Situationen, in denen die Kapitaleigentümer ihre gemeinsamen Interessen grundlegend bedroht sehen. Die kapitalistische Ökonomie ist ein naturwüchsiger Prozeß. Von „den Superreichen“ wird er nicht gelenkt. Zur Auseinandersetzung mit den weit verbreiteten Thesen, die kapitalistische Ökonomie sei durch die autokratische Macht der Eliten, der Monopole oder des Finanzkapitals charakterisiert, vgl. Creydt 2019bF.
    Dass das für die kapitalistische Ökonomie Erforderliche vom Staat tatsächlich geleistet wird, ist unsicher. Seine Maßnahmen bleiben umstritten, über ihre Angemessenheit gibt es ständig neue Kontroversen. Die Versuche, Einfluss auszuüben, um bestimmte Maßnahmen durchzusetzen, sind nicht zu verwechseln mit einem Subjekt, das die kapitalistische Ökonomie steuert. Die Vorstellung des Staats als „Instrument“ „der Herrschenden“ setzt zudem voraus, dass letztere über zutreffende Voraussagen der wirtschaftlichen Entwicklung verfügen. Die Prognosen von Wirtschaftsforschungsinstituten zeigen bislang, zuletzt markant bei der Krise 2008/2009 Konjunkturelle Einbrüche lassen sich kaum mit Sicherheit vorhersagen.

    „Da die Richtung der Gesamtreproduktion nicht bekannt ist, können die staatlichen Maßnahmen also nur reaktiv a posteriori, im trial-and-error Verfahren versuchen, bestehende Ungleichgewichte wieder auszugleichen. Diese Ausgleichung nimmt notwendig die Form der Gewährung von Vorteilen für einzelne Gruppen an; damit entstehen mit jeder Krise Konflikte darüber, auf wessen Kosten sie zu lösen sei. […] Ebenso, wie der Unternehmer am Markt vorbei produzieren kann, weil seine Informationen nicht ausreichen oder sich die Verkaufsbedingungen änderten, ebenso kann der Staat an den notwendigen Reproduktionsbedingungen vorbei produzieren“
    (Wirth 1973E, 38 f.)

    Während Planung im einzelnen kapitalistischen Betrieb die verschiedenen Optionen noch auf eine dritte Größe, die Gewinnmaximierung, zu beziehen vermag, fällt auf der politischen Ebene des nationalen Gesamtreproduktionsprozesses eine entsprechende Größe aus, de die verschiedenen Aufgaben vergleichbar macht. Schon ökonomisch lässt sich nicht klären, sich eine Schule oder eine Straße mehr lohnt. Insofern kann es sich nicht um „ein in sich konsistentes System staatlicher Planung“ handeln. Vielmehr bildet „der vorfindliche, auf den ersten Blick chaotisch erscheinende Prozess der Entscheidungsfindung – partikularisiert in verschiedene Ministerien, ohne ausreichende Koordination, ohne gegenseitige Information, z. B. mit bewusster gegenseitiger Behinderung“ – genau die Bewegungsform, mit der „einigermaßen sichergestellt werden kann, dass genug Raum für die Berücksichtigung widersprüchlicher Interessen gelassen wird“
    (Ebd.E, 42 f.).
    Wirths Argumentation zeigt:

    Die gegenüber der deutschen „Staatsableitungsdebatte“ der 1970er Jahre beliebten Vorwürfe des Funktionalismus und der mangelnden Berücksichtigung von Konflikten innerhalb des Staates treffen angesichts des damaligen Problembewußtseins nicht pauschal zu. In derjenigen neueren Staatsdiskussion, die an der Analyse der bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie anknüpft, erscheint der Staat weder als monolithisches Subjekt noch als kontingente „bunt zusammengewürfelte Wirklichkeit“ (Foucault 2000a, 163).

    Wendy Brown

    Foucault referiert das Projekt des neueren US-Amerikanischen Neoliberalismus, auf staatliche Organisationen betriebswirtschaftliche Kriterien anzuwenden. Es sollen dann „ökonomische Metriken die Institutionen und Praktiken des Staats regieren“ (Brown 2015G, 77). Die „Marktwirtschaft“ habe nicht allein den Staat zu begrenzen („Laissez-faire„), sondern müsse „das Prinzip der inneren Regelung seiner ganzen Existenz und seines ganzen Handelns“ bilden (Foucault 2006a0m, 168). Foucault referiert diese Vorstellungen, ohne zu fragen, wo sie sich realisieren lassen und wo ihre Verwirklichung – ganz immanent gesehen – kontraproduktiv wirkt. Öffentliche Einrichtungen beschäftigen sich bekanntlich häufig mit Arbeiten und Diensten, die sich nicht unmittelbar „rechnen“ können. Deren Privatisierung (also die Übergabe an nach kapitalistischen Maßstäben rentable Betriebe) lässt sie unter Umständen teurer werden. (Ein Beispiel dafür stellen die im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hohen Kosten des Gesundheitswesens in den USA dar.) Foucault klammert die damit verbundenen Widersprüche aus: Einerseits eröffnet die Privatisierung neue Anlagesphären für das Kapital. Andererseits können Konsumenten weniger für die Produkte anderer Branchen ausgeben, wenn die Ausgaben für ihre Gesundheit so hoch sind wie in den USA.

    Biebricher (2008H, 320) würdigt als bedeutsamen Fortschritt, dass Foucault den Staat einer „radikalen Entsubstantialisierung“ unterzieht, „ist er doch v. a. als Effekt von bestimmten gouvernementalen Praktiken zu begreifen“ (Ebd.).
    Diese Auffassung blendet die skizzierten Widersprüche aus, in denen das Regieren in einer bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie steht. Wenn Biebricher das von Foucault gezeigte „historisch variable und äußerst prekäre Konglomerat von Praktiken des Regierens“ (ebd.) bespricht, dann bleibt er erstens an der Oberfläche und der Selbstbezüglichkeit von Politik verhaftet:

    „Staatlichkeit“ sei „ein von Kontingenz und dem erratischen Spiel von Macht und Widerstand geprägter Prozess“ (Ebd.).

    Dome-nico Losurdo
    Niklas Baschek

    Zweitens tut Biebricher so, als sei „eine hegelianisch-metaphysische Überhöhung des Staates“ weit verbreitet (Ebd.). Aus der Ablehnung dieses Klischees (zur Kritik des Konstrukts vgl. Losurdo 1989K, 1993L) verfällt Biebricher prompt in das entgegengesetzte Extrem („Kontingenz„). (Zur Kritik an Hoffnungen, die gern mit der Kontingenz verbunden werden, vgl. Baschek 2014M) Schon der (seinerzeit ebenfalls in der ‚Prokla‚ erschienene) Artikel von Margaret Wirth (1973E) analysierte just die von Biebricher nur benannten Phänomene. Biebricher (2008H, 310) hebt lobend an Foucaults Vorlesungen über Gouvernementalität hervor:

    „Anstelle des ‚Warum?‘ […] interessiert sich die Analytik des Staates vor allem für Fragen des ‚Wie‘ “

    Susanne Maurer

    Maurer (2006N) begrüßt es, dass Foucault die „Selbstgestaltungszumutungen“ und „die Technik“ des Regierens untersuche „unabhängig von ihrem Inhalt“. Beide Autoren zeigen kein Problembewußtsein dafür, was unausweichlich ausgeblendet werden muss, wenn das „Wie“ getrennt vom „Warum“, die „Techniken“ „unabhängig von ihrem Inhalt“ und das know how ohne das know why untersucht werden.
    Foucault und seine Anhänger beziehen das „Regieren“ nicht auf das Verhältnis zwischen den Interessengegensätzen unter den Mitliedern der bürgerlichen Gesellschaft und den ihnen gemeinsamen Interessen am Erfolg der Wirtschaftsnation und den dafür notwendigen Bedingungen. Das damit benannte Bezugsproblem staatlichen Handelns existiert für den Foucault-Ismus nicht. Insofern löst er das „Problem“Regieren“ auf in einen „von Kontingenz und dem erratischen Beispiel von Macht und Widerstand geprägten Prozess“ (Biebricher 2008H, 320) oder in eine zusammengewürfelte Wirklichkeit“ (Foucault 20060a, 163).

    Michael R. Krätke

    Dass der moderne bürgerliche Staat Steuerstaat ist (vl. für dessen Analyse Krätke 1984P), darin besteht ein weiterer von Foucault ausgeklammerter Zusammenhang zwischen der kapitalistischen Ökonomie und dem bürgerlichen Staat. Auch hier finden wir in der neueren Staatsdiskussion, die an die Analyse der bürgerlichen Gesellschaft und der kapitalistischen Ökonomie anknüpft, eine Kritik an unhistorischen Universalien. Sie unterscheidet den modernen bürgerlichen Staat von Staaten, die die für die Gesellschaft insgesamt erforderlichen öffentlichen Arbeiten direkt durchführen – wie bspw. das alte China. Der bürgerliche Staat ist im Vergleich dazu ein von der direkten Aneignung des Mehrwerts enteigneter Staat. Er leitet selten selbst Produktionsprozesse. Den Großteil seiner Einnahmen entnimmt er nicht einer von ihm geführten Wirtschaft. Der bürgerliche Staat ist durch die Vergabe von für ihn erforderlichen Arbeiten an private Firmen mit deren Verwertungszwängen konfrontiert.

    „Der Staat kann lediglich leisten, was er sich auch leisten kann“
    (Schandl 20030v, 6).

    Emanzipiert sich das Handeln der „öffentlichen Hand“ zu weit von den Erfordernissen der Kapital-Akkumulation, so sinken die Steuereinnahmen. Staatliche Stellen und öffentliche Einrichtungen sind schon aus Motiven ihrer Finanzierung an einer florierenden kapitalistischen Ökonomie interessiert.

    Auch in seiner Wirtschaftspolitik handelt der Staat nicht aus eigener Machtvollkommenheit. Er kann nicht oder nur selten unmittelbar als Souverän agieren. Meist vermag er nur auf vermittelte Weise einzugreifen und bestimmte Potenziale der Wirtschaft zu stärken – in der Hoffnung, dass in der Krise die Akteure Vertrauen in das zukünftige Florieren der Wirtschaft gewinnen. Markt- und Ökonomievertrauen kann der Staat nur verstärken, indem er Mittel für aktive Beschäftigungs- und Wirtschaftspolitik einzusetzen vermag und ist dafür abhängig von den wirtschaftlichen Potenzialen. Der Staat kann nur darauf bauen, dass er katalysatorisch Dynamiken verstärkt bzw. „anschiebt“, über die er selbst nicht verfügt und die sich seiner direkten Steuerung entziehen.

    Foucault hält es für möglich, dass der Sozialstaat

    „jene berühmte Unterscheidung, die die abendländische Gouvernementalität so lange zwischen den guten und den schlechten Armen ziehen wollte, zwischen jenen, die absichtlich nicht arbeiten und jenen, die aus unabsichtlichen Gründen ohne Arbeit sind, keine große Rolle mehr spielt“
    (Foucault 2006a0m, 286)

    Man interessiert sich nun nicht mehr für die Gründe, warum jemand „unter der Schwelle liegt“ (Ebd.). Foucault spricht von einer – im Vergleich zu „einem System, das sich an der Vollbeschäftigung ausrichten würde“, – „tatsächlich sehr liberalen und viel weniger bürokratischen und disziplinierenden Weise“, in der „die unterstützte Bevölkerung“ „unterstützt“ werde, „und auf diese Weise kann diese neoliberale Politik funktionieren“ (Ebd., 290).
    Empirisch sind diese Thesen fragwürdig. Als in der Bundesrepublik (nahezu) Vollbeschäftigung herrschte, in der ersten Hälfte der 1970er Jahre, waren die Regelungen gegenüber Arbeitslosen viel weniger bürokratisch und disziplinierend als in der Zeit anhaltend hoher Arbeitslosigkeit. Sie wurde zum Anlass für die restriktiven Hartz-IV-Gesetze. Die hier relativierten Mutmaßungen von Foucault über den Umgang eines „neoliberalen“ Sozialstaats mit seinen Klienten passen zu seinen ebenso wohlmeinenden Vorstellungen von den Leistungsangeboten für die „Sicherheit“ im Rahmen der modernen Gouvernementalität.

    Eine Gruppe erfahrener Ingenieure kämpfte in den 1970er Jahren bei Lucas Aerospace UK um die Rettung ihres Lebensunterhalts.

    Analysen der bürgerlichen Formen des Sozialstaats untersuchen dessen qualitative Grenzen. Diese bestehen in der Individualisierung von Problemen, der Monetarisierung und der nachträglichen Kompensation, Arbeitslose bekommen einen beschränkten monetaren Ausgleich für den Ausfall von Kaufkraft, nicht aber eine die Individuen befriedigende und gesellschaftlich sinnvolle Arbeit. Senioren enthalten eine Rente. Ausgeklammert bleibt die Veränderung jener Ursachen im Erwerbs- und Geschäftsleben, die das Alter zu einer häufig erschöpften und menschlich sinnentleerten Existenz machen. Dem Gesundheitswesen in der modernen bürgerlichen Gesellschaft ist die Verkehrung eigen, im individuellen Eintreten für Gesundheit und in der individuellen Verantwortung für sie die Hauptursache zu sehen (vgl. Creydt 2006Q).86
    Das schwächt die Aufmerksamkeit für die gesellschaftlichen Ursachen von Erkrankungen.

    Für das Niveau von Foucaults Auseinandersetzung ist folgende Passage charakteristisch:

    Marx

    „Man sagt oft, dass es bei Marx – nun, die Leute, die ihn kennen, sagen das – keine Analyse der Macht gibt, dass die Theorie des Staats ungenügend ist usw. und dass es an der Zeit sei, eine solche zu entwickeln. Aber ist es am Ende wirklich so wichtig, dass man eine Staatstheorie hat?
    Die Engländer sind schließlich gar nicht so schlecht dabei gefahren, und ihre Regierung hat zumindest bis in die letzten Jahre einigermaßen gut auch ohne Staatstheorie funktioniert“ (Foucault 2006a, 133).87

    Foucault wechselt von der Frage: „Ist eine Staatstheorie für die Analyse des gesellschaftlichen Geschehens erforderlich?“ zur Frage „Ist eine Staatstheorie für das faktische Regieren nützlich?“
    Foucault ersetzt das zur Debatte stehende Thema stillschweigend durch ein anderes und bringt die Zuhörer seiner Vorlesung auf eine falsche Fährte.

    Rudolf Hilfer-ding
    Antonio Negri
    Herbert Kitschelt

    Der Politik oder dem Regieren kommen keine beliebigen Freiheitsgrade gegenüber der Ökonomie zu. Foucaults These von der Zentralität des Regierens ähnelt in einem zentralen Punkt Theorien, die einen staatlich gelenkten Kapitalismus annehmen, ihn befürworten oder bekämpfen („Staatsmonopolistischer Kapitalismus„, „Organisierter Kapitalismus“ [Hilferding], „Planstaat“ (Negri]). Solche Theorien stützen sich auf die steigende Staatsquote, auf die staatlichen Eingriffe zur Optimierung oder zur subsidiären Stützung der Verwertungsbedingungen von Kapitalen sowie auf die politische Beschränkung ihrer kurzfristigen Maximierungsinteressen, die die langfristige Existenz der Geschäftsweise sichert. (Vgl. bspw. die Begrenzung des Arbeitstags.) Die benannten Theorien deuten diese Phänomene als eine solche politische Steuerung, die dominant ist gegenüber der systemischen Eigenlogik der kapitalistischen Ökonomie bzw. diese faktisch weitgehend verabschiedet oder auf eine untergeordnete Rolle beschränkt.
    Im Unterschied dazu haben wir es mit einer „formalen Politisierung“ zu tun, die „wirtschaftliche Aufgaben zwar politisch-administrativ behandelt, ohne jedoch die Rationalitätskriterien privaten Marktverhaltens anzutasten“ (Kitschelt 1985R, 191). Wer diese formale Politisierung missversteht, kommt leicht zu überzogenen Annahmen über die Reichweite der Politik bzw. des „Regierens“.

    –> (3)

    Quellenangaben und Endnoten:

    Susanne Weber
    Herbert von Beckerath
    Friedrich
    Engels

    A Tuschling, Bernhard (1976): Rechtsform und Produktionsverhältnisse. Frankfurt a. M.
    B Willke, Helmut 1997: Supervision des Staates. Frankfurt M.
    C Detjen, Joachim 2009: Verfassungswerte. Welche Werte bestimmen das Grundgesetz? Bonn.
    D Krölls, Albert (2009): Das Grundgesetz – ein Grund zum Feiern? Hamburg.
    E Wirth, Margaret (1973): Zur Kritik der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus. In: Prokla H. 8/9, Berlin.
    F Creydt, Meinhard (2019b): Krysmanskis Geschichten von tausend und einer Jacht. Zentrale Fehler regressiver Kapitalismuskritik. In: Kritiknetz – Zeitschrift für Kritische Theorie der Gesellschaft, 7. 8. 2019.
    G Brown, Wendy 2015: Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört. Berlin
    H Biebricher, Thomas 2008: Staatlichkeit, Gouvernementalität und Neoliberalismus. In: Prokla, 38. Jg., H. 2.
    K Losurdo, Domenico 1989: Hegel und das deutsche Erbe, Köln.
    L Losurdo, Domenico 1993: Zwischen Hegel und Bismarck, Berlin.
    M Baschek, Nicklas 2014: „Engagement ist Mangel an Talent.“ Zur Entkernung von Kritik in der Kritischen Systemtheorie und dem Postfundamentalismus. In: Leviathan, 42. Jg., H. 4.
    N Maurer, Susanne 2006: Gouvenementalität ‚von unten her‘ denken. In: Dies.; Susanne Weber (Hg.): Gouvernementalität und Erziehungswissenschaft. Wiesbaden.
    P Krätke, Michael 1984: Kritik der Staatsfinanzen. Zur Politischen Ökonomie des Steuerstaats. Hamburg.
    Q Creydt Meinhard 2006; Selbstverantwortung als Ideologie. Die Medizin des Gesundheitswesens. In: Forum Wissenschaft, H. 1, Marburg.
    R Kitschelt, Herbert 1985: Materiale Politisierung der Produktion. In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 14.
    0a Foucault, Michel [2006]: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Frankfurt M.
    0m Foucault, Michel [2006a]: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Frankfurt M.
    0n MEW: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Berlin (DDR) 1956 ff.
    0o Biebricher, Thomas; Vogelmann, Frieder (Ed.) 2017: The Birth of Austerity. German Ordoliberalism and Contemporary Neoliberalism. London, New York.
    0p Böhm, Andreas; Martin, Dirk 2018: Foucaultscher Begriffsrealismus. In: Linksnetz Rezension 19. 10. 2018 http: // wp.links-netz.de/?p=14
    0q Hesse, Jan-Ottmar 2006: „Der Mensch des Unternehmens und der Produktion“ – Foucaults Sicht auf den Ordoliberalismus und die ‚Soziale Marktwirtschaft‘. In: Zeithistorische Forschungen, Jg. 3.
    0r Manow, Phillip 2001: Ordoliberalismus als ökonomische Ordnungstheologie. In: Leviathan, Jg. 29, H. 2.
    0s Eucken, Walter 1952: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen.
    0t Bonhoeffer-Festschrift 1979In: In der Stunde Null. Die Denkschrift des Freiburger Bonhoeffer-Kreises. Tübingen.
    0u Böhm, Franz 1960: Die Idee des ORDO im Denken Walter Euckens. In: ORDO, Jg. 3.
    0v Schandl, Franz 2019: Politik. Zur Kritik eines bürgerlichen Formprinzips. In: Streifzüge, Nr. 75. Wien.
    0w Müller, Eckart 1997: Evangelische Wirtschaftsethik und Soziale Marktwirtschaft. Neukirchen.
    0x Röpke, Wilhelm 1953: Abbau des kollektiven Denkens. In: Der Volkswirt, Jg. 7, Nr. 51/52.
    0y Altvater, Elmar 1975: Wertgesetz und Monopolmacht. In: Argument-Sonderbd, Nr. 6. Zur Theorie des Monopols. Berlin.
    0z Blanke, Bernhard; Jürgens, Ulrich; Kastendiek, Hans (1975): Kritik der politischen Wissenschaft. Frankfurt a. M.
    79 „Das Wachstum gemeinsamer Interessen, wie sie nationale Arbeitsteilung und die Vielfältigkeit des Inlandsverkehrs mit sich bringen, […] (ist – Verf.) die Basis, auf der allein ein einheitliches Verwaltungssystem und eine allgemeine Gesetzgebung geschaffen werden kann“ (MEW0n 10, 440).
    „Die juristischen Formen, worin diese ökonomischen Transaktionen als Willenshandlungen der Beteiligten, als Äußerung ihres gemeinsamen Willens und als Einzelpartei gegenüber von Staats wegen erzwingbare Kontrakte erscheinen, können als bloße Formen diesen Inhalt selbst nicht bestimmen. Sie drücken ihn nur aus“ (MEW0n 25, 352).
    „Die gesetzgebende Gewalt macht das Gesetz nicht, sie entdeckt und formuliert es nur“ (MEW0n 1, 260).
    80 Auf Anregung von Dietrich Bonhoeffer wurde von einem Freiburger Arbeitskreis in den Jahren 1942 und 1943 eine Denkschrift zur Gestaltung einer Nachkriegsordnung verfasst. An diesem Arbeitskreis nahmen Ordoliberale wie Eucken, Böhm und von Beckenrath teil.
    81 Ebenso Müller-Armack (194881a, 65): „Unter dem Gesichtspunkte der Freiheit dürfte die Marktwirtschaft auch dann noch vorzuziehen sein, wenn ihre ökonomischen Leistungen geringer wären als die der Wirtschaftslenkung.“
    81a Müller-Armack, Alfred 1948: Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft. 2. Aufl. Hamburg.

    Guen-ther Sand-leben
    Ernest Mandel

    82 Kartelle – als Vorform von Monopolen – werden häufig von innen aufgesprengt. Die im Kartell zusammengeschlossenen Kapitale konkurrieren untereinander um Anteile an der Produktionsmenge und an Erlösen.
    „Es genügt, dass technische Verbesserungen, Erfindungen oder eine Ausweitung der Kapazität Veränderungen im Kräfteverhältnis dieser Firmen hervorrufen, damit diejenige, die sich in der Konkurrenz am stärksten fühlt, das Abkommen in der Absicht bricht, einen höheren Marktanteil zu erobern“
    (Mandel 197282a, 546).
    Die Abschottung des Monopolisten gegen den Zustrom anderen Kapitals in seine Produktionssphäre ist auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten.
    „Selbst in der Ölwirtschaft – wo heute gewaltige Summen für den Neueinstieg erforderlich sind – gibt es kein umfassendes und weltweit wirkendes Kartell. Es kommen immer wieder neue Ölförderer hinzu, und es gibt bei der Exploitation neuer Ölfelder, bei der Nutzung neuer Ölfördertechniken usw. einen erbitterten Konkurrenzkampf“ (Sandleben, Schäfer 201382b, 55).
    82a Mandel, Ernest 1972: Marxistische Wirtschaftstheorie. Bd. 2. Frankfurt M.
    82b Sandleben, Guenther; Schäfer, Jakob 2013: Apologie von links. Zur Kritik gängiger linker Krisentheorien. Köln.
    83 „Warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“
    (Paschukanis 197083a, 120).
    In vielen eher agitatorischen linken Formulierungen sei „das Recht als Verhältnis von den gesellschaftlichen Verhältnissen überhaupt nicht zu unterscheiden.“ Eine solche Vorstellung „deckt den in juristischen Formen beschlossenen Klasseninhalt auf, erklärt uns aber nicht, warum dieser Inhalt eine solche Form annimmt“ (Ebd, 58 f.)
    83a Paschukanis, Eugen B. 1929: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. Wien, Berlin.

    Wolf-gang Abend-roth
    Nicos Poulan-tzas
    Ulrich Jür-gens
    John Hollo-way
    Ingo Elbe

    84 Zur westdeutschen „Staatsableitungsdebatte“ in den 1970er Jahren wurde zu Recht festgestellt:
    „Ihre Entwicklungsthesen und Restriktionsanalysen lagen – aus heutiger Sicht – gar nicht so schlecht. Viele Schlussfolgerungen wurden von den damaligen Reformern später selbst gezogen. Im Gegensatz zur Zeitströmung wurde Anfang der siebziger Jahre auf die Schranken für die Planbarkeit von Politik und die politische Steuerbarkeit sozialer Prozesse hingewiesen“ (Jürgens 199084a, 15).
    Darüber hinaus bestand „die Bedeutung dieser Debatte insgesamt darin, dass sie eine Grundlage lieferte, um vom ökonomischen Determinismus und Funktionalismus loszukommen.“ Im Unterschied zum Basis-Überbau-Modell wurde nun gefragt, „nach der Form des Staates“ und danach, „warum gesellschaftliche Verhältnisse sich zur scheinbar autonomen Form des Staates verfestigen“ (Holloway 199384b, 16). Ingo Elbe (200884c) und Soichiro Sumida (201784d) zeigen, dass Nicos Poulantzas hinter dem Problembewußtsein und den Erkenntnissen dieser Diskussion zurückbleibt.
    Krölls (198884e) legt Entsprechendes in Bezug auf Abendroth dar, Ellen M. Wood (201084f, 241-266) in Bezug auf Ideologien über die „Zivilgesellschaft„. )
    84a Jürgens, Ulrich (1990): Entwicklungslinien der staatstheoretischen Diskussion seit den siebziger Jahren. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beiträge von ‚Das Parlament‘ vom 23.2.
    84b Holloway, John (1993): Reform des Staates: Globales Kapital und nationaler Staat. In: Prokla H. 90

    Pia Paust-Lassen
    Urs Lindner
    Jörg Nowak

    84c Elbe, Ingo 2008: Rechtsform und Produktionsverhältnisse. Anmerkungen zu einem blinden Fleck in der Gesellschaftsanalyse von Nicos Poulantzas. In: Urs Lindner, Jörg Nowak, Pia Paust-Lassen (Hg.): Philosophieren unter anderen. Münster.

    Soi-chiro Su-mida
    Ellen Meiksins Wood
    Albert Krölls
    Peter Badura

    84d Sumida, Soichiro 2017: Die Zusammenfassung des bürgerlichen Staats in der Staatsform. In: Marx-Engels-Jahrbuch 2017/2018. Berlin.
    84e Krölls, Albert (1988): Das Grundgesetz als Verfassung des staatlich organisierten Kapitalismus. Wiesbaden
    84f Wood, Ellen M 2010: Demokratie contra Kapitalismus. Köln.
    85 Entsprechende Auskünfte über das Recht in der modernen bürgerlichen Gesellschaft sind Legion.
    „Das Privateigentum erscheint als die reale Grundlage der individuellen Unabhängigkeit und damit der Freiheit“ (Ramm 197485a, 50).
    „Der Staatszweck des bürgerlichen Rechtsstaates, Freiheit und Eigentum zu bewahren, ist gleichbedeutend mit dem Rechtszweck des Staates“
    (Badura 196785b, 52)
    85a Ramm, Thilo 1974: Einführung in das Privatrecht. Allgemeiner Teil des BGB. Bd. 1, München.
    85b Badura, Peter 1967: Das Verwaltungsrecht des liberalen Rechtsstaates. Göttingen.
    86 Die Vorstellung, Gesundheit von Willen und Anstrengung des Einzelnen abhängig zu machen, ist nicht nur „ein massenpsychologisches Sedativum, das von krankmachenden sozialen Bedingungen ablenken soll, sie enthält auch die tückische Philosophie: ‚Wer krank und schwach ist, hat selber schuld‘. Eine Bronchitis? Natürlich, zu viel geraucht! Krebs? Gewiss zu leichtsinnig gelebt! Ein Magengeschwür? Zweifellos zu viel Ärger heruntergeschluckt! Depressionen? Offensichtlich zu wenig Sport getrieben“ (Bopp 198786a, 62) Gerade weil Gesundheit auch vom Verhalten des Einzelnen abhängt, liegt es nahe, diesen eigenen ‚Anteil‘ zu übertreiben. „Die Vorstellung, die Gesundheit sei individuell herstellbar wie eine Gartenlaube, zwingt ihre Anhänger in eine endlose Spirale der Unsicherheit. Je mehr Aufmerksamkeit die Anhänger jener Gemeinde ihrem Körper zuwenden, desto mehr Gefährdungen entdecken sie. Ständig leben sie in der Spannung, ob sie nicht diese oder jene Maßnahme vernachlässigen würden. Es ist wahrscheinlich, dass die ständige Beschäftigung mit der Unversehrtheit des Körpers dem Wohlbefinden und der Gesundheit mehr schadet als nützt“ (Ebd., 63)
    86a Bopp, Jörg 1987: Die Tyrannei des Körpers. In: Kursbuch Nr. 88, Berlin.
    87 Schärer zeigt in zwei Aufsätzen (200887a und prägnanter 200287b): Foucaults Wissen von der Analyse der kapitalistischen Ökonomie ist inhaltlich dürftig.
    87a Schärer, Alex 2008: Theoretisch keine Brüder: Foucault und Marx als Antagonisten. In: Prokla , Nr. 151, 38. Jg., H. 2.
    87b Schärer, Alex 2002: Täuschende Verwandtschaft. Foucaults Verhältnis zu Marx. In: Risse, Nr. 3. Zürich http://forvm.contexttxxi.org/tauschende-verwandtschaft.html

    Meinhard Creydt

    (Meinhard Creydt: „Gouvernmentalität“. in: Ders.: Der Foucault-Ismus – Analyse und Kritik einiger seiner zentralen Lehren, Kassel 2024, S. 159 – 202, hier: S. 167 – 182)

    * * *
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  • Zionismus und postkoloniale Kritik (2)

    Micha Brumlik
    2022

    < — (1)

    Theodor Herzl
    Achad Ha’am

    Somit wurzelte der Zionismus spätestens seit Theodor Herzl im Projekt der Gründung eines eigenen „Judenstaates“ – der nicht dasselbe wie ein jüdischer Staat ist – sowie dem vor allem von Herzls Zeitgenossen Achad Haam („einer aus dem Volke“) Ascher Ginsberg (1856-1927) postulierten Kulturzionismus. Dieser Kulturzionismus zielte darauf, dass die Juden sich vor allem als eine zerstreute Kulturnation begreifen sollten und nicht – wie das viele assimilierte Juden sahen – lediglich als eine monotheistische Konfession. Ob und wie beides – staatsgründender und kultureller Zionismus – in der Schaffung eines so von der Balfour-Deklaration 1917 versprochenen jüdischen Gemeinwesens auf dem Gebiet des damaligen osmanischen Reiches, in Palästina, gipfeln sollte, ist demgegenüber eine andere, höchst komplexe Frage. Denn anders als gemeinhin – nicht zuletzt im Nachkriegsdeutschland (West) – immer wieder angenommen, ist der Staat Israel zwar nach dem Holocaust, aber nicht wegen des Holocaust gegründet worden.

    Ber-nard Law Mont-gomery
    Erwin Rommel
    Klaus-Michael Mall-mann
    Ger-shom Goren-berg
    Tom Segev
    Martin Cüppers

    Tatsächlich siedelten Juden als Reaktion auf den europäischen Antisemitismus bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts in kleinen, allmählich wachsenden Gruppen in Palästina, zudem hätte jedoch auch eine zahlenmäßig sehr viel größere Immigration von Juden dorthin ihr Leben nicht retten können, wenn es der britischen Armee im Nahen Osten mit Feldmarschall Montgomery 1942 nicht gelungen wäre, bei El Alamein das deutsche Afrikakorps unter General Rommel zum Stehen zu bringen.
    In Palästina bereitete sich der dortige „Jischuv“ – also die jüdische Siedlungsgemeinschaft – schon darauf vor, sich auf dem Berg Karmel zu verschanzen, während die SS in Griechenland bereits die ersten fahrbaren Tötungsanstalten in Form von Gaswagen Probe fahren ließ (dazu Gorenberg 20210a sowie Segev 19930b; 67-81 sowie Mallmann/Cüppers 20060c).

    Hannah Szenes
    Stalin

    Nach der Schlacht von El Alamein war die Gefahr einer nationalsozialistischen Vernichtung der geplanten jüdischen Heimstätte allerdings gebannt; nicht wenige im wehrfähigen Alter stehende Männer und Frauen und Frauen des Jischuvs – unter ihnen die aus Ungarn stammende, nach Palästina ausgewanderte und 1943 mit dem Fallschirm über Ungarn abgesprungene, dort von der mit NS-Deutschland verbündeten ungarischen Polizei getötete Hannah Szenes – meldeten sich zur britischen Armee. Abgesehen von immer wieder neu ausbrechenden Reibereien mit den palästinensischen Arabern konnte sich die jüdische Bevölkerung Palästinas die letzten Jahre des Krieges dem Ausbau des Jischuvs widmen, der in die förmliche Gründung eines jüdischen Staates münden sollte.
    Daher war völkerrechtlich der im November 1947 von den Vereinten Nationen verabschiedete Teilungsplan für Palästina legitim, der einen am Vorabend des Kalten Krieges brodelnden Konfliktherd entschärfen sollte. Wenig bekannt ist in diesem Zusammenhang, dass dieser Teilungsplan niemals eine Mehrheit erhalten hätte, wenn nicht die damalige Sowjetunion unter Stalin sowie ihre Satelliten für diesen Teilungsplan gestimmt hätten – aus der Erwägung heraus, mit einem sozialistischen Staat Israel dem britischen Einfluß im Nahen Osten etwas entgegenzusetzen.

    Sabri Geries
    Benny Morris
    Ilan Pappe

    Dass mehrere arabische Armeen aus mehreren Ländern den Staat Israel nach Ausrufung seiner Unabhängigkeit im Mai 1948 völkerrechtswidrig angriffen, war das eine, dass Israel diesen Krieg nicht zuletzt deshalb gewonnen hat, weil es von der damals bereits sowjetisch beeinflußten Tschechoslowakei entscheidende Waffenhilfe erhielt, das andere. Gleichwohl bot dieser Verteidigungskrieg dem israelischen Staat nicht nur die Chance, ein zusammenhängendes Staatsgebiet zu erobern, sondern eben auch 700.000 palästinensische Araber zum Teil gezielt zu vertreiben (siehe Pappe 20070d und Morris 20080e), sich so ihres Eigentums an Böden, ihrer Ernten und Gebäude zu bemächtigen und all dies durch ein gesetzliches Rückkehrverbot für die vertriebenen und geflohenen arabischen Palästinenser zu beglaubigen, um das neue Eigentum jüdischen Neueinwanderern zuzuweisen (siehe Geries/Lobel 19700f: 95 f.).

    Für die Juden der vor allem europäischen Diaspora, die sechs Millionen Opfer zu beklagen hatten und eines seelischen Ausgleichs für die im Holocaust erfahrenen Traumata bedurften, fungierte die Entstehung und Gründung des Staates Israel wie ein Wunder nach dem biblischen Bild von Tod und Auferstehung. Die Beziehung zu und die Identifikation mit dem Staat Israel gilt – wenn auch in abnehmendem Maße – für heutige in der Diaspora lebende Juden, zumal wenn ihr religiöse Bildung nachlässt. Schon immer war das „Land Israel“ („Erez Israel„) für den jüdischen Glauben von unverzichtbarer Bedeutung, was allein daran deutlich wird, dass das auch synagogal zentrale „Achtzehnbittengebet“ (Auch „Achtzehngebet“ – Sluis u. a. 20050g: 231-242) in einem seiner Verse immer wieder um die Rückkehr Gottes auf den Zion bittet. Diese Formel wurde im 19. Jahrhundert im Reformjudentum gestrichen -. was aber dem rabbinischen Judentum im Kern nicht gerecht wird, debattierten doch schon die Rabbinen der späten Antike über das Verhältnis von gottverheißenem Land Israel und der Erfüllung der religiösen Pflichten. Sie waren uneins darüber, ob diese Pflichten nicht ohnehin ausschließlich im Land Israel angemessen erfüllt werden können bzw. ob diese angemessene Erfüllung nicht nur in der messianischen, endzeitlichen göttlichen Rückkehr auf den Zion möglich sei.

    Freilich hatten weder die spätantiken Rabbinen noch gar jene Menschen, die die biblischen Schriften verfassten, einen Begriff vom modernen, romantischen Begriff der Nation und ihres Staates, weshalb sich jeder Versuch, wie ihn etwa die israelische Siedlerbewegung seit 1967 unternimmt, verbietet, die Entstehung des Staates Israel in theologischen Kategorien zu fassen. Tatsächlich ist der Zionismus der typische Fall des vor allem im 19. Jahrhundert entstandenen romantischen Nationalismus, der bereits nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich überwunden schien, jedoch gegenwärtig als eine Abwehrbewegung gegen unterschiedliche Formen der politischen und vor allem ökonomischen Globalisierung wieder eine Renaissance erlebt.
    Was nun aber den unmittelbaren Anlass des Zionismus betrifft, nämlich Judenhass in all seinen Formen und nicht zuletzt mit der Gefährdung von Leib und Leben, so gilt trotz tödlicher Anschläge sowohl in den USA als auch in Deutschland (man denke nur an den Anschlag auf die Hallenser Synagoge), dass Leib und Leben von Jüdinnen und Juden in kaum einem anderen Land so gefährdet sind wie in Israel und den besetzten Gebieten. Bei alledem ist gleichwohl zu beachten, dass die Juden Israels und die Juden diasporischer Gemeinschaften in einem eigentümlich gebrochenem Verhältnis zueinanderstehen: Gilt doch vor allem aus theologischen Gründen nach wie vor „Kol Jissrael Chaverim“ (Ganz Israel ist einander Freund“), was nichts anderes bedeutet, als dass alle Mitglieder des jüdischen Volkes jedenfalls in moralischer, wenn schon nicht in politischer Hinsicht eine wechselseitige Verantwortungsgemeinschaft bilden. Andererseits ist nach wie vor – seit der Erfahrung des babylonischen Exils im sechsten Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung – gültig:

    „Suchet der Stadt Bestes“
    („Wa dirschu et shalom ha ir“),

    wie der Prophet der Diaspora Jeremias (29,7) Gottes Weisung für diesen Fall des erzwungenen Exils ausdrückt.

    David Ben-Gurion

    Auf jeden Fall gilt für die durch und durch moderne Bewegung des staatsbildenden Zionismus, dass jener Teil des Volkes, das sich die politische Form einer souveränen Nation gegeben hat, für sich und seine Existenzweise in letzter Hinsicht ausschließlich alleine verantwortlich ist und bleibt.
    Das aber heißt: Der Staat Israel kann weder die Verantwortung für Leben und Existenzweise jüdischer Gemeinschaften in der Diaspora übernehmen, noch kommt es Juden in der Diaspora in besonderer, herausgehobener Weise zu, die Politik Israels und seines demokratischen Souveräns sei es zu verteidigen, sei es zu kritisieren. Das hat der staatsbildende Zionismus, zumal in Gestalt des „Nation Builders“ (hier trifft der Begriff wirklich einmal zu) David Ben Gurion in einer kaum zu überbietenden Klarheit bereits 1949 mit Blick auf die jüdische Gemeinschaft in den USA zum Ausdruck gebracht:

    „Kein Jude der Diaspora, sei er Zionist oder nicht, kann der Regierung Israels angehören. Der Staat ist souverän, und sein Regime, seine Verfassung und seine Regierung werden werden einzig durch den Willen seiner Bürger bestimmt. […] Andererseits repräsentiert der Staat Israel weder die jüdische Bevölkerung in der Welt noch ist die israelische Regierung berechtigt, im Namen des Weltjudentums zu sprechen. […] Ein Jude, der im Staat Israel lebt, besitzt kein höheres Recht, sich mit jüdischen Angelegenheiten zu befassen als jeder Jude aus anderen Teilen der Welt.“
    (Zitiert nach Segev 20080h: 339)

    Jehuda ha-Levi
    Abraham Isaak Kook

    Es war der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirkende Raw Avraham Kook (1865-1935), der den Versuch unternommen hat, eine moderne politische Theologie der Wiederansiedlung des jüdischen Volkes im Land Israel noch vor der Ankunft des Messias zu begründen, und die so zum Begründer des religiösen Zionismus wurde, auf den sich bis heute – auf keinen Fall zu Recht – die religiösen Siedler im Westjordanland stützen (siehe hierzu Brumlik 20150i: 53). Ganz unabhängig davon ist nicht zu bezweifeln, dass (wenn auch kleine) Gruppen von Juden allen Vertreibungen durch die Römer zum Trotz über zwei Jahrtausende hinweg im Lande Israel lebten und dass in der jüdischen Liturgie (nicht zuletzt der des häuslichen Passahfestes) der Wunsch „Nächstes Jahr in Jerusalem“ eine ernst gemeinte besondere Bedeutung einnahm. Diese liturgische, aber auch existenzielle Sehnsucht äußert sich in den Gedichten des mittelalterlichen Poeten Jehuda Halevi (1075-1141), aus dessen Feder hebräische Gedichte stammen, die von besonderer Zionssehnsucht künden. Gleichwohl gilt nach Maßgabe schon der mittelalterlichen jüdischen Orthodoxie, dass nur der von Gott gesandte künftige Erlöser das jüdische Volk zurück in sein Land führen werde – so, dass mit dieser Rückkehr die Befriedigung der ganzen Welt ihren Anfang nehmen werde.

    Maimonides (Statue in Córdoba)
    Nachmanides (Moses ben Nachman)
    Raphael Patai

    Es war der mittelalterliche jüdische Philosoph Moses Maimonides (1135-1204), der das Bekenntnis zu einem künftigen Messias für verbindlich erklärte, diese Überlegung freilich mit der höchst nüchternen Vorstellung verband, dass immerhin das jüdische Volk dann in Sicherheit in einem eigenen Staat werde leben können (siehe Patai 19790j: 323-327). Es war der bereits erwähnte Raw Kook, der in der Konsequenz dieses Gedankens die ersten durch und durch atheistischen und sozialistischen Siedler als Vorläufer des Messias beschrieb. Anders als Maimonides, für den der Messias kein eschatologischer Friedensfürst war, erklärte sein etwas jüngerer Zeitgenosse Nachmanides (1194-1270) unter Berufung auf den Propheten Jesaja in einem dokumentierten jüdisch-christlichen Streitgespräch, dass der Messias nicht nur das jüdische Volk befreien, sondern die ganze Welt erlösen werde. An alledem wird klar, dass die Weltanschauung des (staatsbildenden) Zionismus überhaupt erst in der Neuzeit möglich wurde – also in jenem Zeitalter, das auch als das Zeitalter der europäischen Expansion gilt. Jedenfalls hatte der Zionismus tatsächlich frühe gedanklich der europäischen Expansion geschuldete Vorläufer – und zwar nicht in theologischer Hinsicht.

    Baruch Spinoza
    Rabbi Löw und der Golem

    Zu nennen sind vor allem zwei frühneuzeitliche jüdische Denker: der Prager Rabbi Jehuda Löw (1512-1609), der als der Erfinder der Geschichte vom Golem gilt, sowie der bedeutende Philosoph Baruch de Spinoza (1632-1677), die beide bereits sowohl das Nationalstaatsprinzip als auch den Gedanken eines jüdischen Nationalstaates im ehemaligen Land Israel angedacht haben.
    Zu nennen sind vor allem zwei frühneuzeitliche jüdische Denker: der Prager Rabbi Jehuda Löw (1512-1609), der als der Erfinder der Geschichte vom Golem gilt, sowie der bedeutende Philosoph Baruch de Spinoza (1632-1677), die beide bereits sowohl das Nationalstaatsprinzip als auch den Gedanken eines jüdischen Nationalstaates im ehemaligen Land Israel angedacht haben.
    In seinem Buch „Nezach Israel“ aus dem Jahr 1591 schrieb Löw:

    Haim Hillel Ben-Sasson

    „Das Exil ist eine Abweichung von der Ordnung der Natur, durch die der Herr jedes Volk an den Ort stellte, der für es am angemessensten war. […] Der Ort, der ihnen nach der Ordnung alles Bestehenden zukam, war Erez Israel […], soweit eine natürliche Einheit nicht zweigeteilt ist. […] Und da die jüdische Nation eine ungeteilte Nation ist, sei sie auch weiter versprengt als alle anderen Nationen […], ist diese Zerstreuung doch wider die Natur.“
    (Zitiert nach Ben-Sasson 19790k: 394)

    Jan Pieterszoon Coen
    Samuel Manasseh Ben Israel
    Cecil Roth
    Adri Offen-berg

    Ein halbes Jahrhundert später fand diese frühmoderne Theorie der (ethnischen) Nationalstaatlichkeit – jedenfalls, was das jüdische Volk angeht – nicht zuletzt im Zuge der europäischen Expansion eine weitere Bestätigung. So bei dem (marranischen) Philosophen Baruch de Spinoza, der in seinem 1670 in Amsterdam publizierten „Theologisch-politischen Traktat“ mit Blick auf die niederländische Expansion in Asien dem jüdischen Volk eine ähnliche Wiederauferstehung wie den Chinesen prophezeite. Spinoza kannte die 1602 in den Niederlanden gegründete „Verenigde Oostindische Compagnie„, in deren Umfeld ein Mann Namens Jan Pieterszon Coen (!) einen ersten Plan vorlegte, wie in Südostasien niederländische Siedlungskolonien errichtet werden könnten (siehe Schmitt 19870l: 71 – 80) Zudem verfasste der Spinoza wenigstens oberflächlich bekannte Menasse Ben Israel (1604-1657, siehe zu diesem Roth/Offenberg 20070m), der eine entscheidende Rolle bei den Verhandlungen über die Wiederzulassung von Juden in England spielen sollte und seinerseits vorhatte, nach Brasilien auszuwandern, im Jahr 1650 ein Buch unter dem Titel „Die Hoffnung Israels“, in dem er behauptete, dass in Lateinamerika die verlorenen zehn Stämme Israels wieder entdeckt worden seien. Spinoza jedenfalls schrieb in seinem „Traktat“ folgendes:

    „Ja, wenn die Grundsätze ihrer Religion ihren Sinn nicht verweichlichen, so möchte ich ohne Weiteres glauben, dass sie einmal bei gegebener Gelegenheit, wie ja die menschlichen Dinge dem Wechsel unterworfen sind, ihr Reich wieder aufrichten und Gott sie von neuem auserwählt. […] Ein augenfälliges Beispiel hierfür bieten uns die Chinesen. Auch sie haben ihr Reich nicht immer behauptet, aber nachdem sie es verloren, wiedererlangt.“
    (Spinoza 19840n: 63 f.)

    All diese – nennen wir sie „protozionistischen“ – Ansätze sollten sich mit denen von Theodor Herzl in seinem Buch „Der Judenstaat“ aus dem Jahr 1896 grundlegend ändern – ging es doch in diesem politischen Zionismus, der sich anders verstand als der schon erwähnte Kulturzionismus, tatsächlich um die Gründung eines Staates für verfolgte Juden – wo auch immer. In Reaktion auf die französische Dreyfus-Affäre wandte sich der zunächst assimilatorisch gesonnene Theodor Herzl nicht nur von der Idee eines Judenstaates auf einem kaum besiedelten Territorium, wobei es ihm zunächst überhaupt nicht darauf ankam, wo dieser Staat der Juden – der nicht dasselbe ist wie ein jüdischer Staat – errichtet werden sollte. Tatsächlich dachte Herzl keineswegs nur an das damals noch im osmanischen Reich gelegene Palästina, sondern mindestens ebenso an Argentinien bzw. an das in Ostafrika gelegene Uganda, das damals von Großbritannien beherrscht wurde. Darüber hinaus wollte Herzl die Juden in einem modernen Sinne als „Nation“ verstehen und schrieb entsprechend im „Judenstaat“:

    „Ich halte die Judenfrage weder für eine soziale noch für eine religiöse […]. Sie ist eine nationale Frage.“
    (Herzl 19460o: 11)

    Christoph Schulte
    Max Nordau
    Julius H. Schoeps
    Shlomo Avineri

    Es waren Theodor Herzl (siehe Avineri 20160p) und sein Kampfgenosse Max Nordau (siehe Schulte 19960q), die entwarfen, was als „politischer“, als staatsgründender Zionismus gilt. Dieser „politische Zionismus“ löste spätestens seit dem ersten zionistischen Kongress 1897 ähnlich gelagerte, vor allem in Russland und Polen beheimatete Bestrebungen ab, die dort von den „Chowewei Zion“ („Zionsliebhabern“) eher philanthropisch betrieben wurden (siehe Schoeps 20050r).

    Moses Hess
    Shlomo Na’aman
    Volker Weiß

    Tatsächlich war es noch einige Jahre früher der bereits erwähnte Moses Hess, der im Jahr 1862, desillusioniert vom vergeblichen Kampf des Sozialismus gegen den Antisemitismus, seine protozionistische Schrift „Rom und Jerusalem“ weitgehend unbeachtet publizierte (siehe hierzu Naaman 19820s und Weiß 20150t). Grob gesprochen fasste der moderne staatsbildende, also der „politische Zionismus“ die Juden als Nation – und das als Reaktion auf den in West- und Osteuropa ganz unterschiedlichen Antisemitismus.

    Wladimir Zeev Jabotinsky
    Michael Stani-slawski
    Hillel Halkin

    Damit ist auch die Frage nach dem Begriff der „Nation“ gestellt, wobei grundsätzlich zwischen zwei Bedeutungen zu unterscheiden ist: Hier – so in der Französischen Revolution und in gewisser Weise in der bereits früheren US-amerikanischen Revolution von 1776 – die politische Willensgemeinschaft aller Staatsbürger unabhängig von ihrer Herkunft, dort die durch Herkunft und Sprache verbundene ethnische Gemeinschaft. Was aber war dann das jüdische Volk? Politisch bestand der Zionismus aus drei unterschiedlichen Strömungen: Erstens dem kulturellen Zionismus, dem es vor allem darauf ankam, dass die Juden sich wieder als ein Volk mit einer Sprache und einem gemeinsamen ethnischen Bewusstsein verstehen, also als eine kulturell geprägte Ethnie, die auch ein geographisches Zentrum (das Land Israel) besitzt, ohne dass doch alle Jüdinnen und Juden dort leben müssen. Zweitens bestand er aus dem sozialistischen Zionismus, dem es darauf ankam, möglichst viele Juden der Welt ins Land Israel zu bringen, damit sie durch Arbeit am Boden und kommunistische Gemeinschaftsformen ihre „unnatürliche“, vermeintlich entfremdete Existenzweise als Händler, Gelehrte und Intellektuelle überwinden. Drittens ist wesentlich zu nennen der von Theodor Herzl sowie dem Arzt und Kulturkritiker Max Nordau und später Wladimir Jabotinsky (zu diesem siehe Halkin 20140u und Stanislawski 20010v: 116 – 237) vertretene „Politische Zionismus“. Letzterer setzte vor allem – ggf. mit Anwendung von Gewalt – auf eine territoriale Staatsgründung. Für diese Konzeption des Zionismus stand vor allem Wladimir Jabotinsky.

    — > (3)

    Anmerkungen

    Leo Pinsker

    0a Gorenberg, G. (2021): War of Shadows: Codebreakers, Spies, and the Secret Struggle to Drive the Nazis from Middle East, New York.
    0b Segev, T. (1993): The seventh Million. The Israelis and the Holocaust, New York.
    0c Mallmann, K. M./Cüppers, M. (2006): Halbmond und Hakenkreuz. Das Dritte Reich, die Araber und Palästina, Darmstadt.
    0d Pappe, I. (2007): Die ethnische Säuberung Palästinas, Frankfurt a. M.
    0e Morris, B. (2008): 1948. A History of the First Arab-Israeli War, New Haven/London.
    0f Lobel, E./Geries, S. (1970): Die Araber in Israel, München.
    0g Sluis, D. J. van der, u. a. (2005): Alle Morgen neu. Einführung in die jüdische Gedankenwelt am Beispiel des Achtzehngebets, Hilversum.
    0h Segev, T. (2008): Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen Staates, München.
    0i Brumlik, M. (2015): Wann, wenn nicht jetzt? Versuch über die Gegenwart des Judentums, Berlin.
    0j Patai, R. (Hrsg.) (1979): The Messiah Texts, Detroit.
    0k Ben-Sasson, H. (1979): Geschichte des jüdischen Volkes, Bd. 2: Vom 7. bis zum 17. Jahrhundert, München.
    0l Schmitt, E. (Hrsg.) (1987): Der Aufbau der Kolonialreiche. Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 3: Aufbau der Kolonialreiche, München.
    0m Roth, C./Offenberg, A. K. (2007): Menasseh (Menasseh) Ben Israel. In: Encyclopedia Judaica, 2. Aufl.., Band 13, Detroit/New York u. a.
    0n Spinoza, B. de (1984): Theologisch-Politischer Traktat, Hamburg.
    0o Herzl, T (1946): Der Judenstaat, Jerusalem.
    0p Avineri, S. (2016): Theodor Herzl und die Gründung des jüdischen Staates, Berlin.
    0q Schulte, C. (1996): Psychopathologie des Fin de siécle. Der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau, Frankfurt a. M.
    0r Schoeps, J. H. (Hrsg.) (2005): Palästinaliebe. Leo Pinsker, der Antisemitismus und die Anfänge der nationaljüdischen Bewegung in Deutschland, Berlin/Wien.
    0s Naaman, S. (1982): Emanzipation und Messianismus. Leben und Werk des DreiMoses Hess, Frankfurt a. M./New York.
    0t Weiß, V. (2015): Moses Hess. Rheinischer Jude, Revolutionär und Zionist, Köln.
    0u Halkin, H. (2014): Jabotinsky. A Life, New Haven/London.
    0v Stanislawsi, M. (2k001): Zionism and the Fin de Siécle. Cosmopolitanism and Nationalism from Nordau to Jakobinsky, Berkeley.

    Micha Brumlik

    (Micha Brumlik: Zionismus und postkoloniale Kritik. in: Ders.: Postkolonialer Antisemitismus? – Achille Mbembe, die palästinensische BDS-Bewegung und andere Aufreger. Hamburg 2021, hier 2. durchgesehene, korrigierte und ergänzte Auflage 2022, S. 95-128, hier 105-112)

  • Facetten des Terrors. Der Geheimdienst der „Deutschen Arbeitsfront“ und die Zerstörung der Arbeiterbewegung 1933 – 1938 (3)

    Karl Heinz Roth
    2000

    < — (2) (1)

    Krisenszenarien und Interventionsfelder seit 1936/37

    Seit der Jahreswende 1935/36 machten die Stabilisierungserfolge der NS-Diktatur einer ausgesprochen krisenhaften inneren Entwicklung Platz.103 Der inzwischen eingeleitete Übergang zur Vollbeschäftigung vollzog sich sehr ungleichzeitig. Da er im wesentlichen auf den antizyklischen Folgewirkungen des Hochrüstungskurses basierte, verharrten ganze Regionen und die Konsumgüter erzeugenden Wirtschaftszweige weiter in Stagnation, während sich in anderen Sektoren eine extreme Arbeitskräfteknappheit bemerkbar machte. Es herrschte zunehmend Mangel an Lebens- und Genußmitteln, doch die der künstlichen Binnenkonjunktur unterworfene Außenwirtschaft schaffte nur noch strategisch wichtige Rohstoffe ins Land. Infolgedessen durften die Lohnabhängigen keineswegs am höchst zwiespältigen wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben. Sie sollten zwar intensiver Arbeiten als je zuvor, aber auf ihren Anteil am Sozialprodukt genauso verzichten wie in den gerade überwunden geglaubten Notzeiten von Weltwirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit. Deshalb wurde das Überwachungs- und Terrorsystem weiter ausgebaut, um die gesellschaftliche Friedhofsruhe angesichts der weiterhin ausbleibenden sozialpolitischen Kompensationen zu sichern. Das war trotz der inzwischen weitgehend abgeschlossenen Abtrennung des Arbeiterwiderstands von seiner breiten gesellschaftlichen Basis ein ziemlich riskantes Unterfangen.

    Den für die arbeits- und sozialpolitischen Regulierungen zuständigen Machteliten war durchaus bewußt, daß sie sich auf einer Gratwanderung befanden, deren Ausgang nicht absehbar war. Angesichts der forcierten Aufrüstung und der entsprechend reduzierten sozialpolitischen Kompensationsmöglichkeiten stellten sie bei den Lohnabhängigen eine zunehmende Desillusionierung in Rechnung, die über die gerade in Gang gekommene Welle kurzfristiger Arbeitsniederlegungen hinausgehen, in einem dumpfen Aufbegehren münden und den passiv gewordenen Resten der Arbeiterbewegung neuen Auftrieb geben konnte. Deshalb ließen sie die Reste der Arbeiterbewegung trotz ihrer weit fortgeschrittenen Ausgrenzung und Passivität rigoroser denn je verfolgen. Im Frühjahr 1936 setzte eine neuerliche Verhaftungswelle ein, die jetzt ausgeprägt präventiven Charakter hatte.104 Ihr fielen die inzwischen vom Amt Information und den übrigen sicherheitspolizeilichen Apparaten ermittelten Funktionäre der untergegangenen Arbeiterbewegung zum Opfer, auch und gerade diejenigen, die sich seit der „Machtübernahme“ passiv verhalten hatten. Die Zahl der Opfer dieser vierten Terrorwelle stieg in den Jahren 1936 und 1937 auf insgesamt mehr als 20.000. An diesen großangelegten Menschenjagden zur vorbeugenden Niederhaltung des Arbeiterwiderstandes war das Amt Information mit seinen Auswertungslisten beteiligt, wenn auch nicht mehr in dem Ausmaß wie bei den Hetzjagden des Frühjahrs 1933, den Massenverhaftungen vom Herbst 1933 bis zum Frühjahr 1934 und der reichsweiten Fahndungsaktion vom Frühjahr 1935.105 Parallel dazu setzten sich seine Kader mit verschiedenen Krisenbrennpunkten innerhalb der Betriebe und Arbeitermilieus auseinander, die jetzt trotz des kompromißlosen Vorgehens gegen die immer brüchiger gewordenen Widerstandsnetze deutlich an Eigendynamik gewannen.

    Als besonders neuralgischer Punkt stellten sich dabei die durch das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit jährlich vorgeschriebenen Wahlen zu den betrieblichen Vertrauensräten heraus, die seit 1934 die Betriebsratswahlen ersetzten und jeweils Anfang April stattfanden. In den ersten beiden Wahlperioden hatten die Nazis einige böse Überraschungen erlebt. Vielerorts hatte sich der Widerstand erfolgreich eingeschaltet und die Wahlberechtigten aufgefordert, den vorgelegten Einheitslisten ihre Zustimmung zu verweigern, soweit es nicht gelungen war, auf ihnen oppositionelle Arbeiter unterzubringen.106 Vor allem 1935 war selbst in strategisch wichtigen Vorzeigebetrieben die Zahl derjenigen Stimmberechtigten, die mit Nein votiert oder ungültige Stimmzettel abgegeben hatten, auf 50 bis 60 Prozent angestiegen.107 Ganze Betriebsbelegschaften hatten sich bei dieser Gelegenheit versichert, „sie wären Kommunisten und blieben es“.108 In der sozialistischen und kommunistischen Exilpresse wurde kein Zweifel daran gelassen, daß man im März 1936 alles daran setzen würde, um dem Regime die letzte noch verbliebene plebiszitäre Legitimationsbasis streitig zu machen. Die bevorstehenden Vertrauensratswahlen bildeten einen der wichtigsten Traktandenpunkte auf der „Brüsseler“ Konferenz der KPD vom Oktober 1935.

    Selzner, Klaus

    Im Gegenzug beauftragte der für die Vertrauensratswahlen verantwortliche „Reichswahlleiter“ Claus Selzner109 das Amt Information mit spezifischen „Sonderaufgaben“, die Amtschef Felix Schmidt in einem Geheimrundschreiben am 9. Januar 1936 an seine Gau-Informations-Referenten weitergab.110 Mit ausdrücklichem Verweis auf die Ergebnisse der sogenannten Brüsseler Parteikonferenz und andere Materialien des Widerstands111 entwarf er ein umfassendes Szenario vorbeugender sicherheitspolizeilicher Maßnahmen. Die Gaureferenten sollten umgehend dafür sorgen, daß

    „a) Schädlinge und staatsfeindliche Elemente in den Betrieben erkannt und rechtzeitig unschädlich gemacht werden, so dass Störungsversuche von vornherein verhindert werden, b) sich ungeeignete Personen nicht in die VRW-Listen einschleichen können“.

    NSBO Werkschar-Mann, DAF-Walter/KdF-Wart

    Das war trotz aller bisheriger Überwachungserfahrungen leichter gesagt als getan, und deshalb verordnete die Berliner Geheimdienstzentrale ihren Niederlassungen in den Gauwaltungen einen regelrechten Handlungskatalog. Die Gau-I-Referenten sollten alle Großbetriebe namhaft machen, in denen es 1935 weniger als 50 Prozent Ja-Stimmen gegeben hatte. Zusätzlich sollten sie alle Betriebe lokalisieren, die in der jüngsten Zeit auffällig geworden waren. Diese betrieblichen Krisenbrennpunkte sollten sie nach einem ausgefeilten Schema untersuchen und dabei so vorgehen, daß den jeweiligen Betriebsleitungen und DAF-Waltern der Grund ihres Vorgehens, die bevorstehenden Vertrauensratswahlen, verborgen blieb. Die Mißstände-Skala war in persönliche, politische und wirtschaftliche Ursachen aufgeschlüsselt und schrieb je nach den getroffenen Feststellungen genau festgelegte Interventionsschritte vor. Beispielsweise sollte der Gau-I-Referent die Wiederaufnahme unzuverlässiger Vertrauensratsmitglieder auf die Wahllisten verhindern. Stellte er dagegen „staatsfeindliche Gegenarbeit“ oder „politische Verhetzung“ fest, so sollte er zusammen mit den zuständigen SD- und Gestapostellen eine umfassende politische Überprüfung einleiten. Beim Vorliegen überwiegend arbeits- und wirtschaftspolitischer Probleme („Schlechter Lohn, Betriebseinschränkung, Kurzarbeit, Rohstoffmangel, Devisenknappheit usw.“) sollte er den Gauwalter der DAF unterrichten und die „Beseitigung oder Milderung solcher Unruhegründe“ fordern, und Krisenerscheinungen größeren Ausmaßes sollten umgehend über die Amtsleitung an die Reichsleitung der DAF gemeldet werden. Bei der technischen Durchführung dieses vorbeugenden Programms sollten sich die DAF-Geheimdienstler mit den jeweils zuständigen SD– und Gestapostellen kurzschließen, ohne daß dies nach außen erkennbar wurde, und genau festgelegte Berichtstermine einhalten. Ende Januar 1936 wies auch der Chef des Sicherheitshauptamtes auf die besondere „staatspolitische Wichtigkeit“ der bevorstehenden Vertrauensratswahl hin und forderte die Leiter der SD-Oberabschnitte und -Abschnitte dringend auf, für eine „erfolgreiche“ Zusammenarbeit mit den Dienststellen des Amts Information „Sorge zu tragen“.112

    Wie Aktenstücke aus den Überlieferungen der Bayerischen Politischen Polizei belegen, blieben diese Anweisungen keineswegs Papier. In einem Rundschreiben wurden die Polizeidienststellen bis hinunter zu den Bezirks- und Landratsämtern am 11. Februar 1936 angewiesen, die namentlich ausgewiesenen bayerischen Geheimdienstreferenten der DAF „in ihrer verantwortungsvollen Arbeit während der Durchführung der VRW in jeder Weise zu unterstützen“, ihren Anträgen „unverzüglich nachzukommen“ und „Mitteilungen über unzuverlässige Vertrauensmänner … mit peinlichster Genauigkeit zu behandeln“. Zusätzlich wurde „eindringlich darauf hingewiesen, dass nach außen hin die Zusammenarbeit zwischen der DAF und den Dienststellen der Polizei- und Verwaltungsbehörden unter keinen Umständen in Erscheinung treten“ dürfe, und die Anordnung selbst durfte nur in mündlicher Form an die untergeordneten Stellen weitergegeben werden.113 Sogar die seit Ende November 1935 geübte Praxis des direkten und einseitigen Informationsflusses von den regionalen beziehungsweise lokalen Geheimdienststellen der DAF in Richtung Gestapo „in Eilfällen“ von „staatspolitischer Wichtigkeit“ wurde vor den Vertrauensratswahlen zeitweilig wieder umgekehrt: Die Polizeikommandeure der Länder beschlossen am 14. März 1936, in allen „Angelegenheiten, die für die DAF in sozialpolitischer Hinsicht von Interesse sind unmittelbar die für den Bereich zuständigen Gau-I-Referenten des Amtes Information der DAF in Kenntnis zu setzen“.114

    Theodor Hupfauer

    Trotz dieser gigantischen sicherheitspolizeilichen Vorkehrungen wurden die Vertrauensratswahlen schließlich abgeblasen, weil den NS-Machthabern das Risiko eines zu deutlich manifest werdenden Loyalitätsverlusts zu hoch erschien. Bis zum Ende der NS-Diktatur fanden sie nicht mehr statt, nachdem sie zunächst um ein Jahr und dann 1938 auf unbestimmte Zeit verschoben worden waren.115 Die Aufsicht über die Vertrauensräte fiel seit 1937 in den Kompetenzbereich des von Theodor Hupfauer geleiteten DAF-Amts für Soziale Selbstverantwortung, das ihre Mitglieder in enger Abstimmung mit den Treuhändern der Arbeit absetzte, bestätigte oder neu ernannte.116 Die NS-Diktatur hatte somit ihre wichtigste formale Legitimationsbasis gegenüber der Arbeiterklasse aufgegeben, und die DAF hatte schon im Vorfeld der Vertrauensleutewahlen erhebliche Anstrengungen unternommen, um ein weiteres Konsensinstrument des „sozialen Friedens“ aufzubauen, nämlich überbetrieblich zusammengesetzte und agierende „Arbeitsausschüsse“ – unter Ausschluß der Betriebsbelegschaften und im Dienst einer nunmehr zügellos forcierten Aufrüstung.117 Ansonsten konnte und sollte das Fehlen der von den Betriebsbelegschaften legitimierten Vertrauensräte seit 1936/7 nur noch durch Kombination von Loyalitätszwang, Überwachung und Terror kompensiert werden. Zugleich war unverkennbar, daß die betrieblichen und sozialen Konflikte zunehmend individualisiert wurden. Die heimatlos gewordenen Arbeiterinnen und Arbeiter griffen immer häufiger zu Flucht- und Vermeidungsreaktionen, die mit den politischen Qualitäten der jetzt endgültig zerschlagenen Arbeiterbewegung kaum mehr etwas zu tun hatten.

    Parallel zur „Stilllegung“ dieses erstrangigen machtpolitischen Interventionsfelds machten dem Amt Information jedoch einige Krisenherde zu schaffen, die zwar nur Teilbereiche der nazistischen Arbeits- und Sozialpolitik betrafen, dessen ungeachtet aber ebenfalls nicht ungefährlich waren. Eines dieser Krisenfelder waren die Verbrauchergenossenschaften.118 Die Deutsche Arbeitsfront hatte sie im Verlauf des Jahres 1933 unter ihre Fittiche genommen, einen von ihr eingesetzten Reichskommissar mit einem Sanierungsplan beauftragt und sich auf diese Weise das Wohlverhalten dieses Eckpfeilers des sozialdemokratischen Milieus erkauft. Die daraufhin eingeleiteten Stabilisierungsversuche waren jedoch dem mittelständischen Handelssektor und den von ihm getragenen nazistischen Kampfbünden ein Dorn im Auge. Es kam zum Machtkampf, den die DAF im Frühjahr 1935 verlor. Im Mai 1935 wurde ein Gesetz verabschiedet, das unter der Regie des Reichswirtschaftsministeriums die Liquidierung oder Privatisierung dieses Weimarer Genossenschaftsrelikts vorsah.119
    Nun gab die DAF den bisherigen Status quo auf und leitete einen radikalen Kurswechsel ein. Das Amt Information wurde beauftragt, die Konsumvereine umgehend von allen dort überwinternden „staatsfeindlichen Personen“ zu säubern120 und auf diese Weise die Voraussetzung für ihre Liquidierung zu schaffen. Dieser Sonderaufgabe widmeten sich seine Kader in gewohnter Loyalität. Zusätzlich arbeiteten sie in umfangreichen Denkschriften die Geschichte dieses gescheiterten Einverleibungsversuchs auf 121 und trösteten ihren frustrierten Reichsleiter mit der süffisanten Feststellung, daß auf den Ruinen der Verbrauchergenossenschaften ein privatkapitalistischer Konzentrationsprozeß in Gang gekommen sei, der den siegreichen Einzelhandelsverbänden weitaus mehr zusetzen werde als die nunmehr geschleiften Konsumvereine.122

    Nicht weniger instabil waren die Verhältnisse bei der Seeschifffahrt. Hier reagierten die Reeder nicht nur mit eiserner Faust – was den durch und durch militaristisch eingestellten Führungsgruppen der DAF nur recht war -, sondern auch nach den unbeirrbar verfolgten Prinzipien einer rigorosen Niedriglohnpolitik, und umgekehrt agierten unter den Schiffsbesatzungen einfallsreiche wie entschiedene gewerkschaftliche Widerstandsgruppen, die besonders schwer zu überwachen waren.123 Da die „liberalistisch-kapitalistisch“ geführten Reedereien und Außenhandelshäuser sich aber trotz ihrer „autarkie“-feindlichen Grundsätze mit dem Nazismus weitaus konsequenter gemein gemacht hatten als die meisten anderen Machtgruppen der Wirtschaft, befanden sich hier die Sicherheitsexperten der DAF in einem besonderen Dilemma. Mehr noch als in anderen Wirtschaftssektoren drangen sie vergeblich darauf, die allfälligen Überwachungs- und Repressionsmaßnahmen mit den entsprechenden sozialpolitischen Befriedungsangeboten zu verzahnen und die sture Niedriglohnpolitik der Reeder zu durchbrechen.

    Mit diesem für sie höchst unerfreulichen Zustand fanden sich die für die Seeschiffahrt fzuständigen Mitarbeiter des DAF-Geheimdiensts jedoch auch dann noch nicht ab, als wiederholte Kassandrarufe bei ihrer politischen Führung und den zuständigen Reichsbehörden auf taube Ohren gestoßen waren. Vergeblich waren die Versuche, die auf die Überwachung des „Freimaurertums“ spezialisierten Experten des Sicherheitsdienstes der SS mit Skandalberichten über das besonders „unsoziale Verhalten“ diverser Hamburger Logenbrüder, Reeder und Kapitäne zum Handeln zu bewegen.124 Aber auch die DAF-Spitze scheint die Nachricht, daß „die Grundeinstellung der an der Seeschifffahrt unmittelbar oder mittelbar Beteiligten … als rein liberalistisch-kapitalistisch angenommen werden“ müsse, was in der Maxime zum Ausdruck komme: „Die Wirtschaft ist das Primäre und lenkt Politik und Staat!“,125 zunächst nicht zum Gegensteuern bewogen zu haben.

    Dessen ungeachtet war der soziale Krisenbrennpunkt erkannt, und die der NSDAP-Auslandsorganisation unterstellte Gauwaltung Ausland der DAF drängte seit Mitte der dreißiger Jahre auf eine Effektivierung der Überwachungsmaßnahmen, die sich vor allem auf die auf den Schiffen zumeist in Personalunion tätigen politischen Leiter und DAF-Amtswalter stützen sollte. Einige Anzeichen sprechen dafür, daß das Amt Information der DAF im Verlauf des Jahres 1936 den Nachrichtendienst der NSDAP-Auslandsorganisation („Hafendienstamt“) übernahm.126 Der in Hamburg residierende Informations-Referent der DAF-Gauwaltung Ausland, Rolf Maurer, unternahm jedenfalls verstärkte Anstrengungen, um das Nachrichten- und Spitzelnetz im Bereich de Seeschifffahrt auszubauen und die Begradigung der dem Widerstand in die Hände arbeitenden arbeits- und sozialpolitischen Angriffsflächen einzufordern.127 In seiner Abteilung wurde ein spezielles Informations-Referat Seefahrt“ eingerichtet. Auf sein Drängen hin konferierte die Leitung des Amts Information im November 1936 mit den Spitzenfunktionären der Abteilung Seefahrt der NSDAP-Auslandsorganisation über den „Bolschewismus in der Seeschifffahrt“. Man klagte über eine „starke Desertion deutscher Seeleute in die U.S.A.“ und einen starken „Verschleiß an politischen Leitern auf den Schiffen“, die durch die „Machenschaften der Kommune müde gemacht“ würden. Wenigstens die „mißliche soziale Lage der verheirateten Seeleute“ sollte durch eine gemeinsame Initiative gegenüber den Schifffahrtsgesellschaften und Reedereiverbänden gebessert werden. Zusätzlich wurde vereinbart, das Geheime Staatspolizeiamt und das Reichspropagandaministerium um Unterstützung anzugehen, denn die großzügig ausgestatteten „Interklubs“ der Kommunistischen Internationale müßten dringend durch verbesserte Freizeitangebote seitens der ausländischen NS-Gliederungen konterkariert werden.128 Für den Seefahrt-Referenten des DAF-Geheimdiensts war das alles nichts Neues. In einem Kommentar zu diesem Besprechungsbericht schrieb er, die Schilderungen seien wohl etwas zu „schwarz gefärbt“, um die Kommunikation mit der Gestapo und dem Propagandaministerium zu verbessern und Finanzmittel einzuwerben. Für ihn schien gegen Ende des Jahrs 1936 die Gefahr im wesentlichen gebannt zu sein. Seine Abteilung funktioniere inzwischen in den meisten Operationsgebieten mit Ausnahme der Ostseeregion hervorragend, schrieb er. Auch das „VM-Netz“ werde „immer weiter entwickelt“, und die „Zusammenarbeit mit SD-Oberabschnitt Hamburg und entsprechenden Abschnitten“ funktioniere „reibungslos“.129

    Göring

    Daß es sich bei dieser Stellungnahme um eine gehörige Portion Zweckoptimismus handelte, die vor allem auf die Abschottung und den weiteren Ausbau der gemeinsam mit dem Sicherheitsdienst der SS vorangetriebenen Nachrichtenorganisation abzielte, belegt eine Ausarbeitung der Amtsleitung des DAF-Geheimdiensts über „Störungen des Wirtschaftsfriedens in der Seeschifffahrt“, die zu Beginn des Jahres 1938 abgeschlossen wurde.130
    Dem Grundtenor dieser teilweise gut recherchierten Studie zufolge war die Seeschifffahrt inzwischen zu einer der wenigen Enklaven geworden, in denen der soziale Klassenkonflikt noch immer mehr oder weniger offen ausgetragen wurde und die Beziehungen zwischen den Schiffsbesatzungen und den gewerkschaftlichen Widerstandsgruppen noch nicht dissoziiert waren. Dieser Zustand hatte sicher auch historische Gründe.131 Im Vordergrund standen gleichwohl die seit der Weltwirtschaftskrise extrem verschlechterten Arbeitsbedingungen und die Existenz linkssozialistischer gewerkschaftlicher Widerstandsgruppen, die im Gegensatz zum kommunistischen Einheitsverband der Seeleute und Hafenarbeiter genauso wie die dem direkten Zugriff unzugänglichen „Interclubs“ den Verfolgungsmaßnahmen bislang getrotzt hatten. Vor diesem Hintergrund antworteten die Schiffsmannschaften auf ihre vergleichsweise geringe Entlohnung, die harten Arbeitsbedingungen und die zermürbend langen Arbeitsschichten mit verdeckten wie offenen Kampfformen: Sie kamen nach dem Landgang verspätet und oft betrunken zurück, musterten in ausländischen Häfen immer häufiger auf eigene Faust ab, um der Wehrpflicht zu entgehen, simulierten mit Unterstützung sowjetischer Ärzte ernsthafte Erkrankungen und legten auch einmal die Arbeit nieder, um den Jahreswechsel an Land zu feiern.132 Hier halfen Repressalien allein nicht weiter. Um diesen Zuständen, die der „Kominternwerbung“ einen „verhältnismäßig besseren Nährboden als bei den anderen Berufen“ boten,133 zu steuern, wurde ein ganzes Arsenal sozialpolitischer Konzessionsmaßnahmen vorgeschlagen: Die Lohnaufbesserung zumindest für die verheirateten Seeleute, die Respektierung der Feiertage durch die Reeder und Kapitäne, die Verbesserung der „persönlichen Einstellung der Vorgesetzten“ sowie weitere sozialpolitische Maßnahmen zur Verhinderung der Abwanderung aus dem Seemannsberuf. Wahrscheinlich hat diese Intervention dazu beigetragen, die von Hermann Göring in seiner Eigenschaft als Beauftragter für den Vierjahresplan im Juli 1937 verkündete sechzehnprozentige Lohnerhöhung für die Mannschaften des Decks- und Maschinenpersonals durchzusetzen.134 Aber an der prekären Gesamtsituation der Seeleute änderte sich dadurch nichts. Ein Bremer DAF-Funktionär schrieb 1939 resigniert, die „wirtschaftliche international bedingte Lage der Seeschifffahrt“ lasse „einen gerechten sozialen Ausgleich nicht zu“,135 und dabei blieb es auch bei Kriegsbeginn.

    Das herausragende innenpolitische Krisenereignis waren jedoch rasch aufeinander folgende Teil- und Kurzstreiks, die im Verlauf des Jahres 1935 in den stagnierenden Wirtschaftssektoren und auf den Baustellen der Wehrmacht, der Reichsautobahn und des Reichsarbeitsdiensts in Bewegung kamen, sich bis zum Juli 1936 auf verschlungenen Pfaden bis in einige Großunternehmen der Kraftfahrzeugindustrie ausweiteten und erst im Verlauf des Jahres 1937 allmählich abebbten.136 An dieser Stelle soll zusätzlich zu den schon weiter oben dargestellten Folgen für den DAF-Geheimdienst skizziert werden, wie das Amt Information dieses streng geheimgehaltene Ereignis analysierte und welche Bekämpfungsvorschläge es der Reichsleitung der Deutschen Arbeitsfront und der Gestapo unterbreitete.
    Am Anfang stand immer dichter werdende Berichterstattung.137 Als sich seit Mitte 1935 die Nachrichten der Orts- und Gaustellen des DAF-Geheimdiensts über Arbeitsniederlegungen von Notstandsarbeitern und jugendlichen Dienstverpflichteten auf den Baustellen häuften und zunehmend mit Meldungen über Arbeitsniederlegungen in den ostdeutschen landwirtschaftlichen Großbetrieben überschnitten, ging das Amt Information zur täglichen Berichterstattung über und vereinbarte mit dem Gestapohauptamt einen laufenden Informationsaustausch. Die Flut der hereinkommenden Einzelberichte wurde jedoch allmählich unüberschaubar. Zunächst versuchte die Amtsleitung des DAF-Geheimdiensts, ihrer durch Standardisierung der Meldungen Herr zu werden. Wenige Tage nach dem Alarmsignal des Streiks der Karosseriearbeiter des Opel-Werks Rüsselsheim vom 25. Juni 1936 wurden dann de Gau-Abteilungen angewiesen, alle „Beobachtungen übe jede irgendwo erfolgte oder auch versuchte Arbeitsniederlegung“ zusammenzufassen und so schnell und ausführlich wie möglich darüber zu berichten.138 Zusätzlich wurden sie aufgefordert, bis zum 1. August 1936 einen Sammelbericht über alle Streiks zu erstatten, die seit dem 1. Januar 1936 in ihrem Gaugebiet stattgefunden hatten.

    Bislang ist es nicht gelungen, diese Sammelberichte zu lokalisieren. Erhalten geblieben sind dagegen einige Ausarbeitungen und Denkschriften der Amtsleitung, die auf diesen Unterlagen basierten. Dabei dominierte das aufgrund der Vorgeschichte und der Mentalitäten der DAF-Geheimdienstler wenig überraschende Bestreben, die Kurzstreiks so weitgehend wie möglich aus „marxistische Hetze und Propaganda“ zurückzuführen.139 Trotzdem wurde auch eine faktenorientierte Bestandsaufnahme versucht, die einige überraschende Ereignisse zutage förderte. Auf den Baustellen und in der ostdeutschen Landwirtschaft schienen „ortsfremde“ Arbeitskräfte als Initiatoren der Kurzstreiks eine herausragende Rolle zu spielen, also Wanderarbeiter in unterschiedlich unfrei strukturierten Arbeitsverhältnissen.140 Als Streikschwerpunkte wurden nacheinander der Tiefbau, das Baustoffgewerbe, die ostdeutsche Großlandwirtschaft, die Seeschifffahrt, die Häfen und zuletzt die Kraftfahrzeugindustrie ausfindig gemacht. Dabei kam es an den Ausgangspunkten, den stagnierenden Sektoren der Wirtschaft, immer wieder zu Arbeitsniederlegungen, während die spektakulären Abteilungsstreiks bei der Adam Opel AG in Rüsselsheim141 und den DKW-Werken der Auto Union AG in Berlin Spandau142 einmalige Ereignisse blieben.
    Strukturierende Momente, die den verschiedenen Streiksektoren mit ihren über 100 Arbeitsniederlegungen im Jahr 1936143 irgendwie miteinander koordiniert hätten, waren nicht nachzuweisen. Die illegale Widerstandsliteratur, in der zumeist mit erheblicher Verspätung und unterschiedlicher Genauigkeit über die Ereignisse berichtet wurde, war dazu nicht mehr ausreichend verbreitet, und die Ära des Auslands- und Widerstandsrundfunks hatte noch nicht richtig begonnen. Dagegen spielte die von den DAF-Geheimdienstlern und anderen sicherheitspolizeilichen Experten entsprechend gerügte Presseberichterstattung über die zeitgleich in Gang gekommenen Kampfzyklen der französischen und nordamerikanischen Arbeiter eine gewisse simulierende Rolle.144

    Mit der Ursachenforschung taten sich die Analytiker des DAF-Geheimdiensts besonders schwer. Ihre in den ersten Stellungnahmen vehement vertretende Überzeugung, daß der kommunistisch organisierte Arbeiterwiderstand umfassend Regie führe, war nicht zu halten und wurde in den Besprechungen, die nach den besonders spektakulären Abteilungsstreiks in Rüsselsheim und Berlin Spandau stattfanden, widerlegt:

    „In den wenigsten Fällen“ konnte „von politischen Streiks gesprochen werden.“145

    Nur in 40 von insgesamt 250 untersuchten Fällen vermochte das Amt Information „die Arbeitsverweigerung als marxistische Verhetzung“ nachzuweisen.146 Streikursachen waren einfach himmelschreiende soziale Mißstände, nicht eingehaltene Versprechungen über die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und angedrohte Lohnkürzungen. Die Reste der organisierten Widerstandsbewegung schwammen zweifellos in dieser Protestwelle mit, ohne sie aber zu strukturieren oder irgendwie sichtbar in Erscheinung zu treten. Dagegen war unbezweifelbar, daß der neue Volksfrontkurs des kommunistischen Exilführung seit einiger Zeit genau auf eine solche Entwicklung setzte: Getarnte Zweistundenstreiks, Kampagnen zum Langsamarbeiten und zum selbstbestimmten Arbeitsplatzwechsel wurden als Vehikel betrachtet, die ergänzend zur Unterwanderung der unteren Amtswalterebene der DAF die allmähliche Normalisierung der Arbeitsverhältnisse und in ihrem Schlepptau die schrittweise Relegalisierung der freien Gewerkschaften und der Arbeiterorganisationen erzwingen sollten.
    Über diese frappierende Koinzidenz der Ereignisse trotz eines vor Ort ungeheuer dezimierten Arbeiterwiderstands hat der DAF-Geheimdienst umfassend berichtet und die Beziehungen zwischen den kurzfristigen Arbeitsniederlegungen und der Agitation der Widerstandsbewegung entsprechend überschätzt.147

    Die Lage war also unübersichtlich. Die eingeschliffenen Wahrnehmungsmuster versagten ihr gegenüber. Der organisierte Arbeiterwiderstand war inzwischen zu schwach, um die Streikbewegung weiterzutreiben, aber sie paßte seit dem politischen Kurswechsel von 1934/35 ideal in die politische Programmatik insbesondere seines kommunistischen Flügels. Er war deshalb zwar keine akute Gefahr mehr, aber er blieb zweifelsfrei mittelfristig eine ernstzunehmende Bedrohung. Wenn die diffus um sich greifende Arbeiteraufsässigkeit die organisierten Reste der Arbeiterlinken als politischen Bezugspunkt akzeptierte, waren die Folgen unabsehbar.
    Dieser Zustand stimulierte die Akteure des Überwachungs- und Terrorapparats zu Bedrohungsanalysen, die weitreichende Folgen hatten. Auf mehreren Ebenen wurde das Verhältnis von Terror und Politik neu definiert. Da war erstens die betriebliche Ebene. Bei den Opel-Werken in Rüsselsheim hatten beispielsweise ein intaktes V-Leutenetz und Personaldateien gefehlt. Deshalb war man nicht vorgewarnt und zum präzisen Zugriff auf die „Rädelsführer“ unfähig gewesen, und hatte statt dessen alle Streikteilnehmer fristlos entlassen.148 Derartige summarische wie spektakuläre Sanktionen sollten sich nicht wiederholen. Wenn man in Zukunft die Überwachungs- und Zugriffskompetenzen bei der Gestapo zusammenführte, konnten im Wiederholungsfall im Zusammenspiel mit den Nachrichtennetzen des SD und des DAF-Geheimdiensts chirurgisch präzise Gegenaktionen gestartet werden.

    Auf der überbetrieblichen Ebene sollten diese Maßnahmen zweitens durch den Versuch ergänzt werden, die Reste der organisierten Arbeiterbewegung endgültig auszurotten, um sie als potentiellen Bezugspunkt der Arbeiterproteste zu beseitigen. In diesem Zusammenhang wurde die Bedeutung der gerade laufenden Verhaftungskampagnen gegen die passiv gewordenen Funktionärskader der zerstörten Arbeiterbewegung hervorgehoben.149 Das Amt Information der DAF spielte dabei keine wichtige Rolle mehr. Es lieferte seine Materialsammlung und Funktionärslisten an die Gestapo ab und mußte sich danach auf die Auflistung der festgenommenen DAF-Mitglieder beschränken.

    Reinhard Heydrich

    Drittens und letztens wurde erkannt, daß die DAF nicht nur den wichtigsten Garanten des „Betriebsfriedens“, sondern auch der inneren Sicherheit der NS-Diktatur in ihrer Gesamtheit darstellte. Auf betrieblicher Ebene hatte sie nicht nur dafür zu sorgen, „daß die sichtbaren Angriffspunkte des Gegners weggeräumt werden“, sondern auch „den bewußten Störenfried zu ermitteln und unschädlich zu machen“.150 Hinzu kamen jetzt mehr denn je ihre gesamtgesellschaftlichen Aufgaben beim Kampf gegen den „Staatsfeind“, weil dieser, so der SD-Chef Reinhard Heydrich, „mit einem überraschend geringen Kräfteaufwand“ in die DAF einzudringen und diese „Kraftquelle“ des Reichs „in einen Gefahrenherd allerersten Ranges“ umzubiegen vermöge, „der in bestimmten innenpolitischen Momenten eine entscheidende Gefahr für den Bestand des III. Reiches bedeutet. Es geht hier nicht um den Bestand der DAF, es geht um die Existenz des Nationalsozialismus überhaupt.“151

    Mit diesen angesichts der realen Sozialkonflikte grotesk übertriebenen Festlegungen ließ der sicherheitspolizeiliche Apparat der NS-Diktatur 1937/38 endgültig jene Erfahrungshorizonte hinter sich, die dem kollektiven Gedächtnis der Arbeiterbewegung bei der Beurteilung der gegen sie agierenden Überwachungs- und Terrorsysteme zur Verfügung standen. Der DAF-Geheimdienst verlor dabei seine Selbständigkeit, weil es ihm nicht gelungen war, die Welle der Kurzstreiks im Vorfeld aufzuspüren, und er sie darüber hinaus auch noch falsch interpretiert hatte. Aber seine Erfahrungen wirkten dessen ungeachtet im Sicherheitsdienst der SS und in der Gestapo weiter, und einige Merkmale des sich weiter radikalisierenden Terrors hatte er wesentlich mit vorbereitet. Mit unnachgiebiger Härte hatten seine Residenten und V-Leute alle jene verfolgt, die sich den Symbolzwängen der Diktatur individuell oder kollektiv verweigerten: Die den Hitler-Gruß ablehnten, Veranstaltungsritualen fernblieben, das Horst-Wessel-Lied nicht mitsangen oder den Uniformkult der DAF durch das Tragen von Phantasie-Uniformen lächerlich machten und statt dessen an ihrer Antifa-Mütze und anderen Erkennungssymbolen der zerstörten Arbeiterbewegung festhielten.152 Gerade hier erreichten die überwachenden und abstrafenden Akteure des Nachrichtendienstes der DAF, die mit ihren eigenen Spitzelnetzen die mangelnde Denunziationsbereitschaft der meisten betrieblichen Arbeitermilieus kompensierten, neue Stufen einer haßerfüllten Gewalttätigkeit, und von hier aus griffen sie auf andere diskriminierte Gesellschaftsschichten über. Seit 1935 erstellten sie Listen der jüdischen Mitarbeiter von Großunternehmen und Großbanken.153 Gegen eine Sekretärin, die „sich mit ihrem jüdischen Chef und Liebhaber“ nach Wien abgesetzt hatte, ermittelte der DAF-Geheimdienst seit Januar 1937 hartnäckig und unter Einschaltung des SD-Hauptamts, um ihr ein Verfahren wegen „Rassenschande“ anzuhängen.154 Und im Sommer 1937 zog der Stuttgarter Gau-Informations-Referent Notter alle Register, weil er die jüdischen Inhaber zweier in Stuttgart-Untertürkheim domizilierter Unternehmen zu vertreibe und sich in das Arisierungsgeschäft einzuschalten gedachte.155

    Anmerkungen

    Günter Morsch
    Ludwig Eiber
    Bernd Stöver
    Walther Stepp
    Dieter Nelles

    3 Die Studie liegt seit neuestem vor: Dieter Nelles, Widerstand und internationale Solidarität. Die Gewerkschaft der Seeleute, Binnenschiffer und Hafenarbeiter und die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Diss. rer. po., Kassel 2000.
    6 Vgl. Günter Morsch, Streik im „Dritten Reich“, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 36 (1988), H. 4, S. 49-689, hier 672ff.; ders., Arbeit und Brot. Studien zur Lage, Stimmung, Einstellung und Verhalten der deutschen Arbeiterschaft 1933-1936/37, Frankfurt a.M. 1993, S. 411 ff.
    77 Über die neue Qualität dieser dritten koordinierten Fahndungs- und Verhaftungswelle gegen die Reste der illegalen Widerstandsbewegung hat vor allem die Gruppe „Neu Beginnen“ ausführlich berichtet. Vgl. Bernd Stöver, Berichte über die Lage in Deutschland. Die Lagemeldungen der Gruppe Neu Beginnen aus dem Dritten Reich 1933-1936, Bonn 1996, S. 520 ff. (Dokument Nr. 14, Bericht Nr. 15 vom Juni 1935). 103 Vgl. zum folgenden Timothy W. Mason, Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Dokumente und Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik 1936-1939, Opladen 1975.
    104 Den betont präventiven Charakter dieser vierten Repressionswelle hat die Gruppe „Neu Beginnen“ treffend analysiert. Vgl. Bernd Stöver, Bericht, Berichte über die Lage in Deutschland (wie Anm.77), Dokument Nr. 18, Bericht Nr. 21 vom September 1936: Der Terror, S. 742 f.
    105 Vgl. die laufende Berichterstattung der Gau-Informations-Referenten: BArchB, Nr. 5 IV, Nr. 24-53.
    106 Die letztere Taktik wurde von der Exilleitung der KPD favorisiert, jedoch von den Resten der Arbeiterbewegung überwiegend als illusorisch abgelehnt.
    107 Vgl. Nachtrag zu den Vertrauensratswahlen, in: Deutscher Nachrichtendienst, Jg. 1935, Nr. 5, Bl. 9-17. Ein Exemplar dieser vervielfältigten Druckschrift befindet sich in BArchB, Nr. 5 IV, Nr. 91.
    108 Vgl. beispielsweise die Meldung des Gau-Informations-Referenten Westfalen-Süd an den Leiter des Amts Information, Betr. KPD, v. 21. 5. 1935, BArchB, Nr. 5 IV, Nr. 51, fo. 4.
    109 Vgl. Richtlinien für die Vertrauensratswahlen 1936, Hg. Reichswahlleiter der DAF, Hauptamtsliter Claus Selner, o. D. Ein Exemplar befindet sich in: BArchB, Nr. 58/605, fol. 47 ff. Abgedruckt als Dokument Nr. 5 in dieser Edition [vorl. Buch – d. Publ.]
    110 DAF-Zentralbüro, Amt Information, Amtsleiter SS-Obersturmbannführer Felix Schmidt, Rundschreiben an alle Gau-I-Referenten, Betr. Vertrauensratswahlen 1936 (VRW), 9. 1. 1936, BArchB, R 58/2476 a. fol. 2-12.
    111 Vgl. ebenda, Anlage 2: Beabsichtigte marxistische Maßnahmen gegen die Vertrauensratswahlen 1936, fol. 8-11.
    112 Rundschreiben des Chefs des Sicherheitshauptamts, Stabsführer Trabert, an alle SD-Oberabschnitte und SD-Abschnitte, Betr. Vertrauensratswahlen 1936, vom 21. 1. 1936. Ebenda.
    113 Rundschreiben der Bayerischen Politischen Polizei, gez. Stepp, an alle Polizeidirektionen usw. in Bayern, Betr. Vertrauensratswahlen 1936, vom 11. 2. 1936. Staatsarchiv München, LRA 184.300. Ich danke Ludwig Eiber für diesen Hinweis.
    114 Rundschreiben der Bayerischen Politischen Polizei, gez. Beck, an alle Polizeidirektionen usw. in Bayern, vom 11. 5. 1936. Ebenda.

    Robert Ley
    Betz Anton I.
    Edo Fimmen
    Bob Reinalda
    Hermann Knüfken

    115 Zusammenfassend dargestellt bei Michael Schneider, Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999, S. 514 ff.
    116 Vgl. die ausführliche Dokumentation der weiteren Entwicklung in: BArchB, 3101, Reichswirtschaftsministerium, Nr. 10.290.
    117 Vgl. Reichsleiter Robert Ley, Anordnung 3/36: Der Arbeitsausschuß, in: Amtliches Nachrichtenblatt der DAF, Jg. 1936, Folge 3, v. 25. 1. 1936, S. 17 ff.; Theodor Hupfauer, Leiter des Amtes Soziale Selbstverantwortung. Erklärung zur Geschäftsordnung der Arbeitsausschüsse, ebenda, S. 20 ff.; Wolfgang Spohn Betriebsgemeinschaft und Volksgemeinschaft. Die rechtliche und institutionelle Regelung der Arbeitsbeziehungen im NS-Staat. Berlin 1987, S. 167 ff.
    118 Vgl. zum folgenden BArchB, R 58/531 632; NS 5 VI, Nr. 14.330.
    119 Gesetz über Verbrauchergenossenschaften vom 21. 5. 1935, RGBl. 1935 I, S. 681.
    120 Vgl. Schreiben des Amts Information, SS-Sturmbannführer Felix Schmidt, an das Gestapa, Betr. Verbrauchergenossenschaften, 31. 7. 1935, BArchB, R58/632, fol. 37.
    121 Das Gesetz über die Verbrauchergenossenschaften vom 21. Mai 1935 und seine Auswirkungen auf die deutsche Konsumgenossenschaftsbewegung, Sonderbericht des Amtes Information der DAF, o. D. (Juli 1936). BArchB, R 58/632; Die deutschen Verbrauchergenossenschaften, Sonderbericht des Amtes Information, abgeschlossen im Oktober 1936. BArchB, NS 5 VI, Nr. 14330. Auszugsweise abgedruckt als Dokument Nr. 7 in dieser Edition.
    122 Die Deutschen Verbrauchergenossenschaften (wie Anm.120), Bl. 28 ff.: Zusammenfassung und Ausblick.
    123 Vgl. Dieter Nelles, ITF Seefarer’s Resistance to Nazism, in: ITF Seefarers Bulletin, No. 9, 1994, S. 27-29; ders., Das abenteuerliche Leben des Hermann Knüfken. Ein demokratischer Revolutionär, in: ÖTV-Report Seefahrt, Nr. 3/1996, S. 13-23; ders., ITF Resistance against Nationalsicialism and Fascism in Germany and Spain, in: Bob Reinalda (ed.), The International Transportworkers Federation 1914-1945. The Edo Fimmen Era, Amsterdam 1997, S. 174-199.
    124 Vgl. beispielsweise Schreiben des Amts Information an das SD-Hauptamt, Betr. Allgemeine Lage der Seeschifffahrt in Hamburg, 3. 6. 1935, BArchB, R 58/1067, fol. 23 f.; Schreiben des Amts Information an das SD-Hauptamt, Politische Tätigkeit und frühere Logenzugehörigkeit verschiedener Wirtschaftsführer, 20. 12. 1935, Ebenda, fol. 31 ff.
    125 Aktennotiz o. V. (wahrscheinlich des Gau-Informations-Referenten der Auslandsorganisation der DAF), Betz. Allgemeine Lage in der Seeschifffahrt. Beilage zu einer Meldung an den Leiter des Amts Information vom 4. 9. 1935, Ebenda, fol. 4.

    Hans-Adolf Jacobsen
    Friedrich Völtzer

    126 Das Hafendienstamt fehlt seit 1937 in den Organisationsschemata der NSDAP-AO, vgl. Hans-Adolf Jacobsen, Nationalsozialistische Außenpolitik 1933-1938, Frankfurt a. M./Berlin 1968, S. 657 ff. Der nächstliegende Aspirant für eine Übernahme, das SD-Hauptamt, verfügte 1936/37 noch nicht über die erforderlichen Kapazitäten auf dem Gebiet der Auslandsspionage, um den weltweit agierenden Nachrichtendienst der NSDAP-AO mit seinen vielfältigen Kurierverbindungen zu den NSDAP-Filialen außerhalb des Reichsgebiets integrieren zu können. Deshalb ist der Übergang des „Hafendienstamts“ in das Amt Information am wahrscheinlichsten, allerdings nur als Zwischenstation bis zur Übernahme durch den SD anläßlich der Auflösung des Amts Information im Jahr 1938. Der unmittelbare Anlaß für diese „Transaktion“ ist unklar. Wahrscheinlich spielte die Aufdeckung der Organisationsstruktur und Arbeitsweise des „Hafendienstamts“ durch deutsche Revolutionäre eine Rolle, denen zu Beginn des spanischen Bürgerkrieges in Barcelona umfangreiche Unterlagen über die NSDAP-AO und ihr „Hafendienstamt“ in die Hände gefallen waren. Vgl. Schwarz-Rotbuch, Dokumente über den Hitlerimperialismus, Hg. Gruppe Deutsche Anarcho-Syndikalisten, Barcelona 1937. Vgl. ergänzend die Unterlagen über die Aktivitäten des Hafendienstamts der NSDAP-AO in Spanien in: BArchB, NS 9/99. Ich danke Dieter Nelles für diese Hinweise.
    127 Vgl. die Restüberlieferung der Gau-Informations-Dienststelle der DAF-Auslandsorganisation in: BArchB, NS 5 IV, Nr. 53.
    128 Amt Information, Bericht über die Sitzung der Auslands-Organisation der NSDAP am 17. 11. 1936. Bericht Nr. 14.104. BArchB, NS 5 VI, Nr. 5.967, fol. 73-78.
    129 Anmerkungen des I-Referenten Seefahrt zum Bericht über die Sitzung bei der Auslands-Organisation der NSDAP am 17. 11. 1936, ebenda, fol. 77 ff.
    130 Amt Information der DAF, Störungen des Wirtschaftsfriedens in der Seeschifffahrt, 16 Bl., o. D. (Anfang 1938): BArchB, R 58/3440.
    131 Vgl. die Dissertation von Dieter Nelles über den gewerkschaftlichen Widerstand der Seeleute (Anm.3), in der er den besonderen Charakter der Seeleutebewegung als einer radikalen Nebenströmung der deutschen Arbeiterinnen- und Arbeitergeschichte herausarbeitet.
    132 Vgl. die Fallbeispiele in: Amt Information der DAF, Störungen des Wirtschaftsfriedens in der Seeschifffahrt (Anm.130), Bl. 8 ff.
    133 Ebenda, Bl. 12.
    134 Vgl. Friedrich Völtzer, Die neue Tarifordnung für die Seeschifffahrt. In: Hansa 74 (1937), S. 1896-1898.
    135 Vermerk des DAF-Fachamts Energie-Verkehr-Verwaltung Bremen, Betr. Nationalsozialistisches Seemannsheim in Bremen, 11. 3. 1939, StA Bremen, 3-S.2b.4.a.537.
    136 Wie Anm.6.
    137 Vgl. zum folgenden BArchB, NS 5 IV, Nr. 42-68; R 58/3.463 und 3.464.
    138 DAF-Zentralbüro, Amt Information, Abt. II B, Rundschreiben Betz, Betr. Arbeitsniederlegung in Betrieben 7. 7. 1936, BArchB, R 58/3463, fol. 177f.
    139 Vgl. die einleitenden Ausführungen in: Amt Information, Arbeitsniederlegungen in Betrieben, Folge I. Wiener Library, Nr. 565 A. Der Bericht ist abgedruckt in: Doris Kachulle (Einl.). Arbeitsniederlegungen in Betrieben“. Ein Bericht des DAF-Geheimdienstes über eine Streikbewegung im Jahre 1936, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 6 (1991), H. 4, S. 85-109, hier S. 92-96 Abgedruckt als Dokument Nr. 12 in dieser Edition.
    140 Schreiben des Amts Information an das Gestapa, Kriminalkommissar Sattler, o. D. (August 1936, mit Zusammenfassung der Meldungen über Arbeitsniederlegungen, bei denen Wanderarbeiter landwirtschaftlicher Betriebe eine Rolle spielten. BArchB, R 58/3436, fol. 232 ff. Aus diesen Unterlagen wurde später ein Sonderbericht über die Rolle „gaufremder Arbeitskräfte“ bei de Arbeitsniederlegungen erarbeitet, der jedoch bislang nicht lokalisiert werden konnte
    141 Dokumentiert in: BArchB, R 58/3.463, fol. 80 ff.
    142 Vgl. die Berichterstattung darüber in: BArchB, R 58/3.464.
    143 Vgl. die „Liste der Arbeitsniederlegungen bis Ende November 1936“, Anhang I zu: Arbeitsniederlegungen in den Betrieben (wie Anm.139), S. 102-107. Abgedruckt als Dokument Nr. 12 in dieser Edition [vorl. Buch – Publ.].
    144 Daß aber auch der zur Beilegung des Abteilungsstreiks in den DKW-Werken nach Spandau geeilte DAF-Kreiswalter seine Rede mit den Worten begann: „Meine Herren, wir sind nicht in Frankreich, wir sind in Deutschland, wenn Ihr in 1/4 Stunde nicht in den Betrieb hineingeht, so kommt die Staatspolizei und holt Euch alle weg“. wurde besonders übel vermerkt. Vermerk des Gestapa-Referats II 1 E an II 1 A, Betr. Streik in den DKW-Werken der Auto-Union AG Berlin Spandau, 19. 8. 1936. BArchB, R58/3464, fol. 20 f.
    145 Vermerk des Gestaporeferats II 1 A 2 über eine Besprechung im Reichswirtschaftsministerium, Betr. des Anwachsen von Streiks in den Betrieben am 27. 7. 1936, 28. 7. 1936. BArchB, R 58/3463, fol. 177 f.
    146 Amt Information, Richtlinien und Praxis der kommunistischen Internationale zur Zersetzung der Betriebsgemeinschaft, o. D. (Anfang 1937). BArchB, R 58/578, fol. 12-54, hier fol. 30. Abgedruckt als Dokument Nr. 13 in dieser Edition [vorl. Buch – Publ.].
    147 Vgl. die ständige Dokumentation und Kommentierung der einschlägigen illegalen Flugschriften in: BArchB NS 5 IV, Nr. 24-53.
    148 Vgl Vermerk der Gestapa-Abteilung II A Betz, Abteilungsleiterbesprechung am 26. 1. 1937 über den Opelstreik 19. 1. 1937, BArchB, R 58/3463.
    149 Vgl. Amt Information, Richtlinien und Praxis der kommunistischen Internationale zur Zersetzung der Betriebsgemeinschaft (Anm.146). Abschnitt C: Auswirkung und Abwehr der kommunistischen Propaganda, fol. 45 ff. Abgedruckt als Dokument Nr. 13 in dieser Edition [vorl. Buch – Publ.].
    150 Amt Information, Richtlinien und Praxis der kommunistischen Internationale zur Zersetzung der Betriebsgemeinschaft (Anm.146), fol. IV f.
    151 SS-Gruppenführer Heydrich in Verbindung mit dem Obersten Ehren und Disziplinarausschuß der DAF, Wie kämpft der Staatsfeind? Anlage z. Monatsbericht-Linksbewegung Juni 1936. BARchB R 58(3463, fol. 75 ff.
    152 Vgl. die umfangreichen Aktivitäten des DAF-Geheimdiensts zur Durchsetzung der NS-Symbolpraktiken und zur Terrorisierung abweichender Verhaltensweisen: BArchB, NS 5 IV, Nr. 28, 32, 48, 62, 70 und 81.
    153 Dresdner Bank, BArchB, NS 5 IV, Nr. 89.
    154 Amt Information an SD-Hauptamt, Betz, Vgn. Pauline Jäger, 7. 1. 1937. BArchB, R 58/565. fol. 51 f.
    155 Gau-I-Referent Notter an Amt Information, Betz, Firmen Sapt AG für Textilprodukte und Wolf & Söhne, Stuttgart-Untertürkheim – Wohnungsverlegung des Betriebsführers Walter Wolf und des Stellvertr. Robert Weil nach der Schweiz, 6. 7. 1937, BArchB, NS 5 IV, Nr. 82, fol. 11 f. Abgedruckt als Dokument Nr. 36 dieser Edition [vorl. Buch – Publ.].

    Karl Heinz Roth

    (Karl Heinz Roth: Facetten des Terrors. Der Geheimdienst der „Deutschen Arbeitsfront“ und die Zerstörung der Arbeiterbewegung 1933 – 1938. Bremen 2000, S. 7 – 44; hier S. 30-40)

    +*+
    *+*

  • Der Rote Fels – Roman aus China (15)

    Luo Guang-bin
    und
    Yang Yi-yän
    1965
    Übersetzt von Otto Mann

    <<< vorausgehende Texte (14)(13)(12)(11)(10)
    (9)(8)(7)(6)(5)(4)(3)(2)(1)*
    * (1) enthält ‚Liste der Hauptpersonen‘.

    Wieder hatte sich die schwarze Nacht über die ‚Höhle‘ gesenkt, wie man das KZ allgemein nannte.
    An den Windlöchern hingen die Gesichter und sahen zur Folterzelle hinüber. Frostig wehte der Nachtwind.

    „Schon wieder mitten in der Nacht Vernehmung.“

    „Schö Peng-fe und Dschu Djiä sind auch gekommen.“

    „Wen sie wohl wieder vorhaben?“

    „Doch nicht Hsü Yün-feng?“

    fragte Liu Si-yang.

    Hsü stand aufrecht an seiner Zellentür. Yü Hsin-djiang konnte in dem trüben Lampenschein sein nachdenkliches Gesicht erkennen. Er mußte an Djiang Djiä denken. Kurz nach der Trauerfeier für Lung Guang-hua war sie eingeliefert worden. Jeder wußte, daß sie stark blieb und die Genossen schützte. Und jeder wußte, was das bedeutete.
    Nachdem die Lagerleitung die Bedingungen damals angenommen hatte, wagte sie nicht mehr, mit den alten Mitteln vorzugehen. Umso haßvoller rächte sie sich jetzt an Djiang Djiä. Schmerz und Zorn erfüllte die Menschen, die mit ansahen, wie Djiang Djiä für sie alle leiden mußte.

    „Die Eule ist mit seinen Spießgesellen zur Frauenzelle gegangen.“

    „Wen holen sie?“

    „Djiang Hhsüä-tjin.“

    „Tatsächlich, da kommt Djiang Djiä.“

    „Schon wieder sie!“

    In den Zellen wurde es still. Nach geraumer Zeit hörte man aus der Folterzelle:

    „Redest du, ja oder nein?“

    Gebrüll und Gelächter drang herüber, dann herrschte wieder Stille. Nach einer Weile antwortete eine furchtlose Stimme:

    „Ich kenne die Namen und Adressen der Funktionäre und auch der anderen Genossen. Aber ihr werdet nicht das geringste erfahren.“

    So war sie vom ersten Tage an, ruhig und bestimmt. Gelächelt hatte sie damals, als sie eingeliefert wurde. Aber den Genossen wurde deshalb nicht leichter ums Herz.
    Die das Verhör leiteten, merkten an der ruhigen Stimme Djiang Djiäs, daß sie nicht weiterkamen, und schienen eine neue Taktik zu überlegen.

    „Dieser Schuft von Fu Dschi-gao!“

    schimpfte Yü Hsin-djiang.

    „Wurde mit Djiang Djiä eigentlich noch jemand verhaftet?“

    „Nur sie allein.“

    „Die Kolonne aus den Huaying-Bergen soll versucht haben, sie zu retten, aber sie hatten sie eine Nacht vorher heimlich auf einem Schiff fortgeschafft.“

    Schö Peng-fes überhebliches Gelächter wurde laut:

    „Glaubst du vielleicht, daß wir mit einer Frau nicht fertig werden? Ganz wie du willst, wir werden dir schon zum reden verhelfen!“

    Darauf erhob sich wieder das höhnische Gebrüll der Banditen.
    So verging diese Nacht, die für alle schmerzvoll war. Die Sterne verblaßten schon. Bald würde der Morgen anbrechen.

    „Hast du es dir überlegt? Wirst du sprechen?“

    „Nein.“

    Die Antwort kam schwach und leise.

    „Fingerfolter. Überleg es dir gut.“

    Es kam keine Antwort.
    Es war, als spüre jeder selbst, wie ihr die Bambussplitter in die Fingerkuppen getrieben wurden, wie das Blut floß.

    „Redest du?“

    Keine Antwort.

    „Noch einmal.“

    Der Wut Schö Peng-fes war anzumerken, daß sie das, was sie von Hsü Yün-feng nicht erfahren hatten, auch Djiang Djiä nicht entreißen konnten. Von Fu Dschi-gao hatten sie erfahren, daß Djiang Djiä vorher Bezirkssekretärin der Partei gewesen war. Nach ihrer vielleicht noch wichtigeren Funktion auf dem Dorf und der Spur, die zur illegalen Partei führte, suchten sie vergeblich. Da half auch nicht die grausamste Folter.
    Die Genossen in den Zellen hörten das Schwappen von Wasser.
    Das Toben Schö Peng-fes war nicht mehr zu vernehmen, aber auch von Djiang Djiä hörten sie nichts. Noch immer standen sie regungslos an den Windlöchern.

    Dem Menschen ist die Tür verschlossen.
    Den Hunden steht sie offen.
    Man sagt:
    Kriech heraus, in die Freiheit!
    Ich liebe die Freiheit,
    Aber ich weiß,
    Daß ein Mensch kein Hund ist …

    Wer sang dort? Es war ja kaum hell. Ungeachtet des kalten Windes hatte Liu Si-yang bis jetzt an der Tür gestanden. Gedankenverloren blickte er auf die herbstlichen Berghänge. Die schrägen Strahlen der eben aufgehenden Sonne fielen auf das ausgedörrte Gestrüpp. Von den vereinzelt stehenden Bäumen war das Laub gefallen. Jetzt steckten sie ihre kahlen Zweige in den Tag. Nur der kalte Glanz auf den Maschinengewehren und die elektrisch geladenen Drähte drohten unverändert.
    Er trat zu seiner Schlafstelle, holte den aus einem Bambussplitter geschnittenen Stift aus der Ecke und stellte die Tusche bereit, die er sich aus der Asche verbrannter Baumwolle hergestellt hatte.
    Er begann, in sein Heft zu schreiben, eine kleine Gedichtsammlung, „Gedichte hinter Gittern„, die er begonnen hatte, seit er in Haft saß.

    „Djiang Djiä kommt zurück“,

    verkündete Yü Hsin-djiang, der immer noch an der Tür stand.
    Die große Eisentür an der Mauer wurde geöffnet. Die Eule trat herein.

    „Nicht hersehen!“

    rief er laut.
    Trotzdem reckten sich alle auf die Zehenspitzen. Zwei Aufseher hatten Djiang Djiä in die Mitte genommen. Sie war nach dieser Schreckensnacht halb bewußtlos und konnte kaum sehen. Von ihren Händen tropfte Blut. Atemlos und zornerfüllt sahen sie, wie die Peiniger sie zugerichtet hatten. Von Zelle acht erhob sich stark und zuversichtlich ein Lied. Langsam erlangte Djiang Djiä das Bewußtsein wieder. Sie schien Hsü Yün-feng erkannt zu haben und seine Augen, die ihr Mut zusprachen. Das war mehr als aller Trost, half mehr als alle Medizin. Ein Ruck ging durch ihren Körper. Sie schwankte leicht, aber mit letzter Willensanstrengung gelang es ihr schließlich, aufrecht zu stehen. Jetzt war ihr Gesicht zu erkennen, blutlos blaß. Mit einer Geste des Ekels stieß sie die Wärter von sich und schritt mühselig, aber erhobenen Kopfes auf ihre Zelle zu.
    Nach wenigen Schritten brach sie zusammen.
    Aus der Frauenzelle stürzten sie ihr entgegen und trugen sie hinein. Die Tür fiel ins Schloß.

    „Wie geht es ihr?“

    wurde ein über das andere Mal gefragt. Die Sonne schien jetzt in die Frauenzelle. Man konnte hinter den Gitterstäben hastige Geschäftigkeit erkennen.

    „Diese Bestien, wie sie sie zugerichtet haben!“

    Hände klammerten sich um Gitterstäbe. Vor der Zelle wurde ein Kübel verschimmelter Reis abgestellt, aber wem war jetzt nach Essen zumute! Liu Si-yang saß auf dem Boden und schrieb, mit Tränen in den Augen.

    „Wie geht es ihr? Weiß man etwas?“

    „Sie ist immer noch bewußtlos, die Frauen kümmern sich um sie.“

    Eine Stunde verging, zwei. Yü Hsin-djiang stand in der Mitte der Zelle und trug das Gedicht vor, das Liu eben geschrieben hatte:

    Glühende Eisen,
    Bambussplitter, kaltes Wasser,
    Strom und alle Qual.
    Doch der Wille des Menschen
    Ist blank wie Gold
    Und hart wie Stahl.
    Mit Eisen und Holz,
    Martern Tag und Nacht,
    Aber den Stolz
    Und das Leben der Genossen
    Haben sie nicht herausgebracht.
    Bajonette drohen Tod,
    Doch Dein Herz schlägt
    Heiß und rot!

    Inzwischen bemühten sich die Frauen um Djiang Djiä. Sun Ming-hsia wusch und desinfizierte notdürftig die Wunden. Sie mußte Splitterstücke aus den Fingern ziehen, und Djiang Djiäs Zustand trieb allen die Tränen in die Augen.

    „Ruhig bleiben, Ming-hsia!“

    „Gib mir das Fläschchen.“

    Eine andere nahm ihr das Merkurochromfläschchen aus der Hand und half ihr.
    Djiang Djiä lag noch immer halb ohne Bewußtsein, sie biß die Zähne zusammen, um nicht laut herauszuschreien vor Schmerz. Sun Ming-hsia erinnerte sich des starken und guten Lächelns, mit den Djiang-djiä gestern abend zur Folter gegangen war. Sie würde es nie vergessen, dieses Lächeln, das so viel Kraft geben konnte.

    „Habt ihr das Pulver* fertig?“

    Sun Ming-hsia bestrich die Wunden mit dem Pulver und umwickelte die Finger vorsichtig mit Watte und Bauwollstreifen.
    Nach und nach kehrte wieder etwas Farbe in Djiang Djiäs Gesicht zurück. Ihr Mund zuckte.
    Es war so ruhig im ganzen Lager, daß man das Pendel der Uhr aus dem Büro vernahm.

    „Sie hat sich die Lippen zerbissen, als sie gefoltert wurde“,

    erklärte Sun Ming-hsia.

    „Sagt den Genossen, daß sie bald zu sich kommt.“

    „Vielleicht sollte man ihr etwas unter den Kopf legen“,

    meinte Li Tjing-dschu schwach. Es war die, der sie das Bein gebrochen hatten.

    „Das ist nicht gut“,

    lehnte Sun Ming-hsia ab.

    „Mach dir keine Sorgen, leg dich hin.“

    „Ruh dich etwas aus, Ming-hsia, du bist ja todmüde.“

    „Keine Angst, ich bin nicht müde.“

    „Woher Djiang Djiä nur diese Kraft hat.“

    Li Tjing-dschu. die sie schon länger kannte, erzählte:

    „Ich habe lange mit ihr zusammengearbeitet. Sie konnte kaum ‚Vater‘ sagen, als er starb. Die Mutter ernährte sich mühsam von etwas Näharbeit, und ihr kärglicher Besitz wanderte häufig zur Pfandleihe. In der Stadt sollte man besser leben, hatte ihre Mutter gehört, und so ist sie mit dem siebenjährigen Kind nach Tschungking gekommen. Aber hier wüteten Krieg und nackter Hunger noch viel schlimmer. Die Mutter verzweifelte und stürzte sich in den Fluß. Djiang Djiä kam ins Waisenhaus, wo sie die anderen herumstießen und ihr nicht selten das Essen aus der Handrissen. Aber weinen wollte sie nie. Mit neun Jahren hat sie in einem Textilbetrieb zu arbeiten angefangen. Zwei Jahre ging das, dann erkrankte sie so schwer, daß sie davongejagt wurde.“

    Li Tjing-dschu erinnerte sich genau, wie sie vor zehn Jahren gemeinsam gelernt und gearbeitet hatten. In einem Bambushain an einem Bergbach war es gewesen, wo Djiang Djiä ehrfürchtig zu der Roten Fahne mit Hammer und Sichel aufgeblickt hatte:

    „Ich möchte Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas werden.“

    „1947“,

    führ sie fort,

    „schickte die Partei eine Gruppe von Genossen zur Unterstützung des bewaffneten Kampfes aufs Land. Djiang Djiä und ihr Mann, Peng Sung-tao, meldeten sich sofort. Die Partei schickte jedoch nur ihren Mann. Djiang Djiä sollte in Tschungking bleiben. Ich war mit am Hafen, als sie ihren Mann verabschiedet hat.“

    Li Tjing-dschu war kurz darauf ebenfalls aufs Land geschickt worden, wurde aber unterwegs verhaftet.

    „Weiß sie , daß ihr Mann gefallen ist?“

    fragte Sun Ming-hsia.

    „Sie weiß es. Sie hat es selbst gesehen.“

    „Und ihr Kind? Wo ist es jetzt?“

    „Bei Genossen gut untergebracht.“

    Am Nachmittag wurden die Zellen nacheinander geöffnet und die Insassen zu Spaziergang herausgelassen. Hsü hatte die Genossen aufgefordert, sich an Djiang Djiä ein Beispiel zu nehmen und von ihr zu lernen. Jetzt nutzten die Genossen die Zeit des Spazierganges, um Solidaritätsbriefe und Gedichte, die sie selbst geschrieben hatten, in die Frauenzelle zu schmuggeln. Alle hatten gesehen, wie heldenhaft Djiang Djiä die wütende Rache des Gegners auf sich genommen hatte. Die Folterinstrumente hatten versagt. Es blieb kein Mittel mehr. Das war ein Sieg für Djiang Djiä und für alle.

    Sun Ming-hsia hielt einen Brief in Händen.

    „Hört!“

    rief sie und begann zu lesen:

    Sturmvogel,
    Der durch das Dunkel
    in den Morgen fliegt,
    Fliege ostwärts,
    Kämpfe für die Partei!

    Zelle vier

    Sun Ming-hsia verlas gerade einen weiteren Brief, als sie eine leise Stimme vernahmen:

    „Was machst du, Ming-hsia?“

    „Djiang Djiä! Geht es dir etwas besser? Brauchst du etwas?“

    Djiang Djiä blickte sich mit großen Augen um und lächelte. Sun Ming-hsia wußte vor Freude nicht, was sie zuerst tun sollte. Dann besann sie sich auf den Brief, den sie in der Hand hielt.

    „Das sind alles Briefe, die die Genossen für dich geschrieben haben. Der hier ist von Zelle zwei.“

    „Zelle zwei? Die Zelle des Genossen Yä Ting?“

    Sie lächelte glücklich, als sie sah, wie Sun Ming-hsia nickte.

    „Und was sagen sie?“

    ‚Liebe Djiang Djiä!
    Über einen Monat erträgst Du die Folter und bist stark geblieben. Nur Feiglinge und Schwächlinge werden ihr erliegen, nicht Kommunisten. Was auch geschehen mag, unsere Gedanken sind immer bei Dir.
    Wir geloben der Partei, standhaft und unerschütterlich zu bleiben, tapfer und stark wie Du.‘

    Djiang Djiä hörte voller Bewegung zu.

    „Was bin ich, wenn ich euch und die Partei nicht hätte.“

    Sie war froh. Nicht nur über die Genossen und über die Prüfung, die hinter ihr lag, sondern auch darüber, daß es mit dem Verräter aus war, daß er keinen mehr ans Messer liefern konnte. Natürlich raste der Feind und quälte sie dafür um so mehr, aber die Partei war gesichert, und das überwog alles andere.

    „Der hier ist aus Zelle sieben. Die Genossen lassen dich von Hsü Yün-feng grüßen.“

    Djiang Djiä war so bewegt, daß Sung Ming-hsia sie beruhigen mußte.

    „Brauchst du etwas?“

    fragte sie, als sie sah, wie Djiang Djiä sich umblickte.

    „Unser Kleines bewegt sich. Es ist sicher wach geworden.“

    „Es ist wirklich wach. Sieh nur, wie süß es guckt“,

    sagte Li Tjing-dschu und reichte das Kind zu Sun Ming-hsia hinüber.

    „Das arme Kleine. So winzig und ohne Vater und Mutter“,

    trauerte jemand leise.

    „Wir alle werden ihm Vater und Mutter sein“,

    versicherte Djiang Djiä und drückte das kleine Bündel an die Brust.

    „Weiß man, wie die Eltern hießen?“

    fragte sie.

    „Nein. Die Mutter war nur wenige Tage bei uns. Kurz vor dem Ende habe ich sie gefragt, wie sie heißt. ‚Kommunist‘, hat sie geantwortet. Mehr wollte sie nicht sagen.“

    „Kommunist.“

    Djiang Djiäs Tränen fielen auf das kleine Gesichtchen.

    „Djiang Djiä!“

    rief es von der Tür her.

    „In der Männerzelle stehen sie schon seit gestern abend auf Posten. Sie wollen wissen, wie es dir geht.“

    „Ming-hsia, hilf mir schreiben.“

    Wort für Wort diktierte sie.
    Spät abends gelangte auch der Brief durch geheime Mauerspalten in alle Zellen. Die Genossen saßen bei trübem Lampenschein, und doch war es, als ob die Sonne ihre hellsten Strahlen zu ihnen sandte. Sie lasen es sich immer wieder vor:

    Was ist für eine Kommunistin die Folter?
    Die Splitter sind aus Bambus,
    Unser Wille ist aus Stahl!

    Fußnoten

    * Aus einer Art Moos zubereitet, das an Mauern wächst.

    Luo Guangbin (links) und Yang Yiyan

    (Luo Guang-bin und Yang Yi-yän: Der Rote Fels – Roman aus China. [Zuerst erschienen im Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking, 1965] Übersetzt von Otto Mann, Stuttgart 1977, S. 215-222)

    *

    *

    *

  • Massenmord im Rombergpark und in der Bittermark (4)

    Ulrich Sander
    2008

    <<– zum vorausgehenden Kapitel d. Buches

    Die Mordbefehle: „… sind zu vernichten“

    Die Nazidienststellen im Rheinland, in Westfalen und im Lipperland waren äußerst nervös und sahen überall Anzeichen für bevorstehende Arbeiter- und Gefangenenaufstände. Davon zeugt insbesondere ein Schreiben, das jetzt in der Gedenkstätte Stukenbrock gefunden wurde. Folgendes Schreiben sandten die Reichsstatthalter (Gauleiter) Mitte Februar 1945 als Abschriften des Befehls vom 23. Januar 1945 an die Landräte, die Gendarmerie- und Polizeidienststellen:

    Der Höhere SS– und Polizeiführer West
    in den Gauen Düsseldorf, Essen, Köln-Aachen,
    Westfalen-Nord, Westfalen-Süd und im
    Wehrkreis VI
    Befehlshaber der Ordnungspolizei
    II (2c) nr. 82/45 g.
    Kaiserwerth, den 23. 1. 1945
    Befehlsstelle
    Geheim!
    West – VO – teilt mit:
    Betrifft: Versorgung der Gefangenen mit Waffen etc.
    Verschiedene Feststellungen lassen darauf schließen, dass der Feind z. Zt.
    die Versorgung der KZ- und Kriegsgefangenenlager mit Waffen und Sprengstoff
    sowie mit Funkgeräten ernsthaft betreibt und die Insassen der Lager für einen
    Großeinsatz vorbereiten will.
    Wie sich aus erbeutetem Kurier-Material des „MNPGD“ (Mouvement
    National des Prisonniers des Guerre et Deportés
    ) ergibt, soll für einen späteren
    Tag „J“ eine militärische Aktion vorbereitet werden, d. h. es sollen in einem
    Augenblick höchster Spannung in Deutschland Waffen, Sender und militä-
    rische Führer abgeworfen werden. Zur Vorbereitung dieser Maßnahmen sollen
    die Rote Kreuz-Delegierten Bericht über die geographische Lage der Lager und
    über die Stimmung unter den Gefangenen und Arbeitern erstatten sowie in den Lagern die Leute feststellen, die zu solchen Aktionen bereit sind, damit
    mit abgeworfenen Führern am Tag „J“ sofort Verbindung aufgenommen
    werden kann.
    Ein erfasster Feindauftrag des engl. Nachrichtendienstes lautet: „Ich trage
    Ihnen auf, Nachforschungen nach den Aufenthaltsplätzen der alliierten Kriegs-
    gefangenen anzustellen. Im besonderen interessiert Platz (Gebäude), Anzahl, Stärke der Bewachung.“
    Nach Aussagen zweier am 27. 11. 1944 festgenommener deutscher Sol-
    daten, die als Kriegsgefangene vom englischen ND zu Sabotagezwecken in
    Deutschland mit Fallschirm abgesetzt worden waren, zeichnet auf der Sabo-
    tage-Schule in Guifort bei London der Agent Prenhold Pläne von KZ-Lagern,
    für die Waffen- und Sprengstoffabwürfe erfolgen sollen.
    Ich bitte die Dienststellen zu erhöhter Aufmerksamkeit anzuhalten. Es ist
    wichtig, dass mir alle Vorkommnisse und Begebenheiten – auch kleinen Um-
    fanges -, die auf eine Feindtätigkeit im inne vorstehenden Berichtes schließen
    Lassen, sofort zu melden.
    Erfahrungsgemäß erfolgte bisher der Abwurf durch Einzelflugzeuge bei
    Nacht oder auch in Verbindung mit Luftangriffen in Nähe der bombardierten
    Orte. Diese bisherigen Verfahren schließen nicht aus, dass planmäßig auf alle
    vorgesehenen Stellen Massenabwürfe erfolgen.
    gez. Liessem
    SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei

    Auch die Anordnungen vom 24. und 26. Januar 1945 veröffentlichen wir im Wortlaut. Das Telegramm der Gestapo über Liquidierung ohne Gerichtsbeschluß lautet:

    Insp. Düsseldorf Nr. 7900 24. 1. 45 22.05

    Walter Model im Gespräch mit Hitlerjungen, Oktober 1944

    An die Leiter der Staatspolizei(leit)stellen Düsseldorf, Münster, Dortmund
    und Köln.
    Geheime Reichssache – persönlich.
    Die Gegenwärtige Gesamtlage wird Elemente unter den ausländischen Ar-
    beitern und auch ehemalige deutsche Kommunisten veranlassen, sich umstürz-
    lerisch zu betätigen. Größte Aufmerksamkeit ist daher geboten. Dass der Feind
    Vorbereitungen getroffen hat, geht aus einer Meldung des O.B. West (Oberbe-
    fehlshaber der Wehrmacht-West, das war Generalfeldmarschall Walter Model
    – d. V.) hervor. Es ist in allen sich zeigenden Fällen sofort und brutal zuzu-
    schlagen. Die Betreffenden sind zu vernichten, ohne im formellen Weg vorher
    beim RSHA Sonderbehandlung zu beantragen. Die Leiter der Kriminalpoli-
    zeistellen sind persönlich von Ihnen entsprechend zu informieren.

    Walter Albath
    Heinrich Müller

    Dieser Befehl benannte Ausländer, Umstürzler und Kommunisten als Feinde, die „zu vernichten“ seien. Für ausländische Häftlinge gab es schon früher die „Sonderbehandlung“, wie die Massentötung genannt wurde. Um auch deutschen Staatsangehörigen „Sonderbehandlung“ zuteil werden zu lassen, erging ein besonderer Befehl, mit dem für sämtliche Opfer jede juristische Verfahrensweise, jedes Einschalten von Gerichten und Beschwerdeinstanzen ausgeschlossen wurde. Dieser Befehl wurde vom Amtschef IV des Reichssicherheitshauptamtes, dem Gestapochef Heinrich Müller, und vom Inspekteur der Sicherheitspolizei und es Sicherheitsdienstes der SS, Dr. Albath, an die Leiter der Gestapo Düsseldorf, Münster, Köln und Dortmund am 25. Januar 1945 telegrafisch versendet; es wurde die Weisung erteilt, bei der Liquidierung – genannt „Sonderbehandlung“ – von Häftlingen aus eigener Machtvollkomenheit zu entscheiden.
    Am 26. September 1945 wurde diese Anordnung schriftlich wiederholt. Sie lautete:

    Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD
    IV – Tgb. Nr. ll/44 (6) gRs
    Düsseldorf, den 26. Januar 1945
    Geheime Reichssache!
    5 Ausfertigungen, 5. Ausfertigung
    An die
    Leiter der Staatspolizei(leit)stellen
    z. Hd. v. SS-O’Stubaf. ORR. Dr. Kulzer -oViA-
    Düsseldorf, Münster, Dortmund, Köln
    Betrifft: Sonderbehandlung ausländischer Arbeiter.-
    Bezug: Dienststellenbesprechung am
    19.1.1945
    beim IdS Düsseldorf
    Anlagen: Keine.
    Vom Amtschef IV ist meine Anordnung, dass Sonderbehandlung bei der besonderen Lage im Wehrkreis IV auch ohne vorherige Genehmigung des Reichssicherheitshauptamtes durchgeführt werden kann, bestätigt worden. In diesen Fällen ist nachträglich an das Reichssicherheitshauptamt entsprechend zu berichten. Dort, wo es sich um eine größere Anzahl handelt, wird nur zum Teil eine öffentliche Sonderbehandlung angebracht sein. Im übrigen kann diese stillschweigend und auch durch Erschießen erfolgen. Von Anträgen an das Reichssicherheitshauptamt auf Sonderbehandlung in einem KZ ist zukünftig abzusehen. Ich ersuche nunmehr allenthalben nach dieser Weisung zu vefahren. Sollte im gegebenen Falle gegen Bandenmitglieder, die Reichsdeutsche sind, oder sonstige Rechtsbrecher mit deutscher Staatsangehörigkeit auch die Sonderbehandlung notwendig erscheinen, und dieses könnte bei der gegenwärtigen Lage manchmal der Fall sein, so ist entsprechender Antrag an mich zu richten. Ich werde diese Anträge dem Höheren SS- und Polizeiführer West vorlegen, der vom Reichsführer-SS diesbezügliche Vollmachten erhalten hat.
    gez. Dr. Albath, SS-Standartenführer
    Beglaubigt: (Unterschrift)
    SS-Untersturmführer und Krim.-Obersekretär.

    Der Dortmunder Polizeihistoriker Alexander Primavesi schrieb später über diese Befehle und ihre Wirkungen (in den „Ruhrnachrichten“ vom 31. März 1994):

    Sitz der Dortmunder Gestapo, Benninghofer Straße 16
    heute: Alte Benninghofer Straße 18

    „Hochmotiviert durch das Schreiben aus Düsseldorf brachten die Gestapo-Beamten in den Wochen vor Ostern immer mehr Menschen in die Zellen der Steinwache und des Gestapo-Kellers in der Benninghofer Straße. Zwangsarbeiter aus dem gesamten Bereich des Regierungsbezirks Arnsberg, Holländer, Belgier, Franzosen, Polen, Jugoslawen und Russen, verschleppten die Gestapo-Beamten in ein Lager im Bereich der Hütten-Union in Dortmund-Hörde.
    Von jeder Verantwortung gegenüber einer höheren Stelle entbunden, folterten die Beamten hemmungslos, um weitere ‚umstürzlerische Elemente‘ aufzuspüren.“

    Albert Hoff-mann

    Einen Hinweis auf das Motiv des nur scheinbar sinnlosen Mordens fand Alexander Primavesi in der Aussage eines Gestapobeamten vor dem Entnazifizierungsausschuss im November 1946. Dieser erinnerte sich, wie NSDAP-Gauleiter Albert Hoffmann eines Tages den Gestapo-Keller besuchte. Beim Anblick von zwei Gefangenen, denen man die Misshandlungen deutlich ansah, höhnte er:

    „Ach, Sie wollen Deutschland retten? Da sind wir Euch aber ein bisschen zuvorgekommen.“

    Primavesi:

    „Es war der wahnwitzige Vorsatz, niemanden aus den Reihen der politischen Gegner am Leben zu lassen, damit sie nach dem Zusammenbruch nicht führende Positionen besetzen konnten, der die Gestapo zu dieser letzten Abrechnung bewegte. Bereits Tage vor den Erschießungen verteilten die Gestapo-Beamten die Wertsachen der Opfer unter sich, danach betranken sie sich bis zum Umfallen.“

    Georg Altner

    Alexander Primavesi hat aus den Dortmunder Gestapo-Akten noch weitere Mordfälle herausgelesen. Der Dortmunder Polizeipräsident Altner hatte ab März Plakate aushängen lassen:

    „Wer plündert, wird erschossen.“

    Wer ein paar Kartoffeln oder ein Paar Schuhe aus einem zerbombten Haus mitgehen ließ, war todgeweiht, wenn ihn die Polizei erwischte. Exekutionsort war der Sportplatz der Polizei an der Hohen Straße, wo heute das Polizeipräsidium steht. An einer Wand, die vor einem Graben errichtet war, wurden nach Informationen Primavesis 100 Zwangsarbeiter und Deutsche auf Anordnung des Polizeipräsidenten erschossen. Nach Einrücken der Amerikaner nahm sich der Polizeipräsident das Leben.

    Sonja Zekri

    Sonja Zekri fällt in der Artikelserie in den „Ruhrnachrichten“ vom 1. April 1994 ein vernichtendes Urteil über die dann folgende „Entnazifizierung„:

    „Die Zeit arbeitete für die Gestapo. Mit der neuen Kluft zwischen West und Ost verloren die englischen Alliierten spürbar das Interesse an einer Aburteilung. Schließlich sollten die Beamten den neuen deutschen Staat, der als Puffer gegen den Kommunismus funktionierte, stabilisieren. Ein erheblicher Teil der Gestapo-Beamten wurde später wieder bei der Dortmunder Polizei eingestellt.“

    Rudolf Braschwitz

    So wurde ein Dr. Braschwitz 1957 zum stellvertretenden Leiter der Dortmunder Kriminalpolizei berufen. Braschwitz war in der Zentrale des SS-Führers Himmler, dem Reichssicherheitshauptamt, als Sachbearbeiter für die Bekämpfung des Kommunismus tätig.
    Doch eilen wir der Zeit nicht zu sehr voraus und gehen wir zurück in die Zeit nach Eintreffen der verhängnisvollen Fernschreiben.

    9. Februar 1945 – Beginn der Torturen

    Paul Mai-nusch
    Paul Pietzko

    In den frühen Morgenstunden des 9. Februar 1945 wird Wilhelmine Mainusch verhaftet. Ihr Mann, Paul Mainusch, ist gerade in Wuppertal. In derselben Nacht werden in Dortmund, Hagen und anderen Orten schlagartig Massenverhaftungen vorgenommen.
    Der Schwager des blinden Paul Pietzko, der städtische Angestellte Heinrich Sundermeier, schilderte seine Einlieferung später als Zeuge im Prozess folgendermaßen:

    Johann Gietler
    Au-gust Kanwi-scher
    Erich Mörchel
    Karl Mörchel

    „Meine Frau, meine Tochter und ich wurden gerade eingeliefert. Sieke stand schon dort mit dem Gesicht zur Wand. Wir mußten uns auch mit dem Gesicht an die Wand stellen, Es kam dann ein großer Schwung auf einmal an. Gietler kam und brüllte los. Beutel und Kanwischer wurden zur Vernehmung geholt. Ich habe Beutel dann nicht wiedergesehen. Und Kanwischer hat sich auf die Bank gesetzt, als er von oben wiederkam. Er sagte:
    ‚Die unerhörten Schläge, mit denen wir da oben traktiert werden, sind furchtbar. Ich kann das nicht mehr aushalten.‘ Gietler habe ich damals noch nicht dem Namen nach gekannt, aber meine Frau kannte ihn, den Frau Gietler und meine Frau kauften wohl in einem Geschäft. Gietler wohnte ganz in unserer Nähe. Gietler fragte, wo mein Schwager Paul sei. Ich bin von Vogler vernommen worden. Die Sekretärin Hildebrandt ging raus. Vogler zog eine Schublade heraus, nahm einen Gummischlauch, drohte und sagte: ‚Leg dich nur hin!‘ Dann schlug er mich fünf bis sechs Mal. Bei der Vernehmung konnte er mir nicht das geringste nacheisen, trotzdem mußte ich dreimal über den Tisch. Vier Wochen hatte ich Nierenbluten, sechs Wochen konnte ich nicht sitzen, weil das Gesäß so furchtbar zerschlagen war. Ich wurde gefragt, ob isch Heyen kenne. Ich kannte ihn nicht. Ich bin bei keinem Treff gewesen. Ich wurde nach Müller und Kanwischer gefragt. Ich kannte sie ebenfalls nicht. Ich lernte Heyen im Keller kennen. Die Frauen haben seinen Rücken gekühlt. Die beiden Brüder Mörchel wurden eine Nachts raufgeholt. Mit ausgerissenen Haaren, an denen noch die Kophhaut war, kam Karl zuück. Er zog die Haare aus der Tasche und zeigte sie uns.“

    178 Zeugen sind im Rombergparkprozess vernommen worden. Der größte Teil von ihnen hat Aussagen über die furchtbaren Misshandlungen durch die Gestapo-Schläger gemacht, denen Deutsche und Ausländer, Greise und Jugendliche, Frauen und Männer ausgesetzt waren. In der Anklageschrift fasste die Staatsanwaltschaft dieses Kapitel mit den Worten zusammen:

    „Die Vernehmungen wurden von sämtlichen Beamten grausam verschärft und mit Vorliebe zur Nachtzeit durchgeführt. Auch die sonstige Behandlung der Häftlinge widersprach allen elementaren Gesetzen der Menschlichkeit.“

    Und an einer anderen Stelle in der Anklageschrift heißt es über die Misshandlungen von Franzosen:

    „Auch die Vernehmungen der Angehörigen einer französischen Theatergruppe und ihre Behandlung während der Haft spotten hinsichtlich des zu Tage getretenen unmenschlichen Sadismus jeder Beschreibung.“

    Die schlimmsten sadistischen Quälereien aber mussten die sowjetischen und polnischen Gefangenen, die Ostarbeiter, erleiden. Adolf Neumann wurde am letzten Tag der Beweisaufnahme in der Sitzung des Schwurgerichts am 6. März 1952 als Zeuge vernommen. Der ehemalige Gestapo-Dolmetscher war zum Zeitpunkt des Prozessesein wohlbestallter Polizeimeister. Seine im Ermittlungsverfahren gemachten Aussagen wollte er nicht mehr wahrhaben und fand für seinen unglaubwürdigen „Gedächtnisschwund“ die zynische Ausrede:

    „Ich dachte, man legt heute keinen Wert mehr darauf, wenn damas Russen geschlagen wurden!“

    Es war die Zeit des Kalten Krieges, in der die Sowjetunion wieder der Feind Nr. 1 war. Und die Ex-Gestapo-Leute versuchten, das auszunutzen. Diese Antwort hat aber einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen. Denn wie ein roter Faden hatte sich durch die gesamte Beweisaufnahme gezogen, dass die Angehörigen der „Ostvölker“, vor allem aus der Sowjetunion und Polen, unsägliche Grausamkeiten zu erleiden hatten.
    Der Vorsitzende des Gerichts erwiderte erregt diesem Zeugen Neumann, der wegen des dringenden Verdachts der Mittäterschaft an Misshandlungen und Morden unvereidigt geblieben war:

    „Das war die frechste Antwort, die im ganzen Prozess gegeben wurde!“

    Auch der Erste Staatsanwalt konnte seine Empörung nicht zurückhalten:

    „Das Grauen läuft einem heute noch den Rücken runter, wenn man sich vor Augen hält, dass in ihrer Gegenwart so furchtbar mit diesen Menschen umgegangen wurde.“

    Ulrich Sander (Journalist)

    (Ulrich Sander: Massenmord im Rombergpark und in der Bittermark. In: Ders.: Mörderisches Finale – Naziverbrechen bei Kriegsende. Köln 2008, S. 41 – 48)

    * * *

    * *

    *

  • Eine kurze Geschichte der Demokratie – Von Athen bis zur europäischen Union (13)

    Luciano Canfora
    2004
    aus dem Italienischen von Rita Seuß

    << — (12)(11)(10)
    (9)(8)(7)(6)(5) … (4)(3)(2) (1)

    Arthur Rosen-berg

    5
    Jahrzehnte des Agierens in evolutionären Bahnen, unter Anerkennung des bestehenden politisch institutionellen Rahmens konnten nicht mit einem Schlag ausgelöscht werden; sie zeitigten vielmehr Konsequenzen. Im letzten Kapitel seiner Entstehung der Deutschen Republik erörtert Arthur Rosenberg die „dreizehn Punkte“ der (im November 1918) meuternden Matrosen in Kiel, wo die mächtige deutsche Kriegsflotte vor Anker lag.

    „Die Forderungen der aufständischen Matrosen waren durchaus unpolitisch“, schreibt er.
    „Unter den 13 Punkten, die der Soldatenrat des ersten Geschwaders aufstellte, geht am weitesten die Forderung, die verhafteten Matrosen von ‚Thüringen‘ und ‚Helgoland‘ [600 Matrosen, die am 30. Oktober wegen Gehorsamsverweigerung verhaftet wurden] sowie die im Jahre 1917 verurteilten Matrosen freizulassen. Auch für die Teilnehmer an der jetzigen Bewegung wird Straflosigkeit gefordert: Es soll ihnen ‚keine ungünstige Eintragung in das Führungsbuch gemacht werden!‘ Die Revolutionäre wollen also nicht, daß man ihnen die Revolution ins Führungsbuch schreibt“,

    kommentiert Rosenberg ironisch.
    Der erste Punkt des Programms, so führt er weiter aus,

    „ist die einheitliche Menage für Mannschaften und Offiziere. Neue Menagekommissionen sollen gebildet werden, ferner Beschwerdekommissionen der Mannschaften, die bei der Bestrafung der Leute zugegen sein müssen und Einspruch erheben dürfen. Die Grußpflicht gegenüber den Offizieren außer Dienst soll abgeschafft werden. Unvergleichlich ist Punkt 9: ‚Die Anrede Herr Kapitän usw. hat nur am Anfang eines Satzes zu dienen. Im weiteren Verlauf des Gesprächs fällt sie weg, und ich rede den Vorgesetzten mit Sie an!“

    Die Situation grenzt ans Paradoxe:

    „100.000 Matrosen haben gemeutert. Sie haben alle Kanonen. Das Leben der Offiziere hängt von ihrer Gnade ab. Das deutsche Kaiserreich zerbricht vor ihrer Erhebung, und dieselben Revolutionäre machen sich darüber Sorgen, daß sie künftig nicht mehr: ‚wollen Herr Leutnant‘ sagen möchten, sondern einfach: ‚Sie‘. Die politische Naivität und Unerfahrenheit deutscher Volksmassen findet hier einen geradezu rührenden Ausdruck. Die Matrosen dachten Anfang November 1918 weder an die Republik, noch an den Sturz der Regierung, noch gar an die Einführung des Sozialismus. Was sie wollten, war Sicherung des Friedens gegen ‚alldeutsche‚ Störversuche, und eine solche Milderung der preußischen Disziplin, die ihnen ihre menschliche Selbstachtung wiedergab“.125

    Gustav Noske
    Hugo Haase

    Der Einfluß der USPD und des Spartakusbundes war gering. Die Regierung schickte den sozialdemokratischen Abgeordneten Noske nach Kiel (der später noch denkwürdige Taten vollbringen sollte). Er beherrschte geschickt die Lage, während der USPD-Führer Haase kaum über eine Gefolgschaft verfügte.

    Kurt Eisner
    Wil-helm II.
    Philipp Scheide-mann

    Trotzdem blieb die Lage revolutionär. Die Streiks griffen auf Hamburg über und erreichten binnen weniger Tage Bayern. Am 7. November riefen die bayerischen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte hier die Republik aus – stark beeinflußt vom Führer der bayerischen USPD Kurt Eisner, der später von einem rechten Attentäter ermordet wurde. Sie überholten damit Berlin, wo der Sozialdemokrat Scheidemann, obwohl führendes Regierungsmitglied, die Monarchie als institutionellen Rahmen nicht antastete. Erst als die Revolution auch Berlin erreicht hatte und Kaiser Wilhelm in die neutralen Niederlande geflohen war, rief er die Republik aus.

    Max v. Baden

    6
    Die „Novemberrevolution“ führte also zur Gründung der Republik, nachdem der Kaiser abgedankt hatte. Sie brachte denselben Scheidemann in die Regierungsspitze (die nun nach sowjetischem Vorbild Rat der Volksbeautragten genannt wurde), der schon maßgeblich an der – von den sich auf dem Weg zum Sieg befindenden Alliierten gewünschten – Regierung Max von Baden beteiligt war. Eine Revolution fand nicht statt. Und im Januar 1919 sollte sofort eine Nationalversammlung gewählt werden.

    Friedrich Ebert

    Gewiß, mit der Übertragung der Regierungsgeschäfte durch Max von Baden auf den Sozialdemokraten Friedrich Ebert verlagerte sich das politisch-parlamentarische Gewicht nach links. Prinz Max von Baden schildert in seinen Erinnerungen seine letzte Unterredung mit Ebert vor der Amtsübergabe:

    „Ebert sagte zu mir: ‚Ich bitte sie dringend, zu bleiben.‘
    Ich fragte: ‚Zu welchem Zweck?‘
    Ebert: ‚Ich möchte, daß Sie als Reichsverweser bleiben.‘
    Diese Bitte war in den letzten Stunden von meinen früheren Mitarbeitern wiederholt an mich gerichtet worden. Ich erwiderte Herrn Ebert: ‚Ich weiß, daß Sie im Begriff sind, mit den Unabhängigen ein Abkommen zu treffen, und mit den Unabhängigen kann ich nicht zusammenarbeiten‘ „.126

    Max von Baden datiert dieses Gespräch auf den 9. November zwischen 17 und 18 Uhr. Eberts Bitte an den letzten kaiserlichen Reichskanzler, als „Regent“ zu bleiben, mutet recht erstaunlich an: Der SPD-Vorsitzende bittet um die Fortsetzung der – konstitutionellen – Monarchie (hoffentlich ohne „preußisches Wahlrecht„). In der Reichsverfassung war tatsächlich ein Regent vorgesehen, der in Funktion trat, wenn der Monarch sein Amt nicht ausüben konnte. Kaiser Wilhelm hatte abgedankt, ohne daß ein Regent eingesetzt worden wäre! Und nun forderte einerseits Ebert die Einsetzung eines Regenten, während andererseits Max von Baden, der kein Regent war, sich genau wie ein solcher verhielt, als er Ebert formal das Amt des „Reichskanzlers“ übertrug.
    Diese Fiktion hielt gerade zwei Tage. Schon am 10. November forderten die „Arbeiter- und Soldatenräte“ (benannt nach dem Vorbild der Sowjets) die Ausrufung der Republik und eine neue Regierung der „Volksbeauftragten“. Auch diesmal wurde die Kontinuität mit Hilfe einer juristischen Fiktion gewahrt. Die im Zirkus Busch versammelten „Räte“ wurden als die „Vertreter des gesamten deutschen Volkes“ betrachtet und als demzufolge legitimiert, die Verfassungsänderung herbeizuführen. Die „Soldatenräte“ stellten der Sozialdemokratischen Partei ihre Macht – die der Armee – zur Verfügung.

    Hindenburg und Ludendorff (rechts) Bad Kreuznach 1917
    Rosa Luxemburg
    Karl Liebknecht

    Die USPD und der Spartakusbund waren damit aus dem Rennen, falls sie überhaupt je geglaubt hatten, in diesem diffizilen institutionellen Übergang, oder besser „Machtvakuum“ auf Kosten der alten Sozialdemokratischen Partei gewinnen zu können. (Seit 1912 hatte es keine Wahlen mehr gegeben, daher konnte niemand wissen, wie die wirklichen Mehrheitsverhältnisse waren und welchen Anhang die sich gegenüberstehenden Kräfte im Lande hatten.) Der (potentiell) günstige Augenblick blieb also ungenutzt. Die Leitung des „Rats der Volksbeauftragten“ (ein Zugeständnis an die leninistische Terminologie, das nicht wehtat) übte Ebert aus, neben ihm Scheidemann, der Mann von 1914. Drei Vertreter der USPD traten der neuen Regierung bei. Beteiligt an dieser waren mit wichtigen Staatssekretariaten, d. h. Ministerien, auch die Zentrumspartei und Liberale. Sie stellten der Substanz nach die alte Reichstagsmehrheit her, die über einen Monat lang Max von Baden gestützt hatte. Der 1912 gewählte Reichstag wurde nicht aufgelöst. Die einzige Neuerung war die Verkündung von Wahlen für eine Verfassunggebende Nationalversammlung. Nach Ausrufung der Republik war zumindest dieser „Sprung“ unvermeidbar. Was jedoch einem Beobachter mehr als jedes andere Detail die wahre Natur der Veränderungen, die da im Gange waren, hätte erhellen müssen, war ein Schritt, den die oberste Militärführung unternahm: Hindenburg erklärte sich umgehend bereit, die neue Ordnung anzuerkennen. Dagegen erhielten weder Karl Liebknecht noch Rosa Luxemburg ein Mandat für den ersten Reichskongreß der Arbeiter- und Soldatenräte.

    Die eigentliche Basis der Republik bildeten die Millionen Soldaten, die, in „Räten“ organisiert, Ebert und nicht Liebknecht ihr Vertrauen ausgesprochen hatten. Engels‘ Prophezeiung, der Sozialismus werde durch sukzessive Durchdringung des Heeres an die Macht kommen, erfüllte sich also nur zur Hälfte.

    7
    Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 19 Januar 1919 (die die Funktion eines verfassunggebenden Organs hatte) waren die Sozialisten (SPD und USPD) die Verlierer, besser gesagt, sie erreichten nicht die absolute Mehrheit. Die SPD erhielt 37,9 Prozent, die USPD 7,6 Prozent der Wählerstimmen und damit 163 beziehungsweise 22 (zusammen 185) von insgesamt 421 Mandaten. Auch wenn es für ein politisches System in einem gesellschaftlich komplexen und „entwickelten“ Land durchaus typisch ist, daß keine (oder kaum je eine) politische Kraft allein die absolute Mehrheit der Stimmen erreicht (unter welchem Wahlsystem auch immer), war dieses Ergebnis doch eine bittere Enttäuschung; denn die außergewöhnlichen Umstände der Wahl waren für die Sozialisten grundsätzlich günstig.

    Walther
    Rathe-nau
    Max Weber
    Hugo Preuß

    Das Zentrum erhielt 18,8 Prozent und 91 Mandate, die beiden Rechtsparteien (die Deutsche Volkspartei und die Deutschnationale Volkspartei) zusammen 13 Prozent und 63 Mandate. Im Herzen links, aber in sehr vielen Fragen anderer Ansicht als die Sozialisten (und zu raschem Niedergang verurteilt), war die liberale Deutsche Demokratische Partei (DDP) mit Max Weber, Walther Rathenau und Hugo Preuß als prominenten Vertretern. Sie erhielt über 18 Prozent und 75 Mandate (und war damit – erstaunlicherweise – als politische Kraft fest ebenso stark wie wie eine so alte und etablierte Partei wie das Zentrum).

    Eine Einigung zwischen SPD und USPD war undenkbar, nachdem wenige Tage vor den Wahlen der Volksbeauftragte für Wehrfragen (und führende Sozialdemokrat) Gustav Noske persönlich den Spartakusaufstand in Berlin manu militari niederschlagen und das Vorwärtsgebäude hatte stürmen lassen, nachdem am 15. Januar, vier Tage vor den Wahlen, Freikorps ungehindert Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordet hatten. Doch eine parlamentarische Lösung war rasch zur Hand: Die linke Mitte. Die erste Regierung der aus der „Novemberrevolution“ hervorgegangenen Republik war also eine Koalition aus SPD, Zentrum und Deutscher Demokratischer Partei mit Scheidemann als Ministerpräsident. Ebert war bereits von der Nationalversammlung, die sich gerade erst konstituiert hatte, zum Reichspräsidenten gewählt worden.
    Über die Bedeutung des überstürzten und ohnmächtigen Spartakusaufstands für die weitere politische Entwicklung jenes entscheidenden Januar 1919 ist viel spekuliert worden. Das sozialdemokratische Spießertum betrieb viel Aufwand, um Noske von der Verantwortung für die Morde an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg reinzuwaschen. Dies war vertane Zeit, wenn man sieht, daß das Problem nicht darin bestand, wer den mit den Freikorps verbundenen Mördern die Hand geführt hatte, sondern darin, daß die neugeborene deutsche „Demokratie“ – aus legalistischem Denken heraus – die Existenz der Freikorps einfach hinnahm.

    Adolf Hitler
    Göring

    Vorerst tobte sich der Rachedurst dieser paramilitärischen und revanchistischen Verbände in der Gewalt gegen die Aktivisten der Linken aus. Ihr Anteil an der Entstehung der Nazi-Bewegung ist wohlbekannt. Immer hin verdiente sich Noske mit seiner Aktion die Dankbarkeit der extremen Rechten, denn schließlich war er Reichswehrminister und hätte die Freikorpsverbände auflösen und mit weitaus härterer Gewalt zerschlagen müssen, als er der Erstürmung des Vorwärtsgebäudes gewidmet hatte. Eine schmachvolle Dankbarkeit: Als die Nazi-Partei die Wahlen vom März 1933 gewann, war Noske Oberpräsident von Hannover, und Hermann Göring, die Nummer zwei nach Hitler, bat ihn (vergeblich), auf seinem Posten zu bleiben (nobel gab Noske seinen Posten auf).

    Die These, der Spartakusbund habe in den letzten Tagen vor der Wahl einen Rechtsruck in der Öffentlichkeit bewirkt, ist fragwürdig. Schließlich tat die Regierung Ebert/Scheidemann/Noske alles, um dem verschreckten Bürgertum zu zeigen, daß die Sozialdemokraten nicht zögerten, die „demokratiefeindliche“ Gefahr von links zu bannen. Das reichlich vergossene Blut war Garantie für die „demokratische“ Gesinnung der sozialdemokratischen Führung. Der Rückschlag bei den Wahlen ging auf das Konto der USPD, die von der Propaganda aller Parteien (mit Ausnahme der DDP) in polemischer Vereinfachung kurzerhand mit dem Spartakusbund gleichgesetzt wurde.
    Die Wahlniederlage für die Sozialdemokratie war schmerzhaft, obwohl dieses enttäuschende Ergebnis in der gesamten Weimarer Republik sogar ihr bestes bleiben sollte. Schon bei den ersten Reichstagswahlen am 6. Juni 1920 brach die SPD auf knapp 22 Prozent ein, und die USPD stieg auf fast 19 Prozent, während die unlängst gegründete Kommunistische Partei knapp zwei Prozent der Stimmen gewann. Bei den Wahlen im Mai 1928 kam die SPD noch einmal an die 30 Prozent heran, die Kommunisten kamen auf über zehn, während der Rechtsblock insgesamt gut 35 Prozent, das Zentrum mehr als 15 und die Liberalen der DDP knapp 5 Prozent erreichten.

    Paul von Hinden-burg
    Franz von Papen

    Die Wahlarithmetik ist jedoch abstrakt und formal, denn in der Zwischenzeit hatten sich Krisen abgezeichnet, die auch weniger prekäre politische Verhältnisse als diejenigen der Weimarer Republik erschüttern konnten: Vom chauvinistischen Wahnsinn Frankreichs, der in Strafaktionen der Ruhrbesetzung gipfelte (ein Geschenk für die Rechte, an dem auch die Kommunisten mit verzweifeltem Taktieren teilzuhaben versuchten) über die Wirtschaftskrise, die noch verschärft wurde von den bedrückenden „Reparationen“ (die dann der Dawes– und der Youngplan zu erleichtern versuchten: Die USA, die den Versailler Vertrag nicht anerkannt hatten, konnten nicht mit ansehen, wie die Republik als Opfer der schwersten Wirtschaftskrise des Jahrhunderts und weil die Nazis noch nicht bereit standen, um diese auszubeuten, nach links rutschte), bis zu Umsturzversuchen (wie Hitlers Putsch in einem Münchner Bierkeller). Trotzdem blieben die Wahlergebnisse auch in dieser parlamentarisch turbulenten Zeit (acht Reichstagswahlen in dreizehn Jahren!) ein Stimmbarometer. Es zeigt die Ernüchterung der Linken gegenüber dem Instrument des allgemeinen Wahlrechts wie auch den „aufhaltsamen Aufstieg“ der nationalsozialistischen Partei von etwas über zwei Prozent im Mai 1928 und fast 44 Prozent im März 1933. Doch die Nazis allein gewannen keineswegs die absolute Mehrheit, auch wenn sie die illegale ebenso wie die staatliche Gewalt auf ihrer Seite hatten. Hitler war jedoch, dank der Verschwörung Franz von Papens und der Komplizenschaft Hindenburgs (Reichspräsident seit 1925), sehr wohl schon vor diesem triumphalen Sieg Reichskanzler geworden. Trotzdem handelte es sich unbestreitbar um einen tatsächlichen Wahlerfolg.

    Henry Ashby Turner
    Josef Goebbels
    Alfred Hugenberg

    8
    Deutschland und Italien sind beide schöne Beispiele dafür, wie Wahlsiege „fabriziert“ werden.
    Eine neue Untersuchung von Henry Ashby Turner Jr.127, Historiker an der Yale-Universität, liefert überzeugende dokumentarische Belege für eine antideterministische historiographische Diagnose von Hitlers Aufstieg zur Macht. Mit den Wahlen vom November 1932 hatte die Nazipartei einen schweren Rückschlag erlitten und 35 Sitze (fast 5 Prozent der Wählerstimmen) verloren. Sie blieb zwar mit gut 33 Prozent die Partei einer relativen Mehrheit, doch eine Isolierung im Reichstag hätte für sie tödlich sein können, zumal im Verein mit einer schweren innerparteilichen Krise. Da sorgte der enorme Druck Franz von Papens, Exponent der Mitte, aber Hitler eng verbunden, auf den fast 85 jährigen Reichspräsidenten Hindenburg dafür, daß Hitler wider alle Erwartungen und unter Mißachtung der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse nach einer langen und dunklen Krise am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde. Entgegen gängigen Behauptungen hatte der Reichspräsident gemäß der Weimarer Verfassung weitreichende Machtbefugnisse, viel weitreichendere als alle Monarchen, die auf dem Thron geblieben waren, als infolge des Ersten Weltkrieges so manches gekrönte Haupt gefallen war. Er war Oberbefehlshaber der Streitkräfte, konnte nach eigenem Ermessen die Bürgerrechte beschneiden und per Dekret Gesetze erlassen. Und obwohl die Regierung dem Parlament verantwortlich war, konnte der Reichspräsident sie entlassen, indem er – falls erforderlich – den Reichstag selbst auflöste. Kurzum, seine unerwartete Ernennug zum Kanzler Ende Januar 1933 (und die sofortige Verkündung von Neuwahlen) ermöglichte es Hitler, das Fundament zu seinem großen Wahlsieg am 5. März 1933 zu legen.
    Er vermochte dies mit Hilfe der Großindustrie (man denke nur an Goebbels‚ familiäre Verbindungen mit der mächtigen Industriedynastie Quandt oder an Hugenberg)128 und des legalen wie halblegalen Militärapparats sowie dank der systematischen Brutalität der staatlich geschützten „Braunhemden„. Die bei den Wahlen erzielten fast 44 Prozent der Wählerstimmen erlaubten es Hitler, umgeben von Deutschnationalen und anderen Rechten und mit Franz von Papen als Vizekanzler,129 zu regeren, bis die Republik vollständig in einen „Führerstaat“ umgewandelt war. Der Weg zur Macht hatte zehn Jahre zuvor mit dem kläglich gescheiterten Münchener Putsch begonnen. Am 6. März 1933, einen Tag nach seinem „Wahltriumph“, erreichten Hitler aus dem holländischen Doorn, dem „Exil“ Wilhelm II., die Glückwünsche des Ex-Kanzlers,130 eine Geste, die die Kontinuität von alldeutschem Imperialismus und Nazismus treffend symbolisiert.

    Viktor Emanuel III.
    Benito Musso-lini
    Luigi Facta

    In Italien vollzog sich die entsprechende Entwicklung in einem ungleich kürzeren Zeitraum. Mussolinis 1919 gegründete republikanisch-anarchoide Bewegung vegetierte bis zu den Wahlen 1921 (mit 30 Abgeordneten in den heterogenennationalen Blöcken„) vor sich hin, aber bereits Ende Oktober 1922 beauftragte König Vittorio Emanuele III. Mussolini mit der Regierungsbildung. Sie führte zu einer Koalitionsregierung mit der Volkspartei und den Liberalen. Der Savoyer war ein kleiner Gauner im Vergleich mit dem alten Junker Hindenburg und bei ihm waren keine dreißig Tage Intrigen, Druck und Erpressung nötig. Mach dem Sturz so mancher gekrönter Häupter in hysterischer Panik und total skeptisch, ob der Parlamentarismus den revolutionären Sturm überstehen werde, der sich 1917 erhoben hatte und noch immer tobte, (und den er in seiner reaktionären Überzeugung noch größer machte, als er war), unternahm Vittorio Emanuele selbst einen „stillen Staatsstreich„. Anstelle der hochtrabend „Marsch auf Rom“ genannten Demonstration Mussolinis war die Mehrheit der amtierenden Regierung unter Luigi Facta für die Erklärung des Ausnahmezustands, doch der König lehnte ab und bestellte Mussolini in den Quirinal, um ihn mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Die Regierung kam zustande und entschied – dank eines extremen Mehrheitswahlrechts, dank auch der Gewalttätigkeit der von den „Ordnungskräften“ unterstützten und geschützten Schlägertrupps und dank finanzieller Unterstützung wichtiger Teile des Großbürgertums aus dem Agrar-, Industrie- und Finanzsektor – genau wie zwei Jahre später die Wahlen von 1924 für sich.
    Auch im Fall Italiens ist es interessant, den Verlauf der Wahlen und den Zusammenhang zwischen der Zu- und Abnahme der Parteien und den Wahlgesetzen zu verfolgen. Mit dem Wahlgesetz vom 16. Dezember 1918 war endlich das allgemeine Wahlrecht für Männer eingeführt worden. An die Stelle des in Mißkredit geratenen Mehrheitswahlrechts auf der Basis von Einpersonenwahlen trat das Verhältniswahlrecht über Listenwahlen. Die Sozialisten konnten ihren Stimmenanteil verdreifachen (auf 156 Mandate), die Volkspartei erzielte 100 Mandate. Zusammen besaßen sie rein rechnerisch die Mehrheit der 508 Sitze im Abgeordnetenhaus. Die Liberalen, unter dem alten Wahlsystem allgegenwärtig und auf den Sieg abonniert, fielen von 300 auf 200 Sitze. Dies war zwar ein Sieg der demokratischen Bewegungen, aber nicht der erhoffte Triumph. Bei den Wahlen vom Mai 1921 gewann das versprengte Häuflein der Kommunisten – nach der Abspaltung auf dem Parteitag der Sozialisten in Livorno im Januar – fünfzehn Mandate, die Sozialisten mußten Verluste hinnehmen, die Italienische Volkspartei konnte die Zahl ihrer Mandate um zehn erhöhen, die „nationalen Blöcke“ (zu denen auch die Faschisten gehörten), „hielten sich“ und wurden de facto auf Kosten des alten liberalen Lagers gewählt.
    Nach dem Staatsstreich des Königs und der Berufung Mussolinis zum Ministerpräsidenten verabschiedete die über keine klare Mehrheit verfügende, 1921 gewählte Kammer, das neue Wahlgesetz mit seinen extremen Mehrheitswahlrecht (das berüchtigte „Acerbo-Gesetz“ , das von einer äußerst massiven Kampagne der Faschisten vorbereitet wurde, die sofort nach dem „Marsch auf Rom“ gestartet worden war).131 Damit waren die Voraussetzungen für den Sieg der faschistischen Einheitsliste (gespickt mit den Namen prominenter Liberaler132) bei den Wahlen von 1924 geschaffen. Alles in allem fällt die Bilanz für beide Fälle, Deutschland wie Italien, ähnlich eindeutig aus: Vor allem dank des „Verhältniswahlrechts“ erzielten die Sozialisten Ergebnisse, die ihren imposanten Einfluß in der Gesellschaft ausdrückten, aber sie gewannen selbst unter den günstigsten Umständen nicht die Mehrheit, weil ihnen die Unterstützung durch die Staatsmacht (und erst recht durch die wirtschaftlich Mächtigen) fehlte. Die faschistischen Gruppen dagegen waren, auch wenn sie die Minderheit bildeten, dank deren Unterstützung in der Lage, Wahlen zu steuern und zu gewinnen.

    Dennoch behielten die Faschisten einen prinzipiellen Vorbehalt gegen das allgemeine Wahlrecht bei. Noch 1940 hieß es unter dem Stichwort Suffragio (Wahlrecht) im Dizionario di politica (herausgegeben vom Partito Nazionale Fascista unter Leitung des Parteisekretärs):

    „Das allgemeine Wahlrecht entspricht zwar in gewisser Weise einem Gerechtigkeitsprinzip […] läßt aber auf der anderen Seite eine viel wesentlichere Anforderung außer acht: daß nämlich die Gewährung des Wahlrechts der politischen Vorbereitung und Erziehung der Massen angepaßt werden muß“;

    andernfalls bestehe

    „die Gefahr, daß die Konstituierung staatlicher Organe in die Hände unfähiger Wahlkörperschaften gerät, was der Staatsorganisation, die geschaffen werden soll, nur schaden kann“.

    Giuseppe Menotti De Francesco

    Diese Gefahr, fährt der Verfasser des Artikels fort (es handelt sich um den Juristen Giuseppe Menotti De Francesco, nach dem Ersten Weltkrieg monarchistischer Abgeordneter im italienischen Parlament), sei „dem allgemeinen Wahlrecht inhärent“;

    „das positive Recht und die Gesetzgebung sind gezwungen, diesem Prinzip Zügel anzulegen, damit die Gefahren abgemildert werden, die das System mit sich bringt, wenn es angewandt wird“

    Es gebe verschiedene Maßnahmen zur Schadensbegrenzung. Am geläufigsten sei die Anwendung eines „indirekten oder zweistufigen“ Wahlverfahrens, wie es beispielsweise „in den Vereinigten Staaten bei den Präsidentschaftswahlen angewandt wird“ oder im Frankreich der Dritten Republik bei den Senatswahlen. Das beste Mittel jedoch, um das Übel einzudämmen, so schlägt De Francesco vor, sei die Wahlrechtsbeschränkung, die die „in der gegenwärtigen Phase der Verfassungsentwicklung jedoch nur in weitem Sinne durchgeführt werden“ könne. Daher empfiehlt er die vom Faschismus angewandte Lösung des „korporativen Wahlrechts“ – „eine besondere und originäre Form der Wahlrechtsbeschränkung“, die nur „demjenigen Bürger das Wahlrecht zugesteht, der einen Beitrag für die Syndikate [der italienische Faschismus hatte die Gewerkschaften als autonome Interessenvertretungen der Lohnabhängigen durch wirtschaftsfriedliche und staatlich kontrollierte Zwangssyndikate ersetzt, d. Ü.] entrichtet“.
    Gemäß diesen Kriterien, so das abschließende Urteil, konstituiere sich in dem vom Faschismus geschaffenen gesetzlichen Rahmen „die Wählerschaft“, abgesehen davon, daß diese „verglichen mit der Vergangenheit sowieso schon einen sehr viel geringeren Spielraum hat.“133

    Anto-nio Gram-sci
    Gia-como Matteotti
    Bene-detto Croce

    9
    Einige Überlegungen am Rande. Hitler, Ende Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt, änderte das Wahlgesetz nicht. Er fabrizierte seinen Wahlsieg, erzielte aber allein keine Mehrheit. Um die „ganze Macht“ an sich zu reißen, mußte er den Reichstagsbrand inszenieren, die kommunistischen Abgeordneten hinauswerfen und Hindenburgs Tod abwarten (im August 1934), um auch noch das Amt des Reichspräsidenten zu übernehmen und mit dem des Kanzlers zu verbinden. Mussolini dagegen, Führer eines Trupps von kaum 30 Abgeordneten, aber vom König zum Ministerpräsidenten berufen, gewann dank des Acerbo Gesetzes die Wahlen mit einer satten absoluten Mehrheit, aufgebläht durch das betrügerische Mehrheitswahlrecht. Hitler stützte sich auf einen „Konsens“ (einer von drei Wählern stimmte 1932 für ihn), oder besser gesagt, auf ein starkes Geflecht, das sich im Krisenklima der Weimarer Republik als giftige Pflanze entfaltet hatte. Mussolini dagegen konnte sich zur Zeit des Staatsstreiches Vittorio Emanueles, der ihm die Regierungsgewalt übertrug, durchaus auf keinen Konsens stützen. Den erreichte er erst nachträglich, nicht zuletzt dank seines Rückhalts im Königshaus und in der katholischen Kirche (noch vor den Lateranverträgen134).
    In den folgenden zwei Jahren (1924-1926) wurde der letzte Schritt vollzogen: die Bildung eines „Regimes“ (Gesetz zum Schutz des Staates im November 1926, Verhaftung der kommunistischen Abgeordneten, Theorie einer kommunistischen „Verschwörung“ als Grundlage für den Prozeß gegen den verhafteten Parteiführer, Auflösung der anderen Parteien). Aber auch dieses Ziel – die Novembergesetze von 1926 und deren sofortige Anwendung – kostete mehr Zeit. Um es zu erreichen, schreckte man auch vor staatlicher Gewalt nicht zurück (nur ein Beispiel: nach der Ermordung Matteottis durch ein faschistisches Kommando rettete der König den Faschismus aus seiner schwersten Krise), weder vor Provokationen noch vor Attentaten mit zwielichtigem Hintergrund. Aber inzwischen war die herrschende Klasse Italiens zum Faschismus übergegangen. Selbst Croce, in den dreißiger Jahren und bis zum Sturz Mussolinis die intellektuelle Symbolfigur des Antifaschismus, begab sich am Tag nach Matteottis Ermordung in den Senat, um der Regierung Mussolini das Vertrauen auszusprechen. In einem Interview mit dem „Giornale d’Italia“ im Juli 1924 bezeichnete er diese Handlung als „besonnen und patriotisch“.135

    Palmiro Togliatti

    Die Frage, die sich damals viele stellten und die bis heute nachklingt, lautet: Wo war „das Volk“ geblieben, warum reagierte es nicht? Besonders enttäuscht zeigten sich jene, die die angeborene „Gesundheit“ der Massen gepredigt hatten (ein Vorurteil, das im sentimentalen Demokratismus tief verwurzelt ist), als sie sahen, wie „das Volk“ dem Faschismus zulief. Die Erzeugung von Konsens mit den faschistischen Regimen beschäftigte auch kritische Zeitgenossen wie Artur Rosenberg in Deutschland und den italienischen Exilanten Palmiro Togliatti. Beider Analysen zerstörten eine romantische Illusion und damit das lähmende Vorurteil, demzufolge das Erreichen von Zustimmung an sich schon die Richtigkeit einer Politik beweise.

    Alexander Fjodorowitsch Kerenski

    10
    Die ersten Nachkriegswahlen zur Verfassunggebenden Versammlung fanden in Rußland am 25. November 1917 statt rund zwanzig Tage nach der Revolution oder, um das Ereignis zutreffender zu Benennen, nach der Eroberung des Winterpalais in Petersburg durch die von den Bolschewiki geführten Soldaten und der Flucht Kerenskis. Diese Umwälzung hatte sich am7. November (nach dem alten russischen Kalender am 25. Oktober) vollzogen, und der zeitgleich in Petersburg tagende stürmische „Allrussische Rätekongreß“ verfolgte den Verlauf dieses Tages. Dem Kongreß wurde die brennende Frage vorgelegt, ob er dem Sturz Kerenskis zustimmen wolle. Über dieser Frage brach die sozialrevolutionäre Partei entzwei. Der Teil, der Kerenski treu war, verließ den Saal; der andere, der den Bolschewiki nahestand blieb. Die Versammlung billigte die Absetzung Kerenskis und legte die Basis für die Bildung der ersten Regierung der Volkskommissare, bestehend aus den Bolschewiki und dem linken Flügel der Sozialrevolutionäre, vorwiegend bäuerlichen Provinzdelegierten. Nicht von ungefähr läuteten die beiden Beschlüsse:
    a) sofortiger Frieden und
    b) entschädigungslose Enteignung der Gutsbesitzer.

    Lenin

    Es folgte eine kurzlebige „Koalitionsregierung“, die bis Ende 1918 hielt, als Rußland die extrem harten Bedingungen des Friedens von Brest-Litowsk akzeptierte und die linken Sozialrevolutionäre aus Protest die Koalition mit den Bolschewiki verließen. Aber vor dieser Krise, von November 1917 bis März 1918, war die Regierung Lenins und der Volkskommissare eine gemeinsame Regierung mit den (linken) Sozialrevolutionären. In eben dieser Phase der „Koalition“ fanden nun am am 25. November 1917 die Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung statt, die am 18. Januar 1918 ihre Tätigkeit aufnahm.
    Die Wahlbeteiligung war zweifellos beachtlich. Fast 42 Millionen von 108 Millionen Einwohnern (nach der Zählung von 1920) gaben ihre Stimme ab, fast vierzig Prozent der Bevölkerung: Zwar nicht extrem viel, stellt man in Rechnung, daß auch die Frauen bereits das Wahlrecht hatten, aber doch eine starke Beteiligung, wenn man bedenkt, daß sich das Land mitten im Krieg befand (am 8. November wurde allerdings das Dekret über den sofortigen Frieden erlassen) und, wie bei jedem radikalen Regimewechsel, allgemeines Chaos herrschte, während sich die neuen Machthaber bemühten, in diesem riesigen Reich ihre Autorität durchzusetzen.
    Die Parteien betrieben einen intensiven Wahlkampf und riefen die Wähler zu den Urnen – anders hätte eine derartige Wählerschaft gewiß nicht mobilisiert werden können. Die Bolschewiki erhielten mit knapp 10 Millionen ein Viertel der abgegebenen Stimmen, die Sozialrevolutionäre 22 Millionen und bildeten damit ganz allein die Mehrheit. Die Menschewiken (die sozialdemokratische „Minderheit“) erhielten 700.000 und die anderen Parteien zusammen 5 Millionen Stimmen.

    Artur Rosenberg lieferte eine interessante Analyse dieses für die Bolschewiki gewiß enttäuschenden, für die sozialrevolutionäre Partei aber zweideutigen Ergebnisses:

    „Die riesige Bauernmasse, die den sozialrevolutionären Stimmzettel abgab, stimmte damit für die Enteignung der Grundbesitzer und nicht für Kerenski. Aber an der Spitze der sozialrevolutionären Listen standen fast überall die Kerenski-Leute, die so ihre Mandate bekamen“.

    So kam es, daß die Entscheidung, die neue Versammlung nicht anzuerkennen (weil diese sich ihrerseits geweigert hatte, die neue Regierung anzuerkennen), von den Bolschewiki und den Sozialrevolutionären gemeinsam getroffen wurde (Letztere lehnten ein Ergebnis, das sie zugunsten jenes Flügels ihrer eigenen Partei benachteiligte, mit dem sie unwiderruflich gebrochen hatten, als Erste ab). Der Verfassunggebenden Versammlung war daher nur eine kurze Lebensdauer vergönnt. Vielleicht sollte man richtiger sagen: Sie war bereits zum Zeitpunkt ihres Entstehens alles andere als ein Spiegelbild der politischen Stimmung im Lande.

    „Hätte damals Lenin Neuwahlen vornehmen lassen“,

    mutmaßt Rosenberg,

    „so hätte ohne Zweifel die Sowjetregierung die erdrückende Mehrheit im Lande erhalten“.136

    Eine allerdings nicht verifizierbare Vermutung.

    „Erst der revolutionäre Prozeß, der sich nach der Oktoberrevolution in fieberhaftem Tempo vollzog“,

    Otto Bauer

    schreibt Otto Bauer,

    Oliver Cromwell
    Nikolai Bucharin

    „hat es den Bolschewiki erlaubt, die wenige Wochen vorher unter noch ganz anderen Verhältnissen gewählte, der neuen revolutionären Situation nicht mehr entsprechende Verfassunggebende Nationalversammlung auseinanderzujagen und alle Macht in den Händen der Sowjets zu behalten. Bucharin hatte damals noch vorgeschlagen, die Rechte der Konstituierenden Nationalversammlung gewaltsam hinauszuwerfen, wie einst Cromwell die Presbyterianer aus dem Parlament hinausgeworfen hat oder wie die Jakobiner die Girondisten aus dem Konvent ausgeschlossen und zur Guillotine geschickt haben, dem Rest der Versammlung aber als Konvent die Macht übergaben. Lenin zog es vor, die ganze Versammlung auseinanderjagen zu lassen.“137

    Leo D. Trotzki

    Und tatsächlich optierte die Regierung der Volkskommissare, allen voran Lenin, nicht mehr für eine parlamentarische, sondern für eine Rätedemokratie (kurz: eine sowjetische Demokratie), die schon seit 1905 als eine neuartige und moderne Form „direkter“ Demokratie erschien. Davon hatte man nicht seit der Pariser Commune nicht mehr gesprochen. Im Schlußkapitel seiner Geschichte der Russischen Revolution bezeichnet Trotzki den Kongreß der Sowjets, die sich im Smolny-Institut in Petersburg an jenem 7. November (dem 25. Oktober nach dem alten Kalender) versammelt hatten und bei dem die Bolschewiki gewaltsam die Macht übernahmen, als das „demokratischste aller Parlamente der Weltgeschichte“.137a Rosa Luxemburg dagegen kritisierte entschieden die Auflösung der Nationalversammlung.138 In dieser Schicksalsstunde trugen die Sozialrevolutionäre, die noch an der Macht waren, diese schwerwiegende Entscheidung mit. Erst aufgrund des Friedens von Brest-Litowsk rund zwei Monate später traten sie in unversöhnlichem Dissens aus der Koalition mit den Bolschewiki aus.

    Doch schlimmer war die Gegnerschaft der Entente-Mächte, die nach dem russischen Separatfrieden mit Deutschland die neue russische Regierung als ihren direkten Feind ansahen und offen zugunsten der zaristischen „weißen“ Kräfte, die einen blutigen Bürgerkrieg entfesselten, auf dem Gebiet der neugeborenen Republik intervenierten. Der innere Bürgerkrieg Rußlands wurde somit durch externe Akteure ausgeweitet. Er wurde zum „europäischen Bürgerkrieg“.

    — > Der europäische Bürgerkrieg (14)

    Anmerkungen und Endnoten

    Rüdiger Jungbluth
    John Weitz
    Enrico De Nicola
    Hjalmar Schacht

    125 Artur Rosenberg, Die Entstehung der Deutschen Republik 1871-1918, Ernst Rowohlt Verlag, Berlin 1930, S. 250.
    126 Max von Baden, Erinnerungen und Dokumente, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1927, S. 643.
    127 Henry Ashby Turner Jr., Hitlers Weg zur Macht. Der Januar 1933, Luchterhand, München 1997.
    128 Vgl. Rüdiger Jungbluth, Die Quandts. Ihr leiser Aufstieg zur mächtigsten Wirtschaftsdynastie Deutschlands, Campus Verlag, Frankfurt/Main 2002. Weitere neuere Publikationen liefern wichtiges dokumentarisches Material, etwa John Weitz‚ Biographie über Hjalmar Schacht, Hitler’s banker (Little Brown, Boston 1997), und Wulf Schwarzwäller, Hitlers Geld. Vom armen Kunstmaler zum millionenschweren Führer (Überreuther, Wien 1998).
    129 Franz von Papen kam vor das Internationale Militärtribunal in Nürnberg. 1959 wurde er zum päpstlichen „Geheimkämmerer“ ernannt.
    130 Dem Bericht der Agentur Stefani zufolge äußerte sich „der ehemalige Kaiser sehr zufrieden über den Sieg der Nationalsozialisten, hätte sich persönlich aber einen größeren Erfolg der Partei Hugenbergs gewünscht, in deren Programm die monarchische Frage ganz oben stand“ („Corriere della sera„, 7. März 1933, S. 1).
    131 Der „Corriere della sera“ vom 31. Oktober 1922 brachte auf der ersten Seite einen ausführlichen und begeisterten Bericht über den ersten Tag Mussolinis als Ministerpräsident und seine Gespräche im Senat und in der Abgeordnetenkammer. Insbesondere bei der Zusammenarbeit mit dem Präsidenten der Kammer, De Nicola, der froh war, seinen Posten behalten zu dürfen, sei „die Frage der Wahlreform erörtert“ worden.
    132 Unter anderem Vittorio Cian, Luigi Gasparotto, Stefano Gavazzoni, Giacchino Volpe, Arrigo Solmi, Alberto Giovannini, Carlo Delcroix, Sam Benelli, Ettore Viola, Giovanni Porzio, Antonio Salandra, Govanni Gentile, Pietro Fedele, Vittorio Emanuele Orlando. (De Nicola zog seine anfängliche Zustimmung zurück; Giolitti lehnte ab: eine späte Einsicht nach seiner vorausgegangenen Patronage der „nationalen Blöcke“, die so offenkundig verseucht waren; immerhin hatte er die Kommission geleitet, die das monströse Wahlgesetz erarbeitet hatte.)
    133 Dizionario di politica des Partito Nazionale Fascista. Instituto dell’Enciclopedia italiana, Bd. IV, Rom 1940, S. 415.
    134 Vgl. beispielsweise den Artikel La parte dei cattolici nelle presenti lotte dei partiti politici in Italia in: „La civita cattolica“, 7. August 1924 (Bd. III, S. 297-306).

    Giulio Bedeschi

    135 Der Wortlaut dieses denkwürdigen Interviews wurde zuletzt abgedruckt in: G. Bedeschi, La fabrica delle ideologie. Il pensiero politico italiano nel Novecento, Laterza, Rom und Bari 2002, S. 209.
    136 Artur Rosenberg, Geschichte des Bolschewismus [1932], Athenäum, Frankfurt/Main 1987, S. 139. Für Lenin liegt der Ausweg aus dem, was er unumwunden „den ‚Saustall‘ des bürgerlichen Parlamentarismus“ nannte, „natürlich nicht in der Aufhebung der Vertretungskörperschaften und der Wählbarkeit […] sondern in der Umwandlung der Vertretungskörperschaften aus Schwatzbuden in ‚arbeitende‘ Körperschaften“ (Staat und Revolution, Kap. 3, Abschnitt 3, in: ders.: Werke, Bd. 25, Dietz Verlag, Berlin 1972).
    137 Otto Bauer, Zwischen zwei Weltkriegen?, in: Werkausgabe, Band. 4, Europaverlag, Wien 1976, S. 203 f.
    137a Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Band 2, Oktoberrevolution, S. Fischer Verlag, Berlin 1933, S. 607.
    138 Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. IV (August 1914 – Januar 1919), Dietz Verlag, Berlin 1974, S. 353-365.

    Luciano Canfora

    (Luciano Canfora: Der zweite Fehlschlag des Allgemeinen Wahlrechts. Kapitel XI in: Eine kurze Geschichte der Demokratie von Athen bis zur Europäischen Union, aus dem italienischen von Rita Seuß, Köln 2006, S. 188-217, hier: S. 202 – 217)

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  • Das Geld – eine notwendige Erscheinung der sozialistischen Produktionsweise (2)

    Wilhelm Schmidt
    1988

    < — 5) Das Geld – eine notwendige Erscheinung der sozialistischen Produktionsweise (1)
    4) Kapitalistische Geldmengensteuerung- Anspruch und Wirklichkeit (1) (2)
    3) Knappheit – kein Maß für Wirtschaftliches Handeln
    2) Die Quantitätstheorie – bürgerlich von der Wiege bis zur Bahre (1) (2),
    1) Logisches und Historisches in der Geldauseinandersetzung Teil (1) (2) (3).

    5.2. Die Haltung der Klassiker zum Geld im Sozialismus

    Der rechte wie der linke Opportunismus nehmen zum Ausgangspunkt ihrer ideologischen Diversion gegen den realen Sozialismus die These, daß der wissenschaftliche Sozialismus, wie er von den Klassikern des Marxismus-Leninismus erarbeitet wurde, prinzipiell mit Warenproduktion und Geldwirtschaft unvereinbar sei. Ob nun die einen sagen, der reale Sozialismus müsse einer Planwirtschaft ohne Warenproduktion und Geld und die anderen – wie verschlüsselt formuliert auch immer -, er müsse einer marktorientierten Warenproduktion mit spontaner Geldzirkulation ohne Planwirtschaft weichen, bleibt sich von den historisch-praktischen Konsequenzen her gesehen gleich. Sie bekämpfen beide den realen Sozialismus, streben seine Aushöhlung oder Vernichtung an und sind daher bewußt oder unbewußt konterrevolutionär.
    Trotz ihrer „unterschiedlichen Interpretation des Verhältnisses von Warenproduktion und Planwirtschaft im Sozialismus „berufen“ sich beide ideologischen Gruppierungen darauf, daß die Klassiker des Marxismus-Leninismus die historische Bedingtheit und Vergänglichkeit der Warenproduktion und der mit ihnen verbundenen Kategorien und Gesetze wie Ware, Wert, Geld, Wertgesetz usw. wissenschaftlich begründet haben.
    Es stimmt. Die Klassiker des Marxismus-Leninismus wiesen tatsächlich nach, daß der Kommunismus – seinem Begriffe nach – die Negation (Aufhebung) der Warenproduktion und des Geldes als Form isolierter arbeitsteiliger Privatproduktion und deren Ersetzung durch unmittelbar gesellschaftliche planmäßige Produktion freiwillig assoziierter Produzenten ist. Begrifflich war dabei für sie die Warenproduktion, Geldwirtschaft usw. gleichbedeutend (synonymer Ausdruck) mit arbeitsteiliger Privatproduktion isolierter Produzenten.

    Friedrich
    Engels

    Am prägnantesten bringt Engels diesen Standpunkt und diese Betrachtungsweise zum Ausdruck, wenn er im „Anti-Dühring“ schreibt:

    „Mit der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft ist die Warenproduktion beseitigt und damit die Herrschaft des Produkts über die Produzenten. Die Anarchie innerhalb der gesellschaftlichen Produktion wird ersetzt durch planmäßige bewußte Organisation. Der Kampf ums Einzeldasein hört auf. Damit erst scheidet der Mensch, in gewissem Sinn, endgültig aus dem Tierreich, tritt aus tierischen Daseinsbedingungen in wirklich menschliche. Der Umkreis der die Menschen umgebenden Lebensbedingungen, der die Menschen bis jetzt beherrschte, tritt jetzt unter die Herrschaft und Kontrolle der Menschen, die nun zum ersten Male bewußte, wirkliche Herren der Natur, weil und indem sie Herren ihrer eigenen Vergesellschaftung werden.“2

    In dieser von Engels getroffenen Aussage hinsichtlich der Perspektive der Warenproduktion bei gesellschaftlichem Eigentum an den Produktionsmitteln sind die wichtigsten Charakteristika der Warenproduktion vorsozialistischer Prägung formuliert, die tatsächlich mit der Errichtung des Sozialismus aufgehoben werden.
    Sieht man sich die Auffassung der Klassiker des Marxismus-Leninismus zur historischen Perspektive der Warenproduktion und der mit dieser verbundenen Ware-Geld-Beziehung aber näher an, so kommt eindeutig heraus, daß sie Warenproduktion, Geldwirtschaft, Marktbeziehungen usw. von einem ganz bestimmten gesellschaftlichen Bezugssystem aus betrachteten, auf das und nur auf das ihre Auffassung zu überprüfen, zu beurteilen und als Ausgangspunkt weiterer Überlegungen zu nehmen ist.
    Dieses Bezugssystem besagt – wie aus oben angeführtem Engels-Zitat ersichtlich -, daß die kommunistische Gesellschaftsordnung sich vom Kapitalismus dadurch wesentlich unterscheidet, daß sie ein vollständig herausgebildetes gesellschaftliches Subjekt darstellt, das auf sich bezogen mit Bewußtsein, rationell und planmäßig handelt.

    Aufschlußreich für die Herangehensweise der Klassiker zum Charakter des Kommunismus als einer die Warenproduktion und Geldzirkulation aufhebenden Gesellschaftsordnung ist auch folgende Aussage von Marx im 1. Band des „Kapital“:

    „Stellen wir uns … einen Verein freier Menschen vor, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben. Alle Bestimmungen von Robinsons Arbeit wiederholen sich hier, nur gesellschaftlich statt individuell … Das Gesamtprodukt des Vereins ist ein gesellschaftliches Produkt.“3

    Vom Standpunkt dieses gesellschaftlichen Subjekts, das seine Arbeitskraft selbstbewußt (bewußt auf sich selbst gerichtet) für seine eigene Reproduktion einsetzt, kann seine Produktion, als Gesamtheit gefaßt, nicht den Charakter einer Warenproduktion tragen, da zu einer Warenproduktion eine Warenzirkulation und Geldzirkulation – und damit ein gesetzmäßig bestimmter Äquivalententausch- als Begleitmomente gehören.

    Mit wem soll die sozialistische Gesellschaft als einheitliches Subjekt ihre für sich, für ihr Leben produzierten Produkte austauschen? Sie kann (und braucht) – sieht man vom Außenhandel als einer historischen Erscheinung ab – ihre Produkte nicht zur Sicherung ihrer Reproduktion mit anderen Subjekten austauschen. Doch wo es keinen Warenaustausch gibt, kann es auch keine Warenproduktion und damit auch keine Geldzirkulation geben.
    Doch diese Erkenntnis gilt nur für dieses Bezugssystem! Nur unter der Voraussetzung, daß das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln umfassend und die gesellschaftliche Produktion tatsächlich als eine einzige gemeinschaftliche Produktion aller für alle vollzogen wird, hebt sich der Warenaustausch zwischen verschiedenen selbstständigen Subjekten und damit die Produktion der Produkte als Waren (die Warenproduktion) auf.

    Es ist daher methodologisch und theoretisch völlig gerechtfertigt, zu sagen, daß mit der Herausbildung des Sozialismus als eines geschlossenen und einheitlich als ökonomisches Subjekt handelnden Gesellschaftssystems eine der beiden konstituierenden Grundlagen für die Warenproduktion und die Geldwirtschaft, von denen Marx ausgeht, fehlt: das Privateigentum an den Produktionsmitteln, das die arbeitsteiligen Produzenten in isolierte Einzelproduzenten verwandelt.

    Die Erfahrungen des sozialistischen Aufbaus in den sozialistischen Ländern zeigt jedoch eindeutig, daß, obwohl – nach Marx – einer der entscheidenden Wirkungsbedingungen der Warenproduktion, des Werts und des Geldes – das Privateigentum an den Produktionsmitteln – im Sozialismus nicht mehr gegeben ist, objektiv Warenproduktion und Ware-Geld-Beziehungen als planmäßig auszunutzende Gestaltungsformen der sozialistischen Produktion und der sozialistischen Produktionsverhältnisse existieren.

    Die rechten Opportunisten sind, von dieser Tatsache ausgehend, schnell bereit, von einem „Irrtum“ der Klassiker des Marxismus-Leninismus in bezug auf die Warenproduktion im Sozialismus zu sprechen. Dabei erscheint ihnen die Feststellung eines Irrtums der Klassiker des Marxismus-Leninismus zur Warenproduktion als die beste Rechtfertigung ihres gesamten negativen Verhaltens zum Klassenkampf zwischen der Arbeiterklasse und dem Kapital; denn die Arbeitswerttheorie – als tragender Inhalt der Theorie der Warenproduktion – und ihre wissenschaftliche Vollendung durch Marx ist die entscheidende Grundlage für die Begründung der historischen Mission der Arbeiterklasse: durch Beseitigung des Kapitalismus eine ausbeutungsfreie Gesellschaft aufzubauen. Negation des Kapitalismus ist wesentlich Negation der kapitalistischen Warenproduktion, insbesondere der Arbeitskraft als Ware und der dieser entsprechenden Waren- und Geldzirkulation.

    Karl Johann Kauts-ky
    Marx

    Doch es gehört schon sehr viel Ignorantentum sowohl hinsichtlich der Methodologie als auch expliziter Aussagen der Klassiker des Marxismus-Leninismus dazu, diesen zu unterstellen, sie hätten mit der allgemeinen Bestimmung der historischen Alternative zum Kapitalismus den Versuch unternommen, historisch-konkrete Rezepte für den Aufbau des Sozialismus in einzelnen Ländern abzugeben.
    Der ganze Eifer und die zur Schau getragene Intensität, mit der die rechten wie linken Opportunisten die Schriften der Klassiker, insbesondere die Frühschriften von Marx und Engels, nach Äußerungen zur proletarischen Revolution und zum Sozialismus durchforsten, die sie als konkrete Richtlinien von Marx und Engels zur Revolution und zur Gestaltung des Sozialismus ausgeben könnten, haben nur einen Zweck: von der dialektisch-materialistischen Methode der Klassiker abzulenken. Die Denkweise hierzu hat schon Karl Kautsky entwickelt, der sein Renegatentum hinter einem extremen Dogmatismus zu verbergen suchte.4

    Der Herangehensweise der Klassiker des Marxismus-Leninismus entspricht, daß bei jeder historisch-konkreten Gesellschaftsstrategie der Arbeiterklasse und ihrer Partei vom internationalen Kräfteverhältnis, von den erreichten Kampfpositionen der Arbeiterklasse und insbesondere von der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen entsprechend dem objektiv gegebenen Entwicklungsstand der Produktivkräfte (einschließlich des Grades ihrer Internationalisierung) auszugehen ist.
    Für die Analyse der Grundlagen des Geldes im Sozialismus ergibt sich aus der Herangehensweise der Klassiker des Marxismus-Leninismus: Wenn seine praktische Notwendigkeit erkannt ist, muß diese theoretisch erklärt werden. Hierbei ist von den materiell-technischen Bedingungen der Produktion, der Reife der Produktionsverhältnisse und dem damit verbundenen Entwicklungsniveau des Bewußtseins der Menschen der sozialistischen Gesellschaft, die den real erreichten Vergesellschaftungsgrad der Produktion charakterisieren, auszugehen.

    Die Erkenntnis, daß Ware, Wert, Geld, Preis, Kredit u. a. unabdingbare Momente des gegenwärtigen Wirtschaftsmechanismus der sozialistischen Staaten sind, ist Resultat der konkreten Analyse der Lebens- und Reproduktionsbedingungen in diesen Staaten. Die Produkte des sozialistischen Produktion treten als Einheit von Gebrauchswert und Wert (Preis) in den volkswirtschaftlichen Kreislauf, und ihre Bewegung zu den Konsumenten ist über Geld vermittelt. Sie erfordert die Bezahlung ihres Preises – sei es durch den unmittelbaren Verbraucher oder sei es von staatlichen und gesellschaftlichen Organen, die an Stelle des unmittelbaren Verbrauchers die Zahlung vollziehen.

    Die Feststellung, daß im Sozialismus auch in seinem entwickelten Stadium die Produkte als Waren produziert und planmäßig über Geld zirkuliert werden, wodurch alle ökonomischen Beziehungen innerhalb der sozialistischen Gesellschaft direkt oder indirekt als Ware-Geld-Beziehungen erscheinen oder mit diesen verbunden sind, ist von hoher ideologisch-politischer Brisanz und wirtschaftspolitischer Tragweite. Die Erfahrungen der Diskussion zur Warenproduktion und den Ware-Geld-Beziehungen im Sozialismus machen deutlich: Bei der Analyse des Charakters und der Bewegungsweise der sozialistischen Produktion genügt es nicht, nur die allgemeinen Wesensmerkmale gesamtgesellschaftlich vergesellschafteter Produktion zu bestimmen. Es gilt, theoretisch das Gesamtsystem der ökonomischen Gesetze zu erforschen, das der Produktion konkret in den einzelnen Etappen und Phasen der Entwicklung der kommunistischen Gesellschaft zugrunde liegt.

    Lenin

    Marx, Engels und Lenin demonstrierten im Zusammenhang mit der Bestimmung der Notwendigkeit zweier Phasen der kommunistischen Gesellschaftsformation, daß ein ahistorisches Herangehen an den Kommunismus als Produktionsweise unzulässig ist.

    „Wenn die ökonomische Wirklichkeit“, so sagt Lenin, „… so aussieht, daß … der Geldumlauf Tatsache geworden ist; wenn man seine Aufgaben darauf ausrichten muß, den jetzigen Handel, den jetzigen … Geldumlauf zu regeln, sollen wir Kommunisten dann sagen, das ginge uns nichts an?“5

    Man müsse seine Arbeit nicht nach Idealvorstellungen eines Gesellschaftssystems, sondern entsprechend den objektiv gegebenen Verhältnissen leisten.
    Lenin schreibt:

    „Das Geld … diese Anweisungen auf gesellschaftlichen Wohlstand wirken zersetzend und sind dadurch gefährlich, daß die Bourgeoisie, die solche Scheine hortet, wirtschaftliche Macht behält.“6

    Na also! ruft da der linksextreme Ideologe aus, beseitigen wir das Geld, dann kann es die Bourgeoisie auch nicht horten und muß dahinsiechend sterben.
    Na also! ruft da der linksextreme Ideologe aus, beseitigen wir das Geld, dann kann es die Bourgeoisie auch nicht horten und muß dahinsiechend sterben.
    Anders Lenin:

    „Um diese Erscheinung abzuschwächen, müssen wir die strengste Erfassung des vorhandenen Papiergeldes in die Wege leiten, damit wir das gesamte Geld vollständig gegen neues umtauschen können.“7

    Daß ein solcher Umtausch eine echte revolutionäre Maßnahme darstellt, zeigt die Erfahrung aller sozialistischen Länder. Es bewahrheitet sich die Einschätzung von Lenin, daß die Sowjetmacht bei dieser Aktion „dem Klassenfeind Auge in Auge gegenüberstehen“ wird. „Es wird ein schwerer, aber dankbarer Kampf sein …“8, betonte er.
    Nicht Abschaffung, sondern Umtausch des Geldes, wenn sich die Wirtschaft objektiv noch als Warenproduktion gestaltet mit einer entsprechenden Warenzirkulation! Die „Abschaffung“ des Geldes von oben würde unter diesen Umständen zwangsläufig zu einem spontanen Herausbilden von Geldsurrogaten von unten führen und nicht die ökonomische Macht der Bourgeoisie, sondern die des sozialistischen Staates entscheidend schwächen. Der sozialistische Staat muß die Herrschaft über das umlaufende Geld erlangen durch vollständigen Umtausch der alten Geldscheine gegen neue.
    Die Aussagen zum Geld in den einzelnen Etappen der Übergangsperiode waren bei Lenin nie klassenindifferent, sondern stets darauf ausgerichtet, zu erklären, worauf dessen Wirkung beruht (allgemeiner Anspruch und allgemeine Anweisung auf den gesellschaftlichen Wohlstand), wenn es und wodurch es für die junge Sowjetmacht schädlich (wenn es sich in den Händen des Kapitalisten befindet) oder nützlich ist (wenn es sich in den Händen und unter Kontrolle des proletarischen Staates befindet).9

    Theoriegeschichtlich für die politische Ökonomie des Sozialismus ist hierbei bedeutsam, daß Lenin herausstellt, daß das Geld in der Hand derjenigen, die es besitzen, diesen ökonomische Macht verleiht, es aber nicht vom Geld schlechthin abhängt, ob die vom Geld ausgehende Macht positiv oder negativ wirkt. Es wirkt gegen die Arbeiter in der Hand des Kapitalisten und positiv in den Händen der Arbeiterklasse, wenn sie es richtig zu handhaben und auszunutzen versteht.

    Für die Analyse der Ware-Geld-Beziehungen im Sozialismus ist jedoch nicht nur die Feststellung von Lenin wichtig, daß das Geld in den Händen der Arbeiterklasse und ihres Staates ein Instrument des Klassenkampfes sein kann und ist, sondern auch die insbesondere bei der Gestaltung der Neuen Ökonomischen Politik gewonnene Erkenntnis, daß die Ausnutzung des Geldes eine notwendige Form der Gestaltung ökonomischer Beziehungen innerhalb der sozialistischen Gesellschaft ist. Lenin hat zwar unmittelbar das Erfordernis vor Augen, die vorwiegend auf einfacher Warenproduktion beruhende Landwirtschaft mit der Industrie zu verbinden, geht aber bei den Überlegungen zur Gestaltung der wirtschaftlichen Rechungsführung weit über diesen Rahmen hinaus. Seine Forderung, die Kontrolle durch Organe der sozialistischen Staatsmacht durch eine ökonomische Überprüfung durch die Massen auf der Grundlage des Kaufs und Verkaufs und damit durch Ausnutzung des Geldes zu ergänzen, weist auf ein wichtiges Moment hin, das bei der Gestaltung der sozialistischen Wirtschaft stets beachtet werden muß. So betont Lenin auf dem XI. Parteitag der KPR(B), daß eine spezielle Lehre der Entwicklung jener Zeit darin bestehe, „die Überprüfung der staatlichen und der kapitalistischen Betriebe durch den Wettbewerb“10 vorzunehmen. Dies sei keine Überprüfung, wie sie durch die Kontrollinstanzen erfolgt …, sondern eine, die vom Standpunkt der Ökonomik der Massen eine Überprüfung darstellt“11. „Was gebraucht wird, ist eine echte Prüfung.“12 Das ist der sich in seiner Rede durchziehende Grundgedanke zur Erhöhung der Effektivität der Produktion des jungen Sowjetstaates.
    Alle Maßnahmen der sozialistischen Wirtschaft müssen sich auch ökonomisch als richtig und effektiv erweisen. Das hat nichts mit pragmatischer oder praxeologischer Betrachtung zu tun. Es ist eine Grunderkenntnis des Marxismus-Leninismus, daß jeder gesellschaftliche Reichtum letztlich produziert werden muß und daß es von der gesellschaftlichen Produktivität abhängt, wieviel und wie differenziert eine Gesellschaft verteilen und konsumieren kann. Bei der Aufdeckung des Wechselverhältnisses von Planwirtschaft, Warenproduktion und Geldzirkulation haben wir es mit folgender logisch und historisch zu beantwortenden Frage zu tun: Sind Geld und Geldzirkulation Voraussetzung der Warenzirkulation und die Warenzirkulation Voraussetzung der Warenproduktion ist.13

    Die Verabsolutierung der Tatsache, daß Geld- und Warenzirkulation Voraussetzung der Warenproduktion sind und somit eine gewisse Eigenständigkeit besitzen, ist der methodologische Hintergrund für die von bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideologen konstruierten und propagierten Wirtschaftsmodelle, die alle als Charaktermerkmale und Bewertungskriterien für diese bestimmte Verteilungsmechanismen und -weisen heranziehen.
    Doch kann man nicht real verteilen, was nicht produziert wurde, und von der Art und Weise der Produktion hängt die jeweilige Verteilungsweise der Produkte ab.

    Die Frage, ob im Sozialismus Geld erforderlich ist und mit welchen Wirkungen es im Reproduktionsprozeß funktioniert, kann daher nicht von der einfachen Betrachtung des Geldes und seiner Zirkulationsbedingungen beantwortet werden. Ihr vorgelagert ist die Frage nach der Existenz und den Existenzgrundlagen der Warenproduktion im Sozialismus, aus der das Geld entspringt und für die es wirkt.

    Die Haltung der sozialismusfeindlichen Ideologen zum Geld im Sozialismus läßt sich trotz ihrer Vielfältigkeit im einzelnen auf zwei Positionen zurückführen: Es wird entweder als eine naturgegebene und damit Naturgesetzen unterworfene Erscheinung betrachtet oder sie wird mit der kapitalistischen Produktionsweise identifiziert und damit im Gegensatz zum Sozialismus gestellt.

    In beiden Fällen wird von den sozialökonomischen Trägern der Warenproduktion, vom sozialökonomischen Wesen der für und um Geld produzierenden Warenproduktion abstrahiert. Die Form der Produktion wird zum Wesen einer Produktionsweise erklärt, gleich ob als Warenproduzenten einfache Handwerker, Kapitalisten, Monopolgruppen oder planmäßig produzierende sozialistische Wirtschaftseinheiten auftreten.
    Der positive Schluß daraus ist, daß es unzulässig ist, die Warenproduktion als eine Produktionsweise zu kennzeichnen. Sie ist nur eine Produktionsform, in der sich bestimmte Produktionsweisen realisieren. Von diesen ausgehend sind der jeweilige Charakter der Warenproduktion und des Geldes sowie deren Wirkungsgrundlage und der sie einschließende Wirtschaftsmechanismus zu bestimmen. Mehr noch, und das ist für die gestellte Frage wichtig: aus der jeweiligen Produktionsweise ergibt sich auch, wie eine bestimmte Gesellschaft und deren Klassen sich zur Warenproduktion jeweils verhalten und verhalten müssen und damit auch zum Geld.

    Bei der Analyse des Geldes im Sozialismus ist methodologisch von folgendem Grundsatz auszugehen:
    Die Warenproduktion und das Geld als Formen der Planwirtschaft müssen eine prinzipielle Negation aller Formen vorsozialistischer Warenproduktion und des Geldes sein, da diese nicht mehr das Privateigentum an den Produktionsmitteln als eines ihrer konstituierenden Momente besitzen. Zum andern müssen Warenproduktion und Geld auch im Sozialismus als solche definierbar und mit den allgemeinen Gesetzen der Warenproduktion, Warenzirkulation und Geldzirkulation verbunden sein. Diese Gesetze sind als ökonomische Gesetze der sozialistischen Produktionsweise anzusehen. Schließlich ist zu beachten, daß die Gesetze der Warenproduktion: das Wert- und Geldumlaufgesetz, das Gesetz von Angebot und Nachfrage u. a. wie alle ökonomischen Gesetze des Sozialismus, ihre Bewegungs- und Realisierungsweise durch das Gesetz der planmäßigen, proportionalen Entwicklung erhalten und daß ihr Wirkungsinhalt aus dem ökonomischen Grundgesetz des Sozialismus erwächst.

    Die Warenproduktion und das Geld im Sozialismus müssen als Formen bestimmt werden, in denen sich die sozialistische Planwirtschaft bewegt und ihren sozialen Inhalt realisiert. Sie nehmen daher den Charakter der Planmäßigkeit an und sind planmäßig durch den sozialistischen Staat auszunutzen.

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    Fußnoten und Anmerkungen

    Als Hilfe bei der Suche von Fachbegriffen der Kritik der politischen Ökonomie bei Marx steht ein Glossar zur Verfügung – Anm. d. Publ.

    2 Engels, F.: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. In: Marx / Engels: Werke, Bd. 20, Berlin 1962, S. 264.
    3 Marx, K., Das Kapital. Erster Band. In: Marx / Engels: Werke, Bd. 23, Berlin 1962, S. 92/93.
    4 Vgl. Lenin, W. I.: Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky. In Lenin: Werke, Bd. 28, S. 225 f.
    5 Lenin, W. I.: VII. Moskauer Gouvernement-Parteikonferenz [29.-31. Oktober 1921]. In: Lenin: Werke, Bd. 33, S. 86.
    6 Ebenda, Bd. 27, S. 380.
    7 Ebenda, S. 380/381.
    8 Ebenda, S. 381.
    9 Ebenda, Bd. 33, S. 390 f.
    10 Ebenda, Bd. 33, S. 258.
    11 Ebenda, S. 258/259.
    12 Ebenda, S. 259.
    13 Vgl. Marx, K.: Das Kapital, Zweiter Band. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 24, Berlin 1963, S. 355.

    (Wilhelm Schmidt: Geld in der ideologischen Auseinandersetzung, (Verlag Die Wirtschaft) Berlin 1988, S.116-125)

  • „Gouvernementalität“ (1)

    Meinhard Creydt
    2024

    „Der Staat als Handlungs- und Denkweise“

    Michel Foucault

    Foucault befasst sich in seinen Vorlesungen von 1978 und 1979 am Collège de France und in anderen Texten aus dieser Zeit mit „dem Staat als Handlungsweise und als Denkweise“ (Foucault, Michel [2006]: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Frankfurt M., 513).
    Er möchte an der „Gouvernementalität“ „die Wechselwirkung zwischen“ deren zwei Momenten, „Herrschaftsformen und Selbsttechniken“, untersuchen.

    „Man muss die Punkte analysieren, an denen die Herrschaftstechniken über Individuen sich der Prozesse bedienen, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt. Und umgekehrt muss man jene Punkte betrachten, in denen die Selbsttechnologien in Zwangs- oder Herrschaftsstrukturen integriert werden“
    (Foucault, Michel [1993]: About the Beginning of the Hermeneutics of the Self. In: Political Theory, Vol. 21, 203 f.)

    Philipp Sarasin

    Foucault verlässt die für ihn lange Zeit zentrale „Untersuchung von Mikromächten […], die nur sehr eingeschränkt Formen von staatlicher Aktivität betrafen“ (Sarasin, Philipp (2007): Unternehmer seiner selbst. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 55, H. 3, 474) Ihn interessieren nun die Maßnahmen der öffentlichen Stellen (public authorities) für die „Sicherheit“ der Bevölkerung. Es gehe nicht mehr darum, „der Bevölkerung in erster Linie territoriale Integrität, den Sieg über den Feind oder selbst allgemeinen Wohlstand, sondern ‚Sicherheit‘ zu bieten, also Risiken, Unfälle, Gefahren, Zufälle, Krankheit und dergleichen abzuwenden oder deren Folgen zu beheben“ (Foucault, Michel [2001]: Schriften in vier Bänden, Frankfurt M. 2001, 2002, 2003 bzw. 2005, Band III, 504). (Foucault bezieht diese Diagnose nicht allein auf das Regieren nach der souveränen Fürstenherrschaft, sondern auch auf Frankreich zum Zeitpunkt seiner Äußerung [1977]. Dort wurden in schneller Folge Kernkraftwerke errichtet. Die mit ihnen verbundenen „Risiken, Unfälle, Gefahren, Zufälle“ beschäftigten die Öffentlichkeit, nicht aber Foucault.) Die gouvernementale Aufmerksamkeit richte sich darauf, wie man z. B. den Diebstahl „innerhalb solcher Grenzen hält, die sozial und ökonomisch hinnehmbar sind und um einen Mittelwert kreisen, den man als, sagen wir, optimal für ein gegebenes soziales Funktionieren ansehen wird“ (Foucault 2006, a. a. O.0a, 18) Foucault zeigt am Beispiel des „freien Kornumlaufs“ (ebd. 59 f.), wie „das Regieren“ nicht mehr auf eine disziplinarische Kornpolitik“ (ebd., 73) oder Vorgaben eines geringen Getreidepreises setzt, sondern auf selbstregulative Marktmechanismen. Mit ihnen sei die gewünschte Wirkung (Vermeidung des Nahrungsmangels) besser zu gewährleisten als durch Vorschriften (Ebd., 66, 69).
    Foucault profiliert die neue Gouvernementalität gegenüber einem früheren Regime, das mit dauernden „Verordnungen“ (ebd., 489) politisch zu lenken versuche. Demgegenüber gehe es nun darum, dass die Regierung weiß, auf welche Weise man die Mechanismen der Einzelinteressen spielen lassen soll, die durch die Phänomene der Kumulierung und der Regulation schließlich allen dienen werden“ (Ebd.). Genutzt werden soll „die Natürlichkeit jener Mechanismen, die bewirken, dass, wenn die Preise steigen, wen man sie steigen lässt, sie von alleine anhalten werden. Es ist jene Natürlichkeit, die bewirkt, dass die Bevölkerung, bis zu einem bestimmten Moment von den hohen Löhnen angezogen wird, und wenn sich die Löhne stabilisieren, so wird die Bevölkerungszahl nicht mehr steigen“ (Ebd.). Es handele sich um diejenige „Natürlichkeit“, die ein zentrales Thema der Ökonomie, der Sozialmedizin und der Demographie sei. Über die mit dieser „Natürlichkeit“ und nicht gegen sie arbeitenden Politik sagt Foucault:

    „Man wird beeinflussen, anreizen, erleichtern, tun lassen müssen: Mit anderen Worten, man wird verwalten, und nicht mehr reglementieren müssen. Diese Verwaltung wird als wesentliches Ziel nicht so sehr die Verhinderung von Dingen haben, sondern es so einzurichten (sic!), dass die notwendigen und natürlichen Regulationen greifen können, oder auch Regulierungen festzulegen, die die natürliche Regulation gestatten werden“ (Ebd., 506).

    Für den Liberalismus sei die Einsicht zentral,

    „dass die politische Technik sich niemals vom Spiel der Realität mit sich selbst lösen darf“ (Ebd, 77)

    Foucault arbeitet heraus, wie sich die neue Regierungskunst auf das Wissen um Krankheitserreger, Kindersterblichkeit, Geburtenraten, Impfungen u. ä. stützt.
    Jede Person kann Aussagen zusammenstellen und aus ihnen einen „Diskurs“ (hier: einen Diskurs über an „Sicherheit“ orientierte Regierungstechniken) konstruieren, um ihn dann von anderen Diskursen zu unterscheiden. (Bei Foucault handelt es sich um den Diskurs der „Souveränität“ des Fürsten sowie um den Diskurs der Polizeywissenschaft des 18. Jahrhunderts. Vgl. zu letzterem Foucault 20060a, 450-490.) Damit liegt aber noch keine Aussage dazu vor, ob dieser Diskurs für das tatsächliche Regieren maßgeblich ist. Angesichts des Elends der arbeitenden Klassen im 19. Jahrhundert wirkt die Vorstellung erstaunlich, im für diese Zeit charakteristischen Diskurs über das Regieren sei es hauptsächlich darum gegangen, „das Geschick der Bevölkerungen zu verbessern, ihre Reichtümer, ihre Lebensdauer, ihre Gesundheit zu mehren“ (Foucault 20060a, 158). Die Begrenzung des Arbeitstags sowie Vorgaben für Sicherheit am Arbeitsplatz mussten vielmehr erst mühsam von der Arbeiterbewegung erkämpft werden. Diese für das 19. Jahrhundert zentrale Auseinandersetzung spielt in Foucaults ausführlicher Darstellung der Gouvernementalität bezeichnenderweise keine Rolle.

    Das „Pastorat“

    Foucault sieht im Pastorat, der Beziehung zwischen Pastor und gläubigem Individuum, „das Präludium“ der Gouvernementalität (Foucault 20060a, 268). Er schildert die Proklamation einer neuen Machtsorte. Sie folge einer

    „Kunst des Führens, Lenkens, Leitens, Anleitens, des In-die-Hand-Nehmens, des Menschen-Manipulierens, […] einer Kunst des Ihnen-Schritt-für-Schritt-Folgens und des Sie-Schritt-für-Schritt-Antreibens, einer Kunst, die diese Funktion hat, sich der Menschen ihr ganzes Lebens lang und bei jedem Schritt ihrer Existenz kollektiv und individuell anzunehmen“ (Ebd., 241).

    Die von ihm herangezogenen programmatischen Zitate zur Beziehung zwischen Pastor und Individuum setzt Foucault nicht ins Verhältnis dazu, dass die große Mehrheit der Bevölkerung im Mittelalter, wenn überhaupt, dann nur in einem oberflächlichen Sinne dem Christentum anhing.

    Heinz Dieter Kittsteiner

    „Wenn ein Jesuit bei Eboli in Süditalien auf arme Schäfer trifft, die ihm auf die Frage, wie viel Götter es denn gebe, antworten: ‚hundert oder vielleicht tausend‘, wenn es in einer englischen Unterhausdebatte von 1628 heißt, in Teilen von Nordengland und Wales sei Gott nicht viel besser bekannt als unter Indianern“, dann verdeutlichen diese Beispiele „die prinzipielle Differenz zwischen einer Gelehrtenkultur und einer Mentalität der Masse der Bevölkerung“ (Kittsteiner 19950b, 17)

    Richard van Dülmen

    Faktisch bildete im Mittelalter „das Christentum jahrhundertelang wenig mehr als ein dünner Firnis unter einer kompakten Schicht heidnischer Vorstellungen und Praktiken, die noch tief im magischen Denken verhaftet waren“ (Breuer 19830c, 66). Foucaults These von der Macht des Pastorats über die Individuen lässt außer Acht, dass es sich beim 16. und z. T. auch 17. Jahrhundert um „Zeiten einer höchst magischen und abergläubischen Weltsicht“ handelt (von Dülmen 19940d, 78) Ein magisches und abergläubisches „Grundwissen“ existierte, „das quasi als Vorsorge- und Schutzmaßnahme diente“ und das „jeder Mensch in seiner Erziehung mitgeliefert bekam“ (Ebd., 82 f.). Darüber hinaus gab es gab es „Spezialisten der Volksmagie für besondere Fälle, weise, heilkundige Frauen und Zauberer“ (Ebd., 83). Insofern schien im Alltag vieles auf magischen Wegen „vom Menschen beeinflusst, gebannt oder gelenkt werden“ zu können (ebd., 82), ohne dass dabei die Kirche bzw. das „Pastorat“ eine Rolle spielte.

    Augustinus von Hippo
    Thomas von Aquin
    Wolf Friedrich Schäufele

    Die emphatischen Vorstellungen über das Pastorat faszinieren Foucault. Seine dergestalt okkupierte Aufmerksamkeit muss vieles ausblenden, das mit dieser überwertigen Idee unvereinbar ist. Fangen wir an mit der Veränderung des Gottesbildes in der christlichen Religion. Es ist „im Mittelalter […] immer mehr mit massiven Ängsten besetzt. Die Furcht zu ewiger Verdammnis in die Hölle zu fahren, ist weit verbreitet“ (Schäufele 20060e, 33).75 Den negativen Erwartungen entsprach die „Überzeugung“, dass die Zahl der im Endgericht Verdammten weit größer sein werde als die Zahl der Geretteten“ (Ebd.).76 „Die große Mehrheit der Menschen werde (Augustinus zufolge – Verf.) als eine ‚massa perditionis‚ der ewigen Verdammnis anheimfallen. Dementsprechend glaubte etwa auch Thomas von Aquino, dass nur der kleinere Teil der Menschen gerettet würde“ (Ebd., 33). Das vorherrschende Gottesbild war das eines unnachsichtigen Richters. Es unterscheidet sich von der Vorstellung eines Gottes, der vor allem durch Liebe charakterisiert sei.

    Foucault (20060a, 246f.) legt großen Wert auf die Vorstellung vom Hirten, der jedem einzelnen Schaf nachgehen solle, das sich verirrt habe, und dafür sogar zeitweise die große Masse der anderen Schafe aus den Augen verlieren dürfe. Foucault weicht der Frage aus, wie solche emphatischen Erwartungen an den Pastor koexistieren können mit der Unterscheidung zwischen Erwählten und Nicht-Erwählten. Foucault blendet zudem die unterschiedlichen Erwartungen an verschiedene Stände aus. Dem mittelalterlichen hierarchischen Weltverständnis korrespondiert eine Hierarchie der Christen. Die Mönche gelten als die eigentlichen Christen, die Laien als von der Religion nur in einer geringen Dosis erreichbar, seien sie doch von den minderwertigen Tätigkeiten absorbiert.

    Georg Wilhelm Friedrich Hegel
    Ernst Troeltsch

    Hegel (120f, 460) bemerkt über die damalige Kirche, sie mache sich Realität „nur untertänig“. Troeltsch (19190l, 272) zufolge ist „der beherrschte Stoff der Welt nirgends direkt christianisiert“. Zwar spricht Foucault über „die passiven Widerstände der Bevölkerungen, die auf dem Wege der Christianisierung waren und es bis spät ins Mittelalter hinein blieben“ (Foucault 20060a, 281). Diese „äußeren Hemmnisse“ des Pastorats nennt Foucault aber eher der Vollständigkeit halber. Eine Rolle in seiner Analyse des Pastorats spielen sie nicht.77 Foucault spricht über „Verhaltensrevolten im Feld des Pastorats“ (Ebd., 278). Solcher „Widerstand“ bleibt in Foucaults Darstellung ein bloßer Gegenspieler. Er hilft dem Spieler zu trainieren und sich zu vervollkommnen. Dieser „Widerstand“ stellt das Pastorat nicht infrage.

    Aaron Gurje-witsch

    Foucault zufolge „zeigen“ „schon vor der Reformation Praktiken der Frömmigkeit, der Beichte, der Anleitung zur Erforschung des Gewissens“, „wie sehr die katholische Kirche sich für den Einzelnen interessiert, und nicht nur für dessen Sünden, nicht nur für gesetzliches oder für ungesetzliches Verhalten, nein, man will wirklich wissen, was da im Kopf und im Herzen der Menschen vorgeht“ (Foucault III, 486). Denn das Interesse dran, was im Innenleben der Menschen vorgeht, bezog sich im Mittelalter aber darauf, wie Tugenden und Laster die mit einer Festung vergleichbare Seele des Menschen belagern. „Das Bild vom Menschen als einem „Gefäß“, das mit unterschiedlichem, im Verhältnis zu seinem Wesen äußerlichem Inhalt gefüllt ist, zeigt, wie kaum besser möglich, das Fehlen der Vorstellung von der […] Einmaligkeit der individuellen und souveränen Persönlichkeit in jener Epoche“ (Gurjewitsch 19780h, 344). Es macht einen Unterschied ums Ganze, ob der Glaubende ein Individuum ist, das sich selbst seine Handlungen zurechnet und bei negativ beurteiltem Handeln Schuld empfindet, oder ob es sich in vormodernen Zeiten nicht als integriertes und integrierendes Zentrum seiner Person auffasst, sondern das eigene Handeln als Inbesitznahme durch äußere Kräfte wahrnimmt.78

    Georg W. Oester-diekhoff
    Horst Fuhrmann

    „Historiker sprechen öfter davon, ein individuelles Gewissen existiere im Mittelalter nicht“
    (Fuhrmann, Horst: Einladung ins Mittelalter. München 1963, zit. n. Oesterdiekhoff 199213, 268)

    Ungeachtet dessen redet Foucault unbekümmert von pastoraler „Gewissensleitung“ (Foucault 20060a, 250, 264) oder davon, der Pastor „lenke“ das Gewissen (Ebd., 255). Wie kann zudem ein selbstreflexibles Gewissen angenommen werden, wenn die Voraussetzungen dafür fehlen, jemanden mit seiner mangelnden Wahrhaftigkeit zu konfrontieren? Ob das Verhältnis des Individuums zur Realität unter dem kalten Stern nüchterner Realitätsprüfung steht oder im weichen Element einer imaginären Vermischung von Subjektivem und Objektivem stattfindet – davon hängt viel ab für das subjektive Verhältnis der Individuen zu ihren moralisch „schlechten“ oder „lobenswerten“ Taten. Im Mittelalter war das Fabulieren weit verbreitet. (Vgl. dazu S. 250i)

    Foucault nimmt eine nicht weniger als eineinhalb Jahrtausende (vom 2., 3. bis 18. Jahrhundert) umfassende Kontinuität des Pastorats an (Foucault 20060a, 218) Wer von einem Pastorat spricht, das „sich“ „entwickelt“ (ebd.), schreibt ihm eine historische Kontinuität zu – trotz aller epochalen Umbrüche. Ein solches Konstrukt ist nur möglich um den Preis, den Begriff des Pastorats auszudünnen zu einem inhaltsleeren Sammelbegriff von „Techniken und Prozeduren“ für das „Management der Klientel“ (Ebd., 279).
    Foucaults Statement

    „Man könnte im Übrigen von der Pastoralisierung der Macht in der Sowjetunion sprechen“ (ebd. 291)

    passt gut zu seiner Auskunft

    „In gewissem Sinne war alles pastoral“ (Ebd., 222).

    Benedikt von Nursia
    Gregor I.

    Wenn „das Pastorat“ alles ist, was ist dann „das Pastorat“?
    Vom Hl. Gregor, dem Hl. Benedikt und vielen anderen Kirchenoberhäuptern stammen emphatische Darstellungen , die die Sorgfalt der Kirche ausmalen, ihre Energie und Aufmerksamkeit preisen und zu Höchstleistungen mahnen, sie beschwören und feiern. An dieser im doppelten Sinne „gigantischen Reflexion über das Pastorat“ (ebd., 221) knüpft Foucault an. Wie das Pastorat tatsächlich „arbeitete“ und wirkte, auf welche Weise es führt, lenkt, anleitet, manipuliert (ebd., 241), darüber erfahren wir wenig. Foucault spricht über

    Iwan Pawlow

    „die Visionen des Paradieses und der Hölle“ sowie das kirchliche „Versprechen der Vergebung und Belohnung nach der Beichte. Und was könnte erbaulicher sein als eine Seele, die weiß und gereinigt den Beichtstuhl verlässt. Das ist lediglich eine verfeinerte Form des alten Pawlow’schen Konzepts von Strafe und Belohnung“ (Foucault III0g, 844)

    Diese These passt nicht zu Foucaults Hochachtung für die „äußerste Feinheit und Komplexität“ der „Verantwortungsbeziehungen“ zwischen dem „christlichen Pastor und seinen Schafen“ (Foucault 2006, 246). Die Wirkungsweise der Beichte auf eine behavioristische Weise verstehen zu wollen erinnert an einen vollmundigen Überbietungsgestus, mit dem jemand Aufmerksamkeit erzielen und den Eindruck von Souveränität („der traut sich was“) vermitteln möchte. Ein dankbares Publikum fühlt sich durch solche Knallefekte gut unterhalten.
    Die von Foucault geschilderte neuzeitliche Gouvernementalität bezieht sich nicht auf die einzelnen Individuen, sondern auf die Bevölkerung. Es interessiert nun z. B., wie anfällig sie für Krankheiten ist und wovon die Geburtenrate abhängt. Der Staat der modernen Gouvernementalität „übernimmt nicht mehr so sehr die Verantwortung für die Individuen, sondern für diese neue Wirklichkeit“ (Ebd., 505). Sie lasse sich im Rahmen der „Wissenschaften“ thematisieren, die wie Demographie und Sozialmedizin „sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickeln werden“ (Ebd.). „Wenn man die Kunst des Regierens gefunden haben wird, wird man wissen, nach welchem Typ von Rationalität man diese Operation wird durchführen können, die weder die Souveränität ist noch das Pastorat“ (Ebd., 344). Damit widerspricht Foucault seine These, „der moderne abendländische Staat“ habe „eine alte Machttechnik, die den christlichen Institutionen entstammt, nämlich die Pastoralmacht, in eine neue politische Form integriert“ (Foucault 19870k, 248). Wer die Kontinuität der modernen Gouvernementalität zum Pastorat feststellen will, müsste zeigen, dass das moderne Regieren wie der Pastor die Verantwortung für jedes einzelne Individuum übernehme, und die Auskunft vergessen, die moderne Gouvernementalität beziehe sich auf Gesamtzustände, nicht auf Individuen.

    Foucaults These, die moderne Weise des Regierens nutze die Menschenführung des Pastorats, bleibt suggestiv. Sie deutet eher etwas an, als dass Foucault dies expliziert oder belegt. Es bleibt bei einer vagen Behauptung. Sie sagt zudem nichts Neues aus gegenüber Foucaults These, dass die Instrumente der Herrschaft nicht „die Gerichte, das Recht und der Justizapparat, sondern Medizin, soziale Kontrolle, Psychiatrie und Psychologie“ seien (Foucault IV0g, 242). (Wir sehen hier davon ab, dass es sich um eine nicht nachvollziehbare Entgegensetzung handelt: Jede Entscheidung über das Kindeswohl in Scheidungsverfahren, jede Einweisung eines Patienten in die Psychiatrie gegen seinen Willen sowie jede „fürsorgliche Unterbringung“ ist an ein juristisches Procedere gebunden.) Die vage Versicherung, das Pastorat habe sich im modernen Regieren verallgemeinert, ist allein dazu geeignet, den Verdacht, es handle sich um eine ganz subtile Lenkung, zu festigen.

    Foucault macht nicht deutlich, wie in modernen juristischen und administrativen Verfahren der Anspruch des „Pastorats“, der Hirte möge jedem Glaubensschäfchen einzeln und höchst individuell nachgehen, zu realisieren sei. Faktisch sind Klagen darüber verbreitet, dass Entscheidungen von Behörden und Verwaltungen dem jeweils vorliegenden „Einzelfall“ nicht gerecht würden. Klienten oder Patienten beanstanden häufig, Ärzte und Psychotherapeuten begegneten ihnen nicht „individuell“, sondern brächten nur das „Schema F“ zur Anwendung. Diagnosen dienen oft als Voraussetzung für die Mittelzuweisung. Sie besagen dann mehr über die in der betreffenden Einrichtung vorfindlichen Behandlungsmöglichkeiten als über den jeweiligen Patienten selbst. Dessen Probleme werden häufig umgedeutet in einen Bedarf nach dem jeweils gerade vorhandenen oder genehmigten Angebot. In der staatlichen Schule sind dem Anspruch, jedem Schüler einzeln gerecht zu werden, enge Grenzen gesetzt. Foucault schreibt der modernen Gouvernementalität durch die These von ihrer engen Verknüpfung mit dem Pastorat ein Eingehen auf die Individualität der Person zu, das weder zum Selbstverständnis des modernen „Regierens“ gehört noch zu seiner Praxis passt.

    –> (2)

    Quellenangaben und Endnoten:

    Fritz Kern
    H. Dreyfus
    Paul Rabinow
    Johan Huizinga
    Otto Brunner

    0a Foucault, Michel [2006]: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Frankfurt M.
    0b Kittsteiner, Heinz D. [1995]: Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt M.
    0c Breuer, Stefan [1983]: Sozialgeschichte des Naturrechts. Opladen.
    0d Dülmen, Richard von [1994]: Kultur und Alltag in der Frühen Zeit. Dritter Band. Religion, Magie, Aufklärung. 16.-18. Jahrhundert. München.
    0e Schäufele, Wolf-Friedrich [2006]: Der „Pessimismus“ des Mittelalters. Mainz.
    0f Hegel, Georg Wilhelm Friedrich [1971]: Werke. Hg. v. Eva Moldenhauer, Klaus Markus Michel, 20 Bde. Frankfurt M.
    0g Foucault, Michel: Schriften in vier Bänden, Frankfurt M. 2001, 2002, 2003 bzw. 2005.
    0h Gurjewitsch, Aaron J. [1978]: Das Weltbild des Mittelalterlichen Menschen. Dresden.
    0i Erst die mit modernen Gesellschaften verbundene Technik und Naturwissenschaft erfordern für breite Massen (im Unterschied zur kleinen Gruppe von Gebildeten) „abstrakte Denkprozesse, während die agrarischen und persönlich-konkreten Sozialverhältnisse traditionaler Gesellschaften die Populationen nicht nötigen, sich über das präformale Denkniveau zu entwickeln“ (Oesterdiekhoff 199213, 14).
    Im subjektivem Verhältnis des Individuums zu seinen Handlungen oder denjenigen anderer Personen macht es einen Unterschied ums Ganze, ob es sich auf die Realität unter dem kalten Stern nüchterner Realitätsprüfung bezieht oder im weichen Element einer Vermischung von Subjektivem und Objektivem. Diese Vermischung dominiert, wenn das Denken im Horizont von Animismus, Magie und Artifizialismus5 verbleibt.
    „Der mittelalterliche Mensch war nicht geneigt, klar zwischen seinen unmittelbaren Erfahrungen und phantastischen Fabeln zu unterscheiden. Für ihn war wesentlicher, die Naturerscheinungen symbolisch zu deuten und aus ihnen moralische Schlußfolgerungen zu ziehen.“ (Gurjewitsch 19780h, 68)
    Das Fabulieren ist in vormodernen Kulturen weit verbreitet.
    “ ‚Der Mangel an kritischem Unterscheidungsvermögen und die Leichtgläubigkeit treten […] deutlich aus jeder Seite der mittelalterlichen Literatur entgegen‘ (Huizinga)“ (Oesterdiekhoff 199213, 264). Im Mittelalter sind Urkundenfälschungen weit verbreitet (vgl. a. Fuhrmann 20020j, 195-221). Fritz Kern und Otto Brunner arbeiten an der mittelalterlichen Rechtspraxis heraus, wie zwei Momente koexistieren: die Anerkennung der „schwerlastenden Erhabenheit“ des mittelalterlichen Rechtsbegriffs (Kern) und eine recht willkürlich-idiosynkratische sowie sich an individuellen Wünschen und Absichten orientierende Interpretation des Rechts im jeweiligen Einzelfall. Brunner zufolge „wird im Mittelalter regelmäßig jede Verletzung des subjektiven Rechts eines Einzelnen von ihm zugleich als Verletzung göttlichen Rechts formuliert.
    0j Fuhrmann, Horst: Einladung ins Mittelalter. München 1963.
    0k Foucault, Michel [1987]: Das Subjekt und die Macht. In: Hubert F. Dreyfus, Paul Rabinow: Michel Foucault: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt M.
    0l Troeltsch,Ernst [1919]: Die Soziallehren der chrislichen Kirchen und Gruppen. Gesammelte Schriften, Band I, . Tübingen.
    5 „Das Kind betrachtet die natürlichen Dinge als lebendige Wesen, die zu einem bestimmten Zweck geschaffen wurden.“ Der Artifizialismus erklärt „die Gegenstandswelt nicht aus Kausalprozessen, aus denen sie hervorgegangen ist, sondern aus den Absichten und Motiven der Schöpfer“ (Oesterdiekhoff 199213, 169).

    Arnold Hirsch
    Die Arche Noah
    Gemälde v. Gustave Dore

    7 Noch im 16. und 17. Jahrhundert sind die literarischen Erzählstrukturen so geartet, dass sie „die Ereignisse aneinanderreihen, ohne sie um irgend eine Art von Zentrum zu organisieren, ohne in ihrer Abfolge in irgendeiner Form ‚motiviert‘ zu sein“ (Sonntag 19997a, 74). Der Aufbau von Romanen ist „episodisch“ und „reihenhaft“ (Hirsch 19797b, 25). Der Protagonist ist nicht wie im Entwicklungs- und Bildungsroman eine Person, die sich verändert durch ihre Erfahrungen und durch deren Verarbeitung. „Nicht Personen, sondern Typen treten auf, die Laster und Tugenden oder soziale Muster vertreten“ (Sonntag 19997a, 75). Vgl. Anm.78
    7a Sonntag, Michael [1999]: „Das Verborgene des Herzens“. Zur Geschichte der Individualität. Reinbek bei Hamburg.
    7b Hirsch, Arnold [1979]: Bürgertum und Barock im deutschen Roman. Zur Entstehungsgeschichte des bürgerlichen Weltbildes. Köln.
    13 Oesterdiekhoff, Georg W: Traditionales Denken und Modernisierung, Opladen 1992.
    75 „Eine statistische Auswertung nordfranzösischer Predigten des späten Mittelalters ergab, dass Tod und Weltgericht, Hölle und Fegefeuer etwa dreißigmal häufiger behandelt wurden als Himmel und Paradies“ (Schäufele 2006, 34)
    76 Nach Augustinus ist die Zahl der Erwählten „begrenzt und allein darauf berechnet, die Zahl der gefallenen Engel zu ergänzen“ (Schäufele 20060e, 33) Beliebt war die Überlegung, sich in Bezug auf die Zahl der Geretteten an die mutmaßliche Relation zwischen der Anzahl der auf der Arche Noah vor de Sintflut Geretteten zu der Zahl der Ertrunkenen zu halten. „Das Ergebnis solcher Spekulationen war dann, dass nur einer von tausend oder gar von zehntausend Menschen gerettet werde“ (Ebd.).
    77 „Unter äußeren Hemmnissen muss man wohlgemerkt eine ganze Reihe von Dingen verstehe, die ich vernachlässigen werde, nicht, weil sie nicht existieren oder keine Wirkung gezeitigt hätten, sondern weil dies nicht der Punkt ist, den ich berücksichtigen möchte und der mich vor allem interessiert“ (Foucault 20060a, 281).
    78 In mittelalterlichen Chroniken „werden die Handlungen nicht den Menschen selbst, sondern ihren entsprechenden Eigenschaften zugeschrieben: Die entsprechende Handlung entspringt jeweils einer Eigenschaft des Menschen. Untereinander sind diese Eigenschaften nicht die ganzheitliche Persönlichkeit, sondern eine gewisse Gesamtheit vereinzelter selbstständig wirkender Eigenschaften und Kräfte. Der mittelalterliche Realismus personifizierte Laster und Tugenden […] und verlieh ihnen Selbständigkeit. Auf diese Weise wirkten lediglich einzelne Attribute des Menschen, aber kein einheitlicher Charakter; anstelle dessen sah der Kirchenchronist ein Bündel von abwechselnd auftretenden Eigenschaften“ oder „personifizierter Tugenden und Laster“ wie z.B. „Güte und Habsucht, Hochmut und Klugheit, Sanftmut und Gerechtigkeit […]. Der Mensch befand sich in der Regel zum gegebenen Zeitpunkt in der Macht irgendeiner dieser sittlichen Kräfte, und unter deren Einfluss führte er dann seine Handlungen aus. Die Initiative ging von diesen Kräften aus […]. In der menschlichen Seele kämpften verschiedene Kräfte, doch deren Ursprung befand sich außerhalb der Persönlichkeit. Deshalb waren auch diese Kräfte oder moralischen Eigenschaften selbst unpersönlich, und sowohl die Tugenden als auch die Laster waren Allgemeinbegriffe. Sie erhielten von dem Menschen, in dem sie sich befanden, keine individuelle Färbung; im Gegenteil, ihre Anwesenheit im Menschen bestimmte dessen Geistesverfassung und Verhalten. Sie drangen in ihn ein, ähnlich wie nach mittelalterlichem Glauben der Teufel in den Menschen eindringen konnte, und verließen ihn ebenso, wie die unreine Kraft (der Teufel) die menschliche Haut verließ. Die mittelalterlichen Moralisten verglichen die Seele des Menschen mit einer Festung, in der die Tugenden von den sie befallenden Lastern belagert sind“ (Gurjewitsch 1978, 343 f.). Vgl. Anm.7

    Meinhard Creydt

    (Meinhard Creydt: „Gouvernmentalität“. in: Ders.: Der Foucault-Ismus – Analyse und Kritik einiger seiner zentralen Lehren, Kassel 2024, S. 159 – 202, hier: S. 159 – 167)

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  • Der revolutionäre Revisionismus in Frankreich (3)

    Zeev Sternhell
    Mario Sznajder, Maria Asheri
    1988
    aus dem Französischen von Cornelia Langendorf

    <<- Der revolutionäre Revisionismus in Frankreich (2)(1)
    George Sorel und die antimaterialistische Marxismusrevision (3)(2)(1)
    Das „Konzept des Faschismus“ Teil (3)(2)(1)

    Georges Sorel
    Édouard Berth

    Der Bourgeoisie und der Demokratie die geistige und moralische Berechtigung abzusprechen, blieb das Hauptanliegen der Sorelianer. So griff Berth einen Leitgedanken Sorels auf und betonte, „die soziale Idee“ könne nicht bürgerlich sein, sondern „nur militärisch oder proletarisch„.124 Der Krieg bleibe stets „Quelle und Prinzip jeglicher Tugend“, die antike Polis habe sich aufgelöst, „als das heroische, kriegerische Ideal ins Wanken geriet“.125

    Pierre-Joseph Proud-hon
    Sokrates
    Fried-rich Nietz-sche
    Henri Berg-son
    Eduard Bernstein
    Auguste Comte

    Wie sein Lehrmeister hatte Berth nichts als Geringschätzung für die „sokratische Kultur“ und Sokrates selbst übrig. Den Lehren dieses „ersten Dekadenten„, des „Zerstörers der heldenhaften und kriegerischen hellenischen Polis„,126 stellte er „eine tragische Lebens- und Weltanschauung“ entgegen.127 Wiederum Sorel folgend, brandmarkte er das „ausschweifende und bereits pornographische 18. Jahrhundert“, das degeneriert und verkommen gewesen sei. Dagegen rühmte er Bergson, „der den Intellektualismus zugrunde richtete“,128 und Nietzsche, dessen „Übermensch (…) sich dem revolutionären Sozialismus anschließen könnte“.129 Comte und der Positivismus, der Rationalismus, der Intellektualismus und der Utilitarismus verkörpern das Schlechte, Proudhon und Nietzsche das Gute: Nietzsche, weil er lehrte, der Mensch müsse „sich selbst überwinden“ und werde „nur dann zum Helden, wenn er sich an den großen Kämpfen beteiligt, durch die die heroischen oder göttlichen Werke der Geschichte zustande kommen“, Proudhon, weil er verstand, in welchem Maße der Krieg „alles ins Erhabene hebt“ und „den Menschen über sich hinauswachsen läßt“.130
    Berth wollte „eine neue Lebensphilosophie“ und eine neue „Hierarchie der Werte, in der nicht mehr die Wissenschaft den ersten Platz einnimmt, sondern die Tat“.131 Er glaubte übrigens nicht, daß abstrakte Theorien über die Sozialisierung der Produktionsmittel die Revolution bewirken würden, sondern „die tiefen Gefühle, die unser ganzes Sein durchdringen“.132 Darum brachte er, sich neuerlich auf Nietzsche berufend, seine Verachtung für das zum Ausdruck, was der deutsche Philosoph „englische Ideen“ genannt hatte, den Liberalismus und die Demokratie, denen die Reformisten leider verhaftet blieben, Bernstein allen voran. Für Berth war es „der Wille zur Macht“ des Proletariats, der dessen Gewaltsamkeit schüren und dem Sozialismus ein neues Gesicht verleihen sollte.133 Deshalb schöpfte Berth auf den Spuren Sorels bei Nietzsche und Proudhon Inspiration in der festen Absicht, dem Sozialismus neue Strukturen zu geben.134 Doch bevor man das Proletariat in Kampfeinheiten organisieren konnte, mußte man erst seine traditionelle – politische wie emotionale – Bindung an die Demokratie zerstören.

    Hubert Lagar-delle
    Jean Jaurès
    Mille-rand

    Die Ähnlichkeit in den Anschauungen Berths und Lagardelles über die Demokratie verstärkten sich mit dem wachsenden Einfluß Sorels auf die beiden. Schon 1902 meinte Lagardelle: „Wenn das demokratische Prinzip – mehr noch als eine demokratische Regierung – dem sozialistischen Proletariat am Herzen liegt“,135 so bleibt dennoch die Tatsache, „daß der Sozialismus, der in manchen Punkten mit der Demokratie übereinstimmt, von ihr gefährdet wird“.136 Ganz entschieden lehnte er das Sozialismuskonzept ab, das während des Nationalen Kongresses in Tours im März 1902 erarbeitet wurde, wo die von Jaurés vorgelegte Charta der Sozialistischen Partei Frankreichs mit Begeisterung angenommen wurde. Diese Charta stellte den Sozialismus als unabdingbare Ergänzung der Menschenrechtserklärung dar.137 Lagardelle wies die Behauptung zurück: „der Sozialismus ist das logische Ergebnis der Demokratie“ und gelangte zu dem Schluß, es gebe einen erheblichen Widerspruch zwischen „dem Klassenkampf, die die Grundlage des Sozialismus bildet“, und der Demokratie.138 Nach dem „Millerand-Experiment“ und der Dreyfus-Affäre139 hörte Lagardelle nicht auf, „die Verkommenheit“ zu geißeln, die er überall entdeckte, und die Vereinigung mit mit Elementen der radikalen bürgerlichen Linken zu verurteilen, wie sie das Programm von Tours vorsah.140 Dieses Programm besiegelte den Triumph des „Staatssozialismus“, der „neuen Sozialdemokratie„, zu deren Symbol Jaurès geworden war, der gemeinsame Kandidat der Radikalen und Sozialisten im Departement Tarn.141
    Zwei Jahre später wurde der Ton erheblich schärfer:

    „Im Kontakt mit der Demokratie hat sich der Sozialismus in Frankreich aufgelöst“,142 „der heutige Sozialismus hält der Demokratie nicht stand“.143

    Karl Johann Kauts-ky

    Für Berth stellte die Demokratie eine Art Fegefeuer dar, einen natürlichen und notwendigen Übergang zwischen Ancien régime und Sozialismus, trotzdem „besteht zwischen Sozialismus und Demokratie ein prinzipieller Antagonismus“.144 Dabei handelt es sich um ein Grundsatzproblem, das die revolutionären Syndikalisten nicht allein von den Reformisten trennte, sondern auch von jenen, die 1905 als orthodox erschienen, einschließlich Kautsky, der ein Buch über Parlamentarismus und Sozialismus verfaßte. Berth bezeichnete dieses Werk als beispielhaft für den Kardinalfehler der Orthodoxen, wenn sie glaubten, der Triumph des Sozialismus könne dem Parlamentarismus neues Leben einhauchen und sich dann seiner für ganz andere Zwecke bedienen. Eine Illusion, meinte Berth, denn der Parlamentarismus sei die Hauptform der politischen Herrschaft der Bourgeoisie und müsse mit ihr untergehen.145 Die Regeln der Demokratie dürften in der Arbeitswelt nicht heimisch werden.

    Das folgende Zitat vermittelt ein gutes Bild von der Einstellung der Sorelianer zur Demokratie. Dabei handelt es sich nicht, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte, um eine Kritik der demokratischen Praxis, sondern um die Mißbilligung der Prinzipien des demokratischen Regimes:

    Gottfried Wilhelm Leibniz
    Epikur

    „Was hätte das Gesetz hier zu suchen, die Demokratie mit ihrer Wahlmanie und ihrem dummen Mehrheitsdogma? (…) Die geheime Wahl ist übrigens ein perfektes Symbol für die Demokratie! Seht euch nur diesen Bürger an, diesen Teil des Souveräns, der zitternd seine Souveränität ausüben kommt. Er versteckt sich, er meidet die Blicke der Öffentlichkeit, kein Stimmzettel ist ihm undurchsichtig genug, um seine geheimen Gedanken, seine Souveränität vor Neugierigen zu verbergen. Wie ein Dieb schleicht er sich in die Wahlkabine – hier ist er allein mit seinem Gewissen, dem angeblichen Herrn des Augenblicks. Er sammelt sich, er ist frei – frei wie die Leibnizsche Monade bei geschlossenen Türen und Fenstern! Denn das ist die wahre Auffassung der Demokratie von der Freiheit: die Freiheit der Monade oder, wenn man will, die Freiheit Epikurs, zurückgezogen von der Welt, friedlich seinem Egoismus und seiner einsamen geistigen Ruhe hingegeben, fern der Sorgen und Mühen des Gesellschaftslebens, frei und souverän in seiner Abgeschiedenheit und seinem Nichts. Das versteht die Demokratie unter dem ‚König Volk‘: Dank ihr ist von seiner kollektiven Macht nichts geblieben als eine Prozession ängstlicher Schatten, die zitternd und insgeheim ihre angebliche Souveränität ausüben, während ihr Gewissen, seinem Egoismus und seiner Feigheit überlassen, schweigt.“146

    L’Ultima Cena (Leonardo da Vinci)
    Jules Guesde
    Ro-bert Michels
    Arturo Labriola
    Filippo Turati

    Diese grimmige Verdammung der Demokratie führte zu einer wütenden Kampagne der Sorelianer nicht nur gegen „den reformistischen Revionismus“ sei er nun gewerkschaftlich oder politisch, gegen den „moralischen Niedergang“ und den „parlamentarischen Kretinismus“, die daraus folgen, sondern auch gegen jede „guesdistische“ Auffassung des Sozialismus.147 Kein Urteil war zu hart, kein Sarkasmus zu beißend für diesen „Sozialismus des geringsten Widerstandes“,148 „das Nichts und die Verlogenheit des reformistischen, demokratischen und idealistischen Staatssozialismus“,149 diesen „durch und durch bürgerlichen Sozialismus“, der sich auf internationalen Kongressen tummelt mit ihren Intrigen, ihren Reden der Prominenten und allen „Veranstaltungen, die bei solchen Jahrmärkten und Rummelplätzen üblich sind“.150
    Die Herausgeber des Mouvement socialiste hatten nicht vor, ihre Feindseligkeiten auf Frankreich zu beschränken, so öffneten sie ihre Kolumnen auch den italienischen Nonkonformisten und Robert Michels, Arturo Labriola und Enrico Leone versäumten nicht, ihre Rechnung mit „dem Bastard von gezähmtem Sozialismus“ zu begleichen, der sich auf der Halbinsel ausbreiten wollte, mit seinem reformistischen Chef Turati, den die Mailänder Bourgeoisie als „eine Art drittes Stadtwunder neben dem Dom und Leornardos Abendmahl“ zu betrachtet, mit dieser „reformistischen Farce“, deren Protagonisten „vor der Monarchie die zierlichsten Verbeugungen machen“ und gleichzeitig behaupten, sie verträten „die einzig revolutionäre Auffassung vom Sozialismus“.151

    Michele Bianchi
    Enrico Ferri
    Paolo Orano
    Tomaso Monicelli

    Das Jahr 1906 war ein wichtiges Datum für die Sorelianer. Einerseits wurden mit der Veröffentlichung von Über die Gewalt die ideologischen Grundlagen der Bewegung geschaffen, andererseits begann in Italien die große Auseinandersetzung zwischen den Theoretikern des revolutionären Syndikalismus und der Sozialistischen Partei. Tatsächlich hatte der Kampf gegen die Syndikalisten schon 1905 eingesetzt, als Enrico Leone Avanti! verlassen mußte. Er hatte sich in den Spalten der sozialistischen Tageszeitung positiv über den Generalstreik von 1904 geäußert, und der zentristische Chefredakteur Enrico Ferri, der wenig Begeisterung für diese Massenaktion aufbrachte, ließ sich von der Parteileitung einstimmig das Vertrauen aussprechen und zwang Leone zum Rücktritt. Mit ihm gingen Michels, Bianchi, Paolo Orano und Tomaso Monicelli.152 Sie alle trugen aktiv dazu bei, die sozialistisch-nationale Synthese von 1910 zustande zu bringen und schufen so die Basis für den Faschismus. Zur selben Zeit wurden sich diese Männer allmählich der wahren Substanz der sozialistischen Politik wie der gesellschaftlichen Realität in Italien bewußt. Sie erkannten, daß ein Zusammenstoß mit der sozialistischen Partei unausweichlich war, und, was noch mehr ins Gewicht fiel, sie zweifelten immer mehr an der revolutionären Kraft des Proletariats.

    Ottavio Dinale

    In den Beziehungen zur Sozialistischen Partei zeichneten sich 1906 zwei Tendenzen ab: Arturo Labriola blieb ihr trotz aller Kritik noch treu (darin ähnelte er Lagardelle), forderte aber die Syndikalisten auf, sich „mit seinem Verhalten nicht zu solidarisieren“,153 Ottavio Dinale dagegen fragte im Sommer desselben Jahres, wie lange die den Klassenkampf fordernden Syndikalisten noch Seite an Seite mit einer Partei marschieren könnten, die zu einer reinen Wahlagentur geworden war.154
    Die Ernüchterung war noch beträchtlicher, als die Nonkonformisten einsehen mußten, auf welch enorme strukturelle Probleme ihre revolutionären Bestrebungen stießen. Arturo Labriola schrieb:

    „Der Sozialismus des Klassenkampfes ist ein ideologischer Vorgriff im Hinblick auf die historischen Bedingungen unseres Landes. Die Erfahrung scheint zu lehren, daß die Massen der Wähler schon das Prinzip des Klassenkampfes ablehnen.“155

    Sergio Pa-nunzio

    Sergio Panunzio meinte, daß die großen theoretischen Schwierigkeiten des heutigen Sozialismus „das sozialistische Bewußtsein der Masse nicht allzusehr beschäftigen“.156 Dinale bedauerte „die passive Psychologie des Proletariats, die es ohnmächtig und schlapp machte, wenn immer es einen neuen Aderlaß erlitt“.157 Daher gelangten Labriola wie Dinale zu dem Schluß, nur die Gewalt könne dem Proletariat „den Sinn für Heroismus“ vermitteln, der es zu einer „revolutionären Masse“ machen und die einzige „Garantie für eine höhere Menschheit“ darstellen würde.158 Für Paolo Orano mußten die Revolutionäre „die Barbaren des monströsen bürgerlichen Reiches sein, das die Reaktion mit dem Mörtel der Sozialdemokratie errichtete“.159

    Rosa Luxemburg
    Friedrich Engels

    Die Italiener, die schon immer nach Frankreich geblickt hatten und es um seine durch die Kommune gekrönte Arbeiterbewegung beneideten, hatten mit enormen Schwierigkeiten zu ringen: Regionale Rivalitäten und Korruption im öffentlichen Leben in einem Ausmaß, das alle übrigen westeuropäischen Länder übertraf. Die Schwarzmalerei der italienischen Sorelianer und die Hitzigkeit ihrer Sprache kann daher nicht verwundern. Um so erstaunlicher ist, daß Robert Michels das totale Versagen der SPD anprangerte, den diese große Partei, die so lange die internationale sozialistische Szene beherrscht hatte – mit Engels, Kautsky, Bernstein und Rosa Luxemburg -, stand in ihrer Radikalität den italienischen Dissidenten in nichts nach. Die französischen, italienischen und deutschen Nonkonformisten fühlten sich solidarisch und wollten es auch sein. Zunächst, weil die sozialistischen Parteien ihrer jeweiligen Länder sie ablehnten, dann aber – und das war das entscheidende Element -, weil sie unerschütterlich davon überzeugt waren, daß sie als einzige noch den wahren Sozialismus in Europa vertraten.

    „Der Parlamentarismus tötet den Sozialismus; so ist es überall, in Frankreich und Italien wie in Deutschland“,

    August Bebel

    sagte Michels.160 In den Augen dieser Revolutionäre stellte Deutschland das Laboratorium des Sozialismus dar, und die Vorgänge dort nahmen vorweg, was anderswo geschehen würde. Beneideten nicht alle Sozialisten die Partei Bebels um ihre Macht?

    Clara Zetkin
    Gustave Hervé

    Nun war Deutschland aber gerade ein warnendes Beispiel. Denn, fragte Michels, was konnte man von der Demokratie erwarten, wenn eine Partei mit 300 000 Mitgliedern, die bei den allgemeinen Wahlen drei Millionen Stimmen erzielte, sich als unfähig erwies, in ihrem Land die geringste Veränderung herbeizuführen? Wozu diente das allgemeine Wahlrecht, wenn eine solche Partei nicht einmal in der Lage war, den Staat in liberalem Sinne zu beeinflussen? Was konnte man von den Mechanismen eines Systems erhoffen, das ein Drittel der abgegebenen Stimmen zur Unproduktivität verurteilte? Und wozu nützte es schließlich, eine Partei zu haben, Gewerkschaften, Geld, Zeitungen, Schulen und vereine, wenn sich die sozialistischen Massen „faul und handlungsunfähig“ zeigten, weil sie keine moralische Erziehung erhalten hatten?161 Drei Jahre später, 1907, schätzte Michels die Zahl der ordentlichen und zahlenden Mitglieder der SPD auf 400 000. Diese Partei bot aber nur das Schauspiel eines enormen bürokratischen Apparats, in dem die Organisation zum Selbstzweck geworden war.162
    Dasselbe galt für die deutsche Gewerkschaftsbewegung, die mit ihrer Million Mitgliedern und einem hervorragenden Verwaltungsapparat mit „dem preußischen Staat den Ordnungssinn, den Eifer und die guten Eigenschaften von Finanzbeamten“ teilte. Das einzige Ideal dieser Bewegung, die sich gerne rühmte, nur wirtschaftlichen Faktoren Rechnung zu tragen, bestand in wohlgefüllten Kassen.163 Die großen theoretischen Debatten von einst waren tot und begraben. Kautsky, Rosa Luxemburg oder Clara Zetkin stellten nur noch eine unbedeutende Minderheit dar in einer Partei, die der Parlamentarismus in ein zusätzliches Rad im Staatsgetriebe verwandelt hatte. Im Kriegsfall, ob gegen England oder Frankreich, würde man ein sehr revolutionäres Manifest veröffentlichen und dann auf den Feind losmarschieren.164 Michels geißelte den deutschen Patriotismus der sozialistischen Führer als einen weiteren Aspekt ihres moralischen und politischen Niedergangs. Er teilte die Ansichten Hervés, der es für kindisches Geschwätz hielt, zwischen „Angriffs- und Verteidigungskrieg“ unterscheiden zu wollen. Er führte daher eine mutige antimilitaristische Kampagne, die ihm große Schwierigkeiten mit der eigenen Partei eintrug: Nach einer Vortragsreihe in Paris wurde er praktisch des Verrats beschuldigt.165

    Trotz allem schien es 1904/05, daß es zur Revolution kommen könnte. Der italienische Generalstreik von 1904 wurde als Erfolg gewertet – in mehr als einer Hinsicht war er das auch -, und der Jenaer Kongreß der SPD im September 1905 stellte für Michels „einen leichten Linksruck“ dar, eine Annäherung an die Taktik des Klassenkampfes. Am anderen Ende Europas war in Rußland soeben der bewaffnete Aufstand ausgebrochen. Nach Michels‘ Meinung wuchs die Zahl , die nicht mehr an den Parlamentarismus als Mittel zur Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft glaubten.166 Diese Hoffnungen dauerten jedoch nicht lange. Im September 1906 erlitt eine vernichtende Niederlage, die sehr schnell zu einem wahren Fiasko für die deutschen Gewerkschaften ausartete. 33 000 Arbeiter wurden entlassen, als Vergeltungsmaßnahme für einen Streik, den ein paar Hundert Metallarbeiter ausgerufen hatten. Konfrontiert mit selbstbewußten Arbeitgebern, stürzten die Gewerkschaften das Proletariat in die Katastrophe.167

    Michels gelangte nun zu dem Schluß, daß die Unbeweglichkeit nicht allein an den Apparaten und Oligarchien der Arbeiterorganisationen liege, sondern auch an der sozialen Wirklichkeit, die er schon 1904 „das unbewußte und blinde Massenproletariat“ genannt hatte.168 Diese Arbeitermasse, die durch eine Handvoll Gendarmen in Angst versetzt wurde, hatte sich in der Vergangenheit wenigstens für theoretische Diskussionen begeistert, und ihre Anführer hatten bei den Wahlen eine glückliche Politik bewiesen.169 1907 war auch das vorbei, die Partei konnte nicht einmal mehr einen Urnengang gewinnen! Berth nahm die Gelegenheit wahr, mit dieser „mächtigen Institution sozialistischer Theologie“ abzurechnen, zu der die einst so stolze SPD geworden war, die sich im Besitz der Wahrheit wähnte,170 und sein grimmiges Vergnügen wurde nur noch durch den Sarkasmus Lagardelles übertroffen,171

    Ähnlich dachte man in Italien. Seit die sozialistische Bewegung „auf Stimmengang ausging“, sagte Arturo Labriola, wurde es immer offenkundiger daß es zwischen den Wahlsiegen des Sozialismus und seinen tatsächlichen Fortschritten „keinerlei Verbindung gab. Niemals schien die sozialistische Gesellschaft weiter von ihrer Verwirklichung entfernt als im Umkreis der Macht.“172 Schließlich zeigten die Wahlniederlagen, daß sich Kompromisse und Abtrünnigkeit nicht lohnten. Und Labriola stellte fest: „Sozialismus ist etwas anderes als Demokratie.“173
    Es blieb also nur die direkte Aktion, wie Lagardelle sagte:

    „Der Klassenkampf ist der ganze Sozialismus.“174

    Aber hier stieß man auf ein Problem, das dem revolutionären Syndikalismus am Ende das Genick brechen sollte, denn der Klassenkampf selbst stellte keine soziale Wirklichkeit dar. Man mußte sie erst künstlich erschaffen und innerhalb des Proletariats den Sinn für Heldentum, Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft entwickeln, die der Kapitalismus nicht hatte hervorrufen können. Allein „das revolutionäre Ideal, der Kampfgeist“ würden über den Sieg entscheiden., wie Lagardelle Jules Guesde auf dem Kongreß von Nancy entgegenschleuderte.175 Und Michels fügte hinzu: Eine Bewegung, welche die Emanzipation der Arbeiterklasse anstrebt, „verliert nicht nur ihre Wirksamkeit, sondern auch ihre Daseinsberechtigung, wenn sie beginnt, die Opfer in Erwägung zu ziehen und vor ihnen Angst zu haben“. Opferbereitschaft sei die Voraussetzung für „die selbstbewußte Kraft, die als einzige eine historische Größe darstellt“.176 Lagardelle versicherte seinerseits, man müsse den Mut der Proletarier anstacheln, „ihren Willen bilden, sie zum Handeln anhalten und die direkte Aktion predigen“, weil sie die Arbeiter lehre, „daß es nichts Zwangsläufiges gibt, weil die Menschen selbst ihre Geschichte gestalten“.177
    Schon drei Jahre zuvor hatte Michels die mangelnde „moralische Motivation“ der deutschen Arbeiter angeprangert, die fatale Folge „eines schlecht verstandenen historischen Materialismus„.178 Auf diese Weise brachten die Intellektuellen des revolutionären Syndikalismus die Lehren Sorels in ihre eigene antimaterialistische Marxismusrevision ein.

    Marx

    Die Etappen des Weges, der die Sorelianer zur sozialistisch-nationalistischen Synthese führte, lassen sich leicht nachzeichnen. Zunächst wollten sich die Dissidenten sowohl von einem gewissen Idealismus (der gerne mit dem Utopismus verwechselt wurde), den sie für eine Ausflucht des gewöhnlichen Opportunismus hielten, als auch vom wirtschaftlichen Determinismus distanzieren. Damit brachen sie mit dem Reformsozialismus und der Orthodoxie zugleich, die in ihren Augen nichts als zwei Formen desselben schlechtverstandenen und wirkungslosen Marxismus darstellten. Angesichts dieser „Abweichung“ predigten die Sorelianer die Rückkehr zu Marx und zum authentischen Marxismus: zum Marxismus des Klassenkampfes, der zum moralischen Wert erhoben wurde. Denn in diesem Stadium ihrer Entwicklung beruhte der Marxismus für sie in erster Linie auf dem Postulat, daß es homogene soziale Klassen gebe, die sich im Kriegszustand befänden. Diese Konfliktsituation war der Schlüssel zur Zukunft. Dabei riefen sie u einem gnadenlosen Kampf gegen alles auf, was diesen Antagonismus verminderte oder vermindern könnte: politische Demokratie, Menschenrechte, universelle Werte, Sozialkatholizismus und Reformsozialismus. Die Verhältnisse zwischen den Klassen waren Kräfteverhältnisse, und die Sorelianer begnügten sich nicht mit dieser Feststellung, sondern wollten sie „zum Rezept machen“.179 Denn die Kraft, sagte Lagardelle, „ist das Mittel zur Weltveränderung und der Klassenkampf die wahre Triebkraft der modernen Welt“.180 Berth zufolge bestand die eigentliche Größe von Marx nicht darin, das Problem des Eigentums erörtert zu haben – andere hatten das vor ihm getan -, sondern mit der Erarbeitung seiner Theorie des Klassenkampfes „das Handeln, das Leben, das Werden über die abstrakte Idee gestellt zu haben“.181 In diesem Sinne übernahmen die französischen Sorelianer das Schlagwort Panunzios:

    „Der Syndikalismus ist das historische Äquivalent des Marxismus.“182

    Aber sie hatten auch Marx‘ Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte gelesen und wußten, daß eine Gesellschaftsschicht, die einem Sack Kartoffeln glich, keine Klasse im marxistischen Sinn des Wortes darstellte, selbst wenn sie die objektiven Merkmale einer Klasse aufwies: Es fehlte ihr „das Bewußtsein“, das „gemeinsame Wollen“, die nur im Kampf entstehen.183

    Gewiß hatten die Sorelianer in nuce während ihrer Lehrjahre bereits begriffen, daß „dieser Klassenegoismus nicht mit hohen moralischen Bestrebungen vereinbar war und an sich eine niederschmetternde Herabwürdigung des sozialistischen Geistes und Bewußtseins darstellte“.184
    Aber das war nur ein Aspekt des wesentlichen Problems. Seit 1900 bekämpfte Berth den Glauben „an eine automatische und fatale Entwicklung“ und das blinde Vertrauen „in die angeblich schwindelerregende Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft“, die alle revolutionären Bestrebungen lahmlegten. Nachdem das Kleinbürgertum und die Bauernschaft nicht zum Proletariat gehörten, nachdem der Kapitalismus weniger für den Sozialismus arbeitete, mußte der Sozialismus dann nicht „mehr für sich selbst arbeiten“?185 Führte dieser Glaube an einen primitiven Determinismus, an „die dogmatischen Voraussagen der Wissenschaft“ nicht zum Debakel des Sozialismus, einem totalen Debakel, „das nur einen schändlichen Reformismus übrigließ und sich in die alten revolutionären Parolen hüllte“?186 Genau an diesem Punkt setzte der revolutionäre Syndikalismus an. Er „bringt die Katastrophenidee vom Pol der kapitalistischen Zwangsläufigkeit zum Pol der Arbeiterfreiheit. Sein großes Anliegen ist das Proletariat aus der Passivität in die Aktivität zu führen.“187 Die direkte Aktion und der Generalstreik sollten die praktische Anwendung des sorelianischen Voluntarismus sein.188 In diesem Sinne schrieb Berth, Sorel folgend, in einem wichtigen Abschnitt, der die tiefere Natur dieser Revolte deutlich macht:

    „Damit die Menschen wie die Dinge, die Gemeinschaften wie die Individuen zu ihrer vollen rechtlichen und metaphysischen Verwirklichung gelangen, bedarf es gewaltsamer Auseinandersetzungen: So verlangt es das Gesetz des Lebens, das ein universaler Antagonismus ist.“189

    Dieses Element des Sozialdarwinismus verband sich mit dem Sorelschen Mythosgedanken. Der grandiose und erhabene“ Mythos vom Generalstreik „ist keine Idee, sondern eine absolut neue Kollektivstimmung, eine völlig neue soziale Intuition„.190 Im Vorwort zu seiner Artikelsammlung unter dem Titel Die Missetaten der Intellektuellen schrieb Berth, der Mythos sei für Sorel „ein Ausdruck des Wollens (…). Sorel geht von der einfachen Feststellung aus, daß man auf der Welt niemals etwas unternehmen würde, wenn es nur die Vernunft gäbe; die Vernunft ist von Grund auf relativistisch, während sich das Handeln vom Absoluten herleitet.“191

    Zu diesem Kult des Aktivismus, begleitet von tiefem Mißtrauen gegenüber der Vernunft, gesellte sich eine wahre Verehrung des Krieges, der Größe und Tugend verleiht. Wiederum berief sich Berth auf Proudhon, wenn er sagte, der Antagonismus sei „Grundglaube des Universums“. In diesem Zusammenhang verglich er die Industrie mit einem Schlachtfeld und definierte den Krieg als „das tiefgründigste, erhabenste Phänomen unseres moralischen Lebens“.192 Schließlich brachte der Konflikt die Mobilisierungskraft hervor, ohne die es keine Massenbewegung gibt:

    „Der Streik ist ein Phänomen des Lebens und der Massenpsychologie; dabei spielen sehr starke, sehr ansteckende, fast elektrische Kollektivgefühle mit. (…) Der Wille des einzelnen Arbeiters geht in dieser Einheit auf, wird von ihr absorbiert, der individuelle Egoismus, das Privatinteresse, die kleinlichen persönlichen Anliegen, die heimlichen Feigheiten verschwinden. Es gibt nur noch eine elektrisierte Masse, eine komplexe Kollektivpersönlichkeit, die sich einmütig und mächtig zu den höchsten Höhen des Heldentums und der Erhabenheit aufschwingt.“193

    Das konzeptuelle Rüstzeug für den Übergang zum sozialistischen Nationalismus und Faschismus wurde so schon lange vor dem Weltkrieg ausgefeilt. Kein Theoretiker der Zwischenkriegszeit sollte die Beziehungen zwischen dem einzelnen und der Gemeinschaft, wie sie der Faschismus verkündete, besser definieren, kein faschistischer Autor anders über Krieg, Heroismus und männliche Werte schreiben. Vom im 18. Jahrhundert verankerten Marxismus, der seiner materialistischen und individualistischen Inhalte beraubt worden war, blieb nur die Gewalt und die Auffassung vom Konflikt als Triebkraft der Geschichte, als Quelle des Guten und Sublimen. Der gesamte Sozialismus reduzierte sich auf den erbitterten Kampf gegen die liberale Demokratie. Das Arsenal in diesem Krieg, die Gewerkschaft, mußte alle Vorzüge des heroischen Proletariats beinhalten, das eine neue Zivilisation aufbauen sollte.

    Beschränkte man aber den Sozialismus auf diesen einen Faktor, so war das ganze Gebäude dem sicheren Einsturz geweiht, wenn sich herausstellte, daß das heldenhafte, selbstlose, gewerkschaftlich in Kampfeinheiten organisierte Proletariat, das die bürgerliche Ordnung im Sturm zerschlagen sollte, nur in der Phantasie existierte, in den Wünschen und Hoffnungen der Theoretiker und Intellektuellen. Sehr bald wurde klar – man lese nur Michels -, daß de Gewerkschaft, deren Aufgabe darin bestand, als Instrument zur Befreiung der Arbeiter zu dienen, nichts als eine Organisation wie alle anderen war, geführt und befehligt wie alle anderen, einschließlich der sozialistischen Parteien, von einer Oligarchie. Wie alle anderen Organisationen entwickelte sie eine Bürokratie und verfolgte ihre eigenen Interessen, die nichts mit proletarischem Internationalismus oder der Zukunft der Menschheit zu tun hatten. Das Proletariat, zumindest in den Industrieländern, war eine Masse, und die Masse ist von Natur aus gestaltlos und konservativ. Um sie zu mobilisieren bedarf es eines Mythos und einer pflichtbewußten revolutionären Elite.

    Endlich schlug die Stunde der Wahrheit, als offenkundig wurde, daß der Weg über das Proletariat wie über die Demokratie zu nichts führte. Die große Mehrheit der Arbeiter stand allen Bestrebungen ablehnend gegenüber, die nicht ihre unmittelbaren materiellen Interessen betrafen. Die sozialistischen Parteien und die Gewekschaften akzeptierten die Demokratie und versuchten, soviel wie möglich von ihr zu profitieren. Wer immer seinen revolutionären Träumen weiter nachhing, mußte eine andere Lösung finden. Er mußte das Proletariat, das sich seiner zivilisatorischen Aufgabe entzog, durch eine andere historische Kraft ersetzen.

    — > (4) Die Synthese von Sozialismus und Nationalismus

    Anmerkungen

    Geor-ges Clemen-ceau
    Robert Louzon
    Claude Willard
    André Morizet

    1 E. Berth, „Socialisme ou Etatisme“ in: Le Mouvement Socialiste, Nr. 111, Januar 1903, S. 1-18; ders., „Catholicisme social et socialsme“, ebd., Nr. 130, 15. November 1903.
    18 Vgl. die dort gehaltenen Reden, veröffentlicht unter dem Titel Syndicalisme et Socialisme: discours prononcés au Colloque tenu à Paris le 3 avril 1907, Paris (Marcel Rivière) 1908.
    19 R. Michels, „Le socialisme allemand après Mannheim“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 182, Januar 1907
    20 P. Orano, „Les syndicats et le Parti socialiste italien“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 193, 15. Dezember 1907
    59 Arturo Labriola, „Plus-value et réformisme“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 149, 15. Februar 1905.
    73 E. Berth, „Les Nouveaux aspects du socialisme„, Paris (Rivière) 1908
    86 H. Lagardelle, „La France et la paix“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 159, 15. Juli 1905.
    108 H. Lagardelle, „Démocratie politique et organisation économique“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 94, 31. Mai 1902.
    124 E. Berth, „Socialisme ou Etatisme“, a. a. O.1, S. 12 (Kursiv im Original)
    125 Ebd., S. 12 f.
    126 E. Berth, Les Méfaits des intellectuels, a. a. O.290, S. 258-260.
    127 Ebd., S. 332.
    128 Ebd. S. 59 f., 64 u. 259 f. Vgl. auch E. Berth, „Socialisme ou Etatisme“, a. a. O.1, S. 1.
    129 E. Berth, „Notes bibliographiques“ in: Le Movement socialiste, Nr. 179, Oktober 1906, S. 183. (Kursiv im Original) Über Nietzsche siehe ferner „Les ‚Considerations inactuelles‘ de Nietzsche“, ebd., Nr. 200, 15. Juli 1908, S. 52-63.
    130 E. Berth, Les Nouveaux aspects du socialisme, a. a. O.73, S. 59 f.; „Révolution sociale ou Evolution iuridique?“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 143, 15. November 1904, S. 129; „Revue critique“, ebd., Nr. 142, 1. November 1904; „Notes bibliographiques“, a. a. O.129, S. 180 f.; Les Méfaits des intellectuels, a. a. O.290, S. 126.
    131 Ebd., S. 124. (Kursiv im Original)
    132 E. Berth, Catholicisme social et socialisme, a. a. O.1, S. S. 348, und „Politique et socialisme“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 132, 15. Januar 1904, S. 35.
    133 E. Berth, „Notes bibliographiques“, a. a. O.129, S. 180 f.
    134 Über den Proudhonkult – noch in Verbindung mit Marx – vgl. E. Berth, Les Nouveaux aspects du socialisme, a. a. O.73, S. 42 f.; „Revolution sociale ou évolution juridique“, a. a. O.130, S. 125; „L’Utopie du Professeur Menger“ in: Le Movement socialiste, Nr. 136, 15. Mai 1904, S. 36 f.
    135 H. Lagardelle, „Démocratie et lutte de classes“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 91, 10. Mai 1902, S. 895.
    136 H. Lagardelle, „Socialisme ou démocratie“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 86, 5. April 1902, S. 631.
    137 Vgl. C. Willard, Le Mouvement socialiste en France (1893-1905). Les Guesdistes. Paris (editions Sociales) 1965, S. 525.
    138 H. Lagardelle, „Démocratie et lutte de classes“, a. a. O.135, S. 1009-1012.
    139 Zu den Folgen der Affäre siehe vor allem die Artikel von A. Morizet, „M. Clemenceau ou le dreyfusisme au pouvoir“, in: Le Mouvement socialiste, Nr. 181, Dezember 1906, und R. Louzon, „La faillite du dreyfusisme et le triomphe du parti juif“, ebd., Nr. 176, Juli 1906.

    Ottavio Dinale
    Ernest Bax

    140 H. Lagardelle, „Ministérialisme et socialisme“ in Le Mouvement socialiste, Nr. 88, 19. April 1902, S. 727-729; „Socialisme et programme minimum“, in: Le Mouvement socialiste, Nr. 87, 12. April 1902, S. 781; „Démocratie politique et organisation économique“, a. a. O.108, S. 1010-1012.
    141 H. Lagardelle, „Socialisme et programme minimum“, a. a. O.140, S. 684, und „Socialisme ou démocratie“, a. a. O.136, S. 629 f.
    142 H. Lagardelle, „Action de parti et action de classe“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 149, 18. Juli 1905, S. 284.
    143 H. Lagardelle, „Le socialisme ouvrier“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 142, 1. November 1904, S. 2.
    144 E. Berth, „Notes bibliographiques“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 152, 1. April 1905, S. 494 f.; Les Nouveaux aspects du socialisme, a. a. O.73, S. 15.
    145 E. Berth, „Notes bibliographiques“, a. a. O.129, S. 439 f. Siehe auch Arturo Labriola, „L’Erreur tactique du socialisme“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 157, 15. Juni 1905, S. 229; H. Lagardelle. „Le socialisme ouvrier“, a. a. O.142, S. 2-4.
    146 E. Berth, Les Méfaits des intellectuels, a. a. O.290, S. 238 f.
    147 H. Lagardelle. „Le socialisme ouvrier“, a. a. O.142, S. 2-4 (Kursiv im Original); E. Berth, „Revolution sociale ou évolution juridique“, a. a. O.130, S. 133.
    148 E. Berth, Les Nouveaux aspects du socialisme, a. a. O.73, S. 8, 19-23, u. 31 (Kursiv im Original).
    149 E. Berth, „L’Utopie du Professeur Menger“, a. a. O.134, S. 44.
    150 E. Berth, Les Méfaits des intellectuels, a. a. O.290, S. 211 f.
    151 A. Labriola, „Les Partis socialistes (Italie)“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 132, 15. Januar 1904, S. 148 u. 145, vgl. auch S. 142-149; „Plus-value et reformisme“, a. a. O.59, S. 214; „Le Socialisme en Italie“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 136, 1. Mai 1904, S. 4-5. Siehe ferner E. Leone, „La Gréve générale en Italie et la politique prolétarienne“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 142, 1. November 1904, S. 9-15.
    152 Siehe ihr Manifest, das Leones Divenire sociale veröffentlichte und dessen französische Übersetzung in Le Mouvement socialiste erschien, Nr. 157, 15. Juni 1905, S. 255-264.
    153 A. Labriola, „Syndicalistes et Parti socialiste“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 176, Juli 1906, S. 240.
    154 O. Dinale, „Controverses sur le Syndicalisme italien“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 177-178, August/September 1906, S. 357 u. 363-365.
    155 A. Labriola, „Syndicalistes et Parti socialiste“, a. a. O.153, S. 472
    156 S. Panunzio, „La situation socialiste en Italie“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 177-178, August/September 1906, S. 373.
    157 O. Dinale, „Le Parti socialiste et les massacres de classe en Italie“, ebd., S. 342.
    158 Ebd., S. 343, und A. Labriola, „Syndicalistes et Parti socialiste“, a. a. O.153, S. 243.
    159 P. Orano, „Les Syndicats et le Parti socialiste en Italie, a. a. O.20, S. 472.
    160 R. Michels, „Les dangers du Parti socialiste allemand“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 144, 1. Dezember 1904, S. 201.
    161 R. Michels, „Les dangers du Parti socialiste allemand“, a. a. O.160, S. 199f. Vgl. auch S. 193-199.
    162 R. Michels, „Le socialisme allemand après Mannheim“, a. a. O.19, S. 20.
    163 R. Michels, „Les syndicats ouvriers“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 158, 1. Juli 1905, S. 314f.
    164 R. Michels, „Les dangers du Parti socialiste allemand“, a. a. O.160, S. 195-197.
    165 Von R. Michels siehe in Le Mouvement socialiste: „Le prochain Congrès socialiste international“, Nr. 188, 15. Juli 1907, S. 43-45; „Les socialistes allemands et la Guerre“, Nr. 171, 15. Februar 1906, S. 129136; „Polémiques sur le socialisme allemand“, Nr. 176, Juli 1906, S. 228-237; „Le Patriotisme des socialistes allemands et le Congr´ès d’Essen“, Nr. 194, 15. Januar 1908, S. 5-13.
    166 R. Michels, „Le socialisme allemand et le Congrès d’Iéna“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 166-167, 15. November 1905, S. 305 u. 307.
    167 R. Michels, „La Gréve des métallurgistes de Berlin“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 170, 15. Januar 1906, S. 96-100.
    168 R. Michels, „Le prochain Congrès socialiste international“, a. a. O.165, S. 39. Vgl auch die Rezension Michels‘ von E. Belfort Bax, Essays in Socialism, new and old in: Le Mouvement socialiste, Nr. 191, 15. Oktober 1907, S. 349; R. Michels „Les dangers du Parti socialiste allemand“, a. a. O.160, S. 198 f.
    169 Ebd., S. 200 f.
    170 E. Berth, „Notes bibliographiques“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 174, 15. Mai 1906, S. 180 f. Vgl. auch „Notes bibliographiques“, Nr. 150, 1. März 1905, S. 253 f.
    171 H. Lagardelle, „Le socialisme allemand et les élections“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 183, Februar 1907 1906, S. 169 f.
    172 H. Lagardelle, „Le Syndicalisme et le socialisme en France“ in: Syndicalisme et Socialisme, a. a. O.18, S. 12.
    173 Ebd., S. 13.
    174 H. Lagardelle „Avant-Propos“ in: Syndicalisme et Socialisme, a. a. O.18, S. 3.
    175 H. Lagardelle, „La Confédération du Travail et le Parti socialiste“ (Intervention au Congrès socialiste de Nancy) in: Le Mouvement socialiste, Nr. 189-190, 15. August 1907, S. 111.
    176 R. Michels, „Les Socialistes allemands et la Guerre“, a. a. O., S. 138.
    177 H. Lagardelle, „La Confédération du Travail et le Parti socialiste“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 191, 15. Oktober 1907, S. 285.
    178 R. Michels, „Les dangers du Parti socialiste allemand“, a. a. O.160 , S. 202.
    179 E. Berth, „Les discours de Jaurès“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 144, 1. Dezember 1904. Vgl. Berth, „Revolution sociale ou Évolution juridique?“, a. a. O.130, S. 134 f.; „Revue critique“ in: Le Mouvement socialiste, a. a. O., S. 100 f.; „Politique er Socialisme“ in: Le Mouvement socialiste, 15. Januar 1904, S. 24 f. Vgl. auch H. Lagardelle, „Chronique politique et sociale“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 152, 1. April 1905, S. 499; „Action de parti et Action de classe“, a. a. O.142, S. 282; „Note bibliographique“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 179, Oktober 1906; „Démocratie et Lutte de classe“, a. a. O.135, S. 892 f.
    180 H. Lagardelle, „La France et la Paix“, a. a. O.86, S. 416.
    181 E. Berth, „Revue critique“, a. a. O., S. 104
    182 H. Lagardelle, „Notes bibliographiques“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 179, Oktober 1906, S. 173.
    183 E. Berth, „Notes bibliographiques“, a. a. O., S. 175.
    184 E. Berth, „A propos de la Lutte de classe“ in: Le Mouvement socialiste, Nr. 25, 1. Januar 1900, S. 26. (Kursiv im Original)
    185 Ebd., S. 26 f.
    186 E. Berth, „Révolution sociale ou evolution juridique?“, a. a. O.130, S. 138 f.
    187 Ebd., S. 139. (Kursiv im Original)
    188 E. Berth, „Notes bibliographiques“, a. a. O., S. 179. Diese Notizen sind eine Erwiderung Berths auf den Angriff Bernsteins gegen Sorel in den Sozialistischen Monatsheften vom August 1906. Zur direkten Aktion siehe auch Les Nouveaux aspects du socialisme, a. a. O.73, S. 20 f. u. 33 f.
    189 E. Berth, Les Méfaits des intellectuels, a. a. O.290, S. 207. Vgl. auch „Catholicisme social et socialisme“, a. a. O.1, S. 300.
    190 E. Berth, Les Méfaits des intellectuels, a. a. O.290, S. 201 f., 212 f. Siehe auch S. 271 u. 293 f. (Kursiv im Original)
    191 Ebenda, Vorwort von 1913, S. 12 (Kursiv im Original)
    192 E. Berth, Les Nouveaux aspects du socialisme, a. a. O.73, S. 51f und 58. Siehe auch S. 28 f., 54, 60 und „Révolution sociale ou evolution juridique?“, a. a. O.130, S. 126-128.
    193 E. Berth, Les Méfaits des intellectuels, a. a. O.290, S. 238.
    290 E. Berth, Les Méfaits des intellectuels, Paris 1926 (2. Aufl.)

    Mario
    Sznajder
    Zeev Sternhell

    (Sternhell, Zeev; Sznajder, Maria Asheri : Der revolutionäre Revisionismus in Frankreich (3) In: Ders.: Die Entstehung der faschistischen Ideologie – Von Sorel zu Mussolini, aus dem Französischen von Cornelia Langendorf, Hamburg 1999, S. 142 -153)

  • Facetten des Terrors. Der Geheimdienst der „Deutschen Arbeitsfront“ und die Zerstörung der Arbeiterbewegung 1933 – 1938 (2)

    Karl Heinz Roth
    2000

    < — (1)

    Bis Mitte 1936 spielte das „Amt Information“ eine ziemlich unangefochtene und eigenständige Rolle im Vorfeld der Überwachung der Betriebsbelegschaften und der Eigensicherung des DAF-Apparats. Es wurde zusätzlich dadurch aufgewertet, daß es am Sitz der Reichstreuhänder beziehungsweise Sondertreuhänder der Arbeit die Aufgaben eines Ermittlungsdiensts für die dort etablierte „soziale Ehrengerichtsbarkeit“ übernahm. Wie es dabei agierte, wissen wir nicht, den das diesbezügliche Schriftgut ist genau so wie die übrigen Aktenüberlieferungen der Reichstreuhänder offensichtlich komplett vernichtet. Auf jeden Fall wirkte das Amt Information in vielfältiger Weise als Filter, der der Führung der Deutschen Arbeitsfront ergänzend zur kontinuierlichen Kooperation mit dem SD und der Gestapo ein eigenes Nachrichtennetz zur Verfügung stellte. Dies sicherte ihr die Entscheidungskompetenz darüber, welche Fälle von abweichendem oder widerständigem Verhalten entweder an die Gestapo als der sicherheitspolizeilichen Exekutivinstanz abgegeben oder dem Sicherheitsdienst der SS zur weiteren Beobachtung überlassen beziehungsweise den „Sozialen Ehrengerichten“ der Treuhänder der Arbeit sowie den im Jahr 1935 gegründeten Ehren- und Disziplinarhöfen der DAF46 überantwortet werden sollten. Nach meiner Einschätzung wurde die Gestapo in höchstens fünf Prozent der Fälle eingeschaltet, während die Dienststellen des SD weitaus häufiger informiert wurden.47

    Dieser Zustand änderte sich im Juni/Juli 1936 schlagartig, als eine bis dahin nur DAF-intern ernstgenommene Serie von Kurzstreiks, ausgehend von den Reichsautobahn- und Wehrmachtsbaustellen sowie den Kleinbetrieben des Baustoffgewerbes und den Gütern der Großlandwirtschaft, auf einige metallverabeitende Großunternehmen übergriff.48 Die sich häufenden Arbeitsniederlegungen wurden trotz ihrer kurzen Dauer und bescheidenen Teilnehmerzahlen nun auch in anderen Behörden zur Chefsache erklärt und begannen, selbst die NS-Spitze zu beunruhigen. Sofortige Gegenaktionen wurden für dringlich erachtet. Die bisherigen zeitraubenden Kommunikationswege zwischen der hausgemachten nachrichtendienstlichen Beobachtung des Arbeiterwiderstands und dem geheimpolizeilichen Zugriff gerieten zunehmend auf den Prüfstand. Schließlich forderte das Gestapohauptamt im Oktober 1936 bei Streiks und Arbeitsniederlegungen die Durchsetzung eines kurzen Dienstwegs zwischen den Orts- bzw. Betriebswaltern des DAF und den jeweils zuständigen Dienststellen der Staatspolizei, denn in solchen Fällen habe das Interesse einer „unbedingt notwendigen, schnellen Klärung und Erfassung aller oben genannten Vorkommnisse“ Vorrang.49 Diesem Argument wußte das Zentralbüro der DAF nichts entgegenzusetzen. Einen Monat später wies die Leitung des Amts Information ihre Gau- und Kreis-I-Referenten an, bei Streikmeldungen und anderen Tatbeständen der akuten „Staatsgefährdung“ das bisherige Informationsmonopol aufzugeben und eine direkte Kontaktaufnahme der meldenden unteren DAF-Instanzen mit der nächsten Gestapodienststelle zuzulassen.50

    Den Kadern des Amts Information wurde rasch klar, daß angesichts dieser Streikbewegung, die die Grenzen der bisherigen Überwachungs- und Repressionspraxis aufzeigte, die Tage ihrer Eigenständigkeit zumindest mittelfristig gezählt waren. Im Gegensatz zum „nationalen Aufbruch“ von 1933/4 hatten sie keine polizeilichen Zugriffsmöglichkeiten mehr, die sich ohnehin angesichts der schwer durchschaubaren Binnenstruktur der etwa 200 Kurzstreiks und der innerhalb ihrer verdeckt agierenden Reste der organisierten Arbeiterbewegung höchst problematisch ausgewirkt hätten. Sie mußten das Feld zunehmend der Gestapo überlassen, was eine noch engere Anbindung an den rein nachrichtendienstlich agierenden Sicherheitsdienst der SS zur Folge hatte. Und dessen Zugriff war im Gegensatz zum Jahr 1934 nun nicht mehr zu bremsen. Zwar versuchte die Amtsleitung des DAF-Geheimdiensts seit der Jahreswende 1936/37 eine organisationsinterne Flucht nach vorn, indem sie ihre Überwachungskompetenz in einer Reihe von Geheimberichten über die neuesten arbeits- und sozialpolitischen Krisenfelder der NS-Diktatur unter Beweis zu stellen suchte und die Gauwaltungen zu einer noch entschiedeneren Unterstützung ihrer Aktivitäten aufforderte;51 das Rennen machte dann aber doch das SD-Hauptamt und teilweise auch das Geheime Staatspolizeiamt sowie das Arbeitswissenschaftliche Institut der DAF. Im Verlauf des Jahres 1937 setzte ein langwieriges Tauziehen zwischen dem SD, der Gestapo und dem Arbeitswissenschaftlichen Institut der DAF (AWI) um die von der Abteilung V des Amts Information gesammelten Archive und Bibliotheken der Gewerkschaftsbewegung ein, wobei das AWI in letzter Minute einen völligen Ausverkauf verhindern konnte.52 Darauf folgte die Abgabe der Monats, Jahres- und Sonderberichte der Amtsleitung des DAF-Geheimdiensts an die einschlägigen Referate des SD-Hauptamts und des Gestapohauptamts. Den Abschluß des Ausverkaufs bildete die Aushändigung umfangreicher Fallakten, die das Amt Information in den vergangenen Jahren über die atomisierte Arbeiteropposition und den organisierten Widerstand angelegt hatte.53

    Werlin und Hitler im Jahr 1940
    Bodo Laffe-rentz
    Ferdi-nand Porsche
    Robert Ley

    Der letzte Akt folgte dann im März 1938. Ley selbst kündigte DAF-intern die Auflösung seines Geheimdiensts an.54 Die Überwachungs- und Fahndungsakten des Amts Information wurden vom SD-Hauptamt übernommen, die mittleren und unteren Funktionsebenen sowie V-Leute-Netze in den SD und die Gestapo eingebaut. Nur die Spitzenkader zogen es vor, auch weiterhin ihr Glück bei der DAF zu versuchen. Ley ernannte Karl Grosche, den bisherigen Adjutanten des Amtsleiters Felix Schmidt, zu seinem „Mob. und Abwehrbeauftragten“. In dieser Stellung blieb Grosche trotz heftigen Werbens seitens des SD der DAF treu und etablierte einen kleinen sicherheitspolizeilichen Verbindungsstab.55 Felix Schmidt dagegen zog es zusammen mit einigen anderen Mitarbeitern nach Fallersleben zum dort entstehenden Volkswagenwerk der DAF. Er wurde in die Geschäftsführung berufen, für die Personal- und Sozialpolitik des Unternehmens zuständig sowie „mit der Führung der Geschäfte eines Abwehrbeauftragten der Gestapo im Volkswagenwerk beauftragt“.56 Dabei hatte er aber wenig Glück. Seine Stellung blieb ungeklärt, weil er mit drei Hauptgeschäftsführern (Ferdinand Porsche, Jakob Werlin und Bodo Lafferentz) konfrontiert war, die ihren beherrschenden Einfluß auf das in der Kraftfahrzeugindustrie höchst umstrittene Prestigeprojekt der Deutschen Arbeitsfront nicht mit ihm und den anderen zu Geschäftsführern ernannten DAF-Funktionären zu teilen gedachten. Porsche, Werlin und Lafferentz marginalisierten den neuen Personal- und Abwehrchef innerhalb weniger Monate, wobei sie vor allem seine mangelnde kaufmännische Versiertheit und Routine ausnutzten.57 Durch ihre Intrigen geriet Schmidt schließlich in ein „latentes Dienstverhältnis“, dem er nicht gewachsen war. Er wurde Anfang August 1939 nach Berlin zurückbeordert, wo er sich in den letzten Vorkriegswochen „auf eine beschränkte Tätigkeit zurückziehen“ mußte.58 und danach in der Berliner Verwaltung der Volkswagenwerk GmbH die „Gefolgschaftsleitung“ übernahm.59 Im Dezember 1939 versuchte er dann ein come back als stellvertretender Betriebsführer des Volkswagen-Vorwerks in Braunschweig und betätigte sich ergänzend zu seinen sicherheitspolitischen Aufgaben als Organisator der Lehrlingsausbildung, der Umschulung und Anlernung in- und ausländischer Arbeiter sowie des Werkswohnungsbaus. Aber auch in dieser Position mochten ihn die Hauptgeschäftsführer nicht dulden, weil sie als Exponenten führender Unternehmen der Kraftfahrzeugindustrie die Übernahme des Konzernmanagements durch DAF-Funktionäre hintertrieben. Felix Schmidt meldete sich im November 1940 zur Wehrmacht und machte sich dort in wechselnden Positionen als Technischer Kriegsverwaltungsrat und Nachschubführer nützlich. Wiederum auf eigenen Wunsch wechselte er dann Mitte August 1943 als Technischer Nachschuboffizier zur Waffen-SS über.

    Selbstverständnis und Tätigkeitsschwerpunkte des „Amts Information“ bei der Stabilisierung der NS-Diktatur 1933/34 bis 1935/36

    Reinhold Muchow

    Trotz des seit 1934 anhaltenden Zustroms junger SD-Mitarbeiter war der Nachrichtendienst der DAF durch alte NSBO-Kader geprägt, die sich als elitären Kern der NS-Bewegung innerhalb der „Arbeiterschaft“ verstanden und ihren in der „Kampfzeit“ erworbenen Haß auf alle Strömungen der Arbeiterlinken weder nach der „Machtergreifung“ noch im Ergebnis der bis zum Sommer 1934 abgeschlossenen Ausbootung ihrer Führungsgruppe zu mäßigen gedachten. Die Massenverhaftungen der Monate März bis Juni 1933 gingen vor allem auf der betrieblichen Ebene und in den Arbeiterquartieren auf ihr Konto, wobei sie sich genauso wie der SA-Geheimdienst diverser lokaler polizeilicher Sonderkommandos und Hilfspolizeien bedienten. Als sie im Sommer 1933 bemerkten, daß ihre „marxistisch-bolschewistischen Gegner“ trotz der immer systematischer durchgeführten Razzien noch längst nicht ausgerottet waren, leiteten sie eine zweite Verfolgungskampagne ein. Ende Juni 1933 brachte der stellvertretende NSBO-Leiter Reinhold Muchow ein Sonderrundschreiben heraus, in dem es hieß, die marxistischen „Mörder“ und „Verschwörer gegen den Staat und seine Einrichtungen“ hätten sich inzwischen in „alle dunklen Winkel“ verkrochen, stellten sich tot und bereiteten sich darauf vor, „illegal organisiert“ wieder aufzutreten.60
    Deshalb komme nun alles darauf an, sie von den durch die DAF bereitgestellten Auffangorganisationen der Arbeiter- und Angestelltengewerkschaften fernzuhalten. Eine „Liste der Geächteten“ müsse erstellt und der Bevölkerung durch umfassende Aufklärungstätigkeit klargemacht werden, daß die „Marxisten“ „eigentlich den Strick verdient“ hätten. Darüber hinaus müsse die Nationalsozialistische Betriebszellen-Organisation nunmehr zu einem „Sicherheitsorgan der Deutschen Arbeitsfront“ ausgebaut werden. Dazu sei schnellstmöglich eine „grundlegende Mitgliedersäuberung“ erforderlich.

    Wilhelm Reichart

    Aber die „Liste der Geächteten“ kam nur mühsam zustande,61 und die Mehrheit der NSBO-Kader sah ihre Karrierehoffnungen durch die Übernahme von Leitungsfunktionen innerhalb des rasch ausufernden DAF-Apparats besser verwirklicht. Die Verfolgungspraxis mußte deshalb arbeitsteilig reorganisiert und zugleich professionalisiert werden. Hier lag die Bedeutung der schon eingangs zitierten Initiative von Wilhelm Reichart, der im Oktober 1933 die Grundlinien einer geheimdienstlichen Ausrichtung des „Überwachungsauftrags“ der NSBO ausarbeitete. Die jüngsten Razzien hätten bewiesen, daß „die Ausbeute bei diesen mit dem ganzen amtlichen Apparat geführten Unternehmungen“ immer weniger „den aufgewandten Mitteln“ entspreche, schrieb er.62 Aber auch die NSBO-Obleute tappten zunehmend im Dunkeln, denn der Arbeiterwiderstand operiere inzwischen „unter der Decke“, und deshalb kämen sie nicht mehr an ihn heran. Diesem „Übelstand§ sei nur noch beizukommen, wenn innerhalb der NSBO eine besondere „Abteilung“ gebildet werde, „die nichts anderes zu tun hat, als die unterirdischen Arbeiten des Bolschewismus und Marxismus genauestens zu verfolgen, in sie hineinzudringen und dann den amtlichen Gewalten die Unterlagen zum gründlichen Eingriff zu liefern“.63 .

    Wie diese „Aktions-Truppe gegen die Wiederaufbau-Versuche marxistischer Gruppen“64 schließlich organisiert war, wurde einleitend schon skizziert. Abgesehen davon, daß Reichart in seinem Memorandum die Frage ihres Einbaus im die Deutsche Arbeitsfront unerörtert ließ, entsprach ihr Aufbau weitgehend seinen Vorschlägen. Aus den erhaltenen Akten einiger „Gau-Abwehr-Referenten“ kann rekonstruiert werden, daß sich die neu ausgelegten verdeckten Fahndungsnetze auf den sich nur mühsam in der Illegalität zurechtfindenden Arbeiterwiderstand verheerend auswirkten. Einzelne verdächtige Aktivisten der KPD und ihres Umfelds, insbesondere der Revolutionären Gewerkschafts-Opposition (RGO) und des Roten Frontkämpferbundes (RFB), wurden – oft unter Zuhilfenahme von SA- oder Polizeidienststellen – rund um die Uhr beschattet, bis ihre Kontaktnetze erkannt waren und alle Beteiligten mit einem Schlag ausgehoben werden konnten.65 Mehrere Bezirks- und Unterbezirksleitungen der KPD wurden durch V-Leute der DAF-Abwehr lokalisiert, unterwandert und schließlich unter Zuhilfenahme von Schutzpolizei– oder Gestapokräften verhaftet. Die Erfolge dieses Vorgehens übertrafen bald alle Erwartungen. Nachdem beispielsweise dem Düsseldorfer Abwehr-Referenten Kopien kommunistischer Organisationspläne in die Hände gefallen waren, die die Kurierwege der KPD-Zentralen in Paris und Amsterdam mit der Bezirksleitung des Rheinlands offenlegten, waren er und die Gestapo Anfang Mai 1934 „auf dem besten Wege, die gesamte Bezirksleitung der KPD hoch zu nehmen“.66 Der Abwehr-Referent des Gaus Köln-Aachen hatte Anfang 1934 „einen vertrauenswürdigen Spitzel“ in die Abwehrgruppe der KPD-Bezirksleitung Mittelrhein eingeschleust. Am 2. März erfuhr er von ihm, daß am Vormittag in Köln und Mühlheim kommunistisches „Zersetzungsmaterial“ verteilt werden sollte. Er mobilisierte kurzerhand ein Bereitschaftskommando der Kölner Staatsschutzpolizei und startete eine Verhaftungsaktion, die jedoch wegen einer technischen Panne beim Staatsschutz nur ein Teilerfolg war.67 Ein knappes Jahr später berichtete der Chemnitzer I-Referent, durch seine enge Kooperation mit der Staatsschutzabteilung des Polizeipräsidiums sei es gelungen, „in der Woche vor Weihnachten 1934 die gesamte Unterbezirksabteilung“ des Roten Frontkämpferbunds und des Kommunistischen Jugendverbands „festzustellen und in Gewahrsam zu nehmen. Auf den ersten Anhieb haben wir 29 kommunistische Führer und Unterführer festnehmen und dabei wertvolles und neuestes Material sicherstellen können.“68

    Bruno Streckenbach

    Derartigen Infiltrations- und Überwachungstechniken durch den DAF-Geheimdienst fielen auch klandestine Betriebsgruppen,69 offen rebellierende Straßenbaukolonnen,70 als Grenzkuriere verdächtige Ehepaare,71 politisch heimatlos gewordene Einzelaktivisten, verdächtige proletarische Diskussionsrunden und die ersten „Nichtarier“ zum Opfer.72
    Dabei war es in vielen Fällen bis Herbst 1934 üblich, die Verhaftungen auf eigene Faust vorzunehmen und die Sistierten bei den jeweils nächsten Polizei- und Justizdienststellen abzuliefern.73 Manchmal nahmen die Häscher des DAF-Geheimdiensts aber auch die Gestapobeamten auf ihre Streifzüge mit. Nachdem der Abwehr-Referent der DAF-Gauwaltung Süd-Hannover-Braunschweig beispielsweise erfahren hatte, daß die reorganisierte KPD-Gruppe von Hamburg-Elmsbüttel geschlossen an der Beerdigung des einige Tage zuvor hingerichteten Hamburger Kommunisten Hermann Fischer teilnehmen würde, lieh er sich vom Hamburger Stapochef Bruno Streckenbach drei Beamte aus, observierte zusammen mit ihnen die Beerdigungszeremonie und nahm schließlich einen RFB-Funktionär fest, „um die Organisation dieser Beerdigung herauszubekommen“.74 Die NSBO-Kader hatten zwar ihre Methoden an die in den Untergrund getriebene Arbeiterlinke angepaßt, aber sie agierten weiterhin als fanatische Akteure eines gnadenlos geführten Kriegs im Dunkeln, dessen Ursprünge bis in die Weltwirtschaftskrise zurückreichten. Der Hannoveraner DAF-Geheimdienstler beispielsweise war schon vom Juni 1931 bis Juli 1933 „im Auftrag der NSDAP in der Elmsbütteler Gruppe des Rotfrontkämpferbunds zunächst als „Mitglied“ und später „Sturmführer“ tätig gewesen,75 und die meisten Teilnehmer der Beerdigung waren ihm deshalb bestens bekannt.

    Bis Herbst 1934 war die illegale Widerstandsbewegung der Arbeiterlinken marginalisiert. Es kam zu einer deutlichen Dissoziation zwischen ihren Aktivitäten, die sich zunehmend auf ihre historisch gewachsenen Milieus beschränken mußten, um dem Alltag des Millionenheers der Arbeiterinnen und Arbeiter, der durch eine merkwürdige Mischung von Desillusionierung, individualisiertem Aufbegehren, informellen Vermeidungsreaktionen und kollektiven Anpassungsleistungen geprägt war.76 Die „Stimmung“ innerhalb der Arbeiterklasse wurde trotz des sich abzeichnenden Rückgangs der Massenerwerbslosigkeit zunehmend unübersichtlich. Der Nachrichtendienst der DAF paßte sich diesem Phänomen insoweit an, als er seine Überwachungs- und Interventionsfelder zunehmend ausdifferenzierte und seine internen Erfassungskataster auch auf jenes Funktionärsspektrum der Arbeiterbewegung auszudehnen begann, das seit der „Machtergreifung“ an den illegalen Reorganisationsversuchen nicht teilgenommen hatte. Bislang hatte eine mehr oder weniger homogene Lageberichterstattung über die illegalen Widerstandsregungen aus den Gaubezirken dominiert. Sie wurde nun aufgegeben und durch die Konstruktion von Teilszenarien ersetzt, die erst in der synoptischen Wahrnehmung durch die Leitung des Amts Information wieder so etwas wie ein Gesamtbild der arbeits- und sozialpolitischen Entwicklungslinien und der in sie verwobenen aktiven wie passiv gewordenen Reste der Arbeiterbewegung ergaben. Insofern war es nur konsequent, daß sich die DAF-Führung beim neuerlichen Umbau ihres Nachrichtenapparats Mitte 1934 personell und konzeptionell an den Sicherheitsdienst der SS und der Gestapo anlehnte, die zu dieser Zeit ihrerseits zur Beobachtung differenzierter „Lebensgebiete“ übergingen. Parallel dazu nahm der DAF-Geheimdienst im Frühjahr 1935 an einer reichsweit organisierten Fahndungs- und Verhaftungsaktion teil, der vom März bis Juni 1935 etwa 5.000 Mitglieder und Sympathisanten des Arbeiterwiderstands zum Opfer fielen.77 Im Ergebnis dieses vernichtenden dritten Schlags konnte das Amt Information dann im Verbund mit den übrigen Institutionen des Terrors zu einer mehr und mehr vorbeugend ausgerichteten Verfolgungspraxis übergehen.

    Zusätzlich hatte der DAF-Geheimdienst jetzt für die Absicherung der Eigenbelange jener Mammutorganisation der NS-Bewegung zu sorgen, in die er hintergründig eingebaut war. Dabei entwickelte er sich rasch zu einem Mädchen für alles das, was den Funktionseliten der DAF Probleme bereitete. Er sorgte dafür, daß hartnäckige Verweigerer der Beitragszahlungen und andere „Stänkerer“, die an den Aktivitäten der DAF kein gutes Haar lassen wollten, aus dem Verkehr gezogen wurden.78 Amtswalter aller Ebenen, die 1933 allzu eil- und bußfertig aus der SPD, dem ADGB oder den christlichen Gewerkschaften konvertiert waren, wurden durchleuchtet, sobald sie auch nur minimal aus der Routine herausfielen oder durch irgendeinen dummen Zufall in Verdacht gerieten.79 Als ihre Zahl immer mehr zunahm und auch in den Berliner Zentralverwaltungen der DAF einige spektakuläre Einzelfälle auftraten, ging das Amt Information 1936 in enger Kooperation mit dem SD-Hauptamt zur systematischen Erfassung aller früheren freigewerkschaftlichen „Staatsfeinde“ über, erstellte komplette Listen der früheren Gewerkschaftssekretariate und -vorstände und ließ sie mit den Personallisten des Amtswalterkorps der DAF sowie den Personenkartotheken des SD abgleichen.80 Hinzu kamen die Befriedigung spezieller Sicherheitsinteressen einzelner Amtsleiter, die sich wie beispielsweise der Leiter der Reichsbetriebsgemeinschaft Chemie vor dem Wiederaufleben informeller Gewerkschaftsstrukturen seitens des aufgelösten Fabrikarbeiterverbands fürchteten,81 die nachrichtendienstliche Bearbeitung solcher Unterschlagungsfälle durch DAF-Walter, die dem Widerstand zu Ohren gekommen und in der Exilpresse bzw. den Auslandssendern angeprangert worden waren,82 und die sich manchmal über Monate hinziehende Beschattung von verdächtigen Wandergruppen der „NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude„.83

    Neben den früheren Mitgliedern mußte aber auch das Vermögen der aufgelösten Gewerkschaften verdaut werden, dessen sich die DAF-Spitze im Mai/Juni 1933 unter teilweise abenteuerlichen Rechtsverdrehungen bemächtigt hatte.84 Da die dabei erfundenen juristischen Konstruktionen mit der Stabilisierung der NS-Diktatur immer mehr ins Gerede kamen, war das Amt Information auch in dieser Hinsicht zunehmend gefragt. So wurde beispielsweise 1936/37 nach einem langwierigen Tauziehen hinter den Kulissen die Abgeltung jener Entschädigungsansprüche unvermeidlich, die die Lobbyisten mehrerer aufgelöster Gewerkschaftsverbände eingeklagt hatten.85 Das Amt Information wurde entsprechend beauftragt, anhand der bei seiner „Forschungsstelle für politische Gewerkschaftsfragen“ angesammelten Restüberlieferungen des Schriftguts der Gewerkschaften alle Unterlagen für die Vermögensverwaltung der DAF zusammenzustellen, die für die Verrechnung der Unterstützungsansprüche alter Gewerkschaftsmitglieder und -funktionäre von Bedeutung waren.86 Da man dabei nur die Ansprüche der von der DAF widerwillig hofierten früheren Funktionärsschicht der freien und insbesondere der christlichen Gewerkschaften zu berücksichtigen gedachte, wurde das Amt Information zusätzlich beauftragt, die Personallisten bis hinunter auf die lokalen Ebenen zu überprüfen und alle politisch Verfolgten, KZ-Insassen und Emigranten von den Zahlungen auszuschließen.87

    Edgar André vor Gericht, 30. Juni 1936

    Mit diesen und anderen Aktivitäten zugunsten der Belange des Schatzamtes der DAF gingen seit 1935 Bestrebungen einher, das bis dahin bei den verschiedenen DAF-Ämtern, Reichsbetriebsgemeinschaften und Gauwaltungen noch erhaltene Schriftgut der Gewerkschaften in der ehemaligen Berliner Zentrale des ADGB zu sammeln und den nachrichtendienstlich-propagandistischen Interessen der DAF dienstbar zu machen.88 Dazu zählten neben der in Arbeitsteilung mit dem SD- und dem Gestapo-Hauptamt betriebenen Aufdeckung bislang unerkannt gebliebener „Staatsfeinde“ gezielte Delegitimierungsaktionen von erheblicher Brisanz. Die verbandsweise rekonstruierten Bestände wurden entsprechend nach Sachgebieten geordnet, wobei die internationalen Beziehungen der Gewerkschaften als besonderes Diskreditierungsanliegen ganz oben standen, gefolgt von den „eigenstaatlichen Bindungen“, den „Querverbindungen zwischen den einzelnen Gewerkschaften“, „Gewerkschaftsinternen Vorkommnissen“, „Unterschlagungen und Veruntreuungen“, „Legalen und Illegalen Streiks“ und „Angriffen gegen die NSDAP und NSBO“ als letztem Traktandenpunkt.89 Mit diesem Katalog waren die in der „Forschungsstelle für politische Gewerkschaftsfragen“ tätigen Mitarbeiter des DAF-Geheimdiensts, darunter auch ehemalige Gewerkschaftsveteranen, die schon vor der Weltwirtschaftskrise ihren Weg zur NSBO gefunden hatten und über keinerlei archivarische oder historische Ausbildung verfügten, freilich heillos überfordert. Ihre Arbeitsergebnisse ermangelten durchgängig der analytischen Substanz. Trotzdem erschienen sie dort, wo es um die reine Faktensicherung ging, durchaus verwertbar. In den Auswertungsberichten über die von den verschiedenen Gauleitungen und DAF-Ämtern übernommenen Archivalien wurde beispielsweise alles, was für eine chronique scandaleuse der Gewerkschaftsgeschichte zu taugen schien, festgehalten.90 Erhebliche Mühe wurde auch darauf verwandt, die Korruptions- und Unterschlagungsfälle der Weimarer Gewerkschaftsverbände und der Arbeiterlinken so lückenlos wie möglich aufzulisten. Trotzdem kam keine Gesamtsumme zustande, die vier Jahre nach der „Machtübernahme“ noch Aufsehen hätte erregen können. Man behalf sich dann damit, daß man dem gegen massive internationale Proteste hingerichteten Hamburger RFB-Führer Etkar André die Unterschlagung von RM 100.000,- zu Lasten der Hamburger KPD-Bezirksleitung anhängte und auf diese Weise die Gesamtsumme der unterschlagenen Beträge auf 739.710,21 RM hochtrieb.91

    Ein für seine Mitarbeiter besonders aufreibendes Kapitel stellten die Versuche des DAF-Geheimdiensts dar, seinen Reichsleiter vor der seit 1934 geradezu endemisch gewordenen Verächtlichmachung und Verhöhnung durch die Arbeiter zu schützen. Robert Ley war bei ihnen außerordentlich unbeliebt. Vor allem sein aufwendiger und luxuriöser Lebensstil diente selbst für Anhänger der NS-Bewegung als Stein des Anstoßes für üble Nachreden und Gerüchte aller Art, und die V-Leute und Agentenführer des Amts Information bemühten sich in einer wahren Sisyphos-Anstrengung, ihren Urhebern auf die Schliche zu kommen und ihnen das Handwerk zu legen. Als Ley beispielsweise eine Kundgebung im Gau Kurmark absagte, verbreiteten sich dort Anfang August 1934 das Gerücht, er habe sich mit sechs bzw. zwölf Millionen RM ins Ausland abgesetzt; es gelang zwar die Rekonstruktion der Entstehung und Entwicklung dieses Gerüchts in allen seinen Varianten und Ausschmückungen, nicht aber die Aufdeckung der Hintermänner.92 Zwei Jahre später erreichte die Kunde, daß Ley sich in der Nähe von Waldbröl ein Landgut zugelegt hatte, in phonetischer Entstellung Oberschlesien, gerade rechtzeitig, um einen Arbeiter kurz vor einem bevorstehenden Besuch des Reichsleiters zu einer Art Offenem Brief am Schwarzen Brett eines Kohlebergwerks zu veranlassen:

    „Von wem hat das versoffene Schwein das viele Geld. 1928 ist er wegen Suff aus der Farben-I.G. entlassen worden.“93

    Aus Köln drohte ein ebenfalls unentdeckt gebliebener ehemaliger Gewerkschaftsangestellter Ley dagegen in einem anonymen Drohbrief bittere Rache an:

    „Wehe Euch Arbeiterverräter, wenn der nächste Krieg kommt, dann könnt ihr es ausfressen, wir machen nicht mehr mit.“94

    Schlechter ging es einem Kaiserslauterner Arbeiter, der einen Kollegen mit Verweis auf Ley als herausragendes Exemplar der insgesamt verlumpten NS-Führerschaft agitiert hatte („Wenn man Dr. Ley auf einem Bild sähe, hätte er immer ein Mensch im Arm“),95 und deshalb von der Abteilung Information des DAF-Gauwaltung Saarpfalz bei der Gestapo angezeigt wurde. Während sein weiteres Schicksal im Dunkeln liegt, wissen wir über einen anderen Arbeiter, der Ley auf einem Bild mit dem „Vorstand von Straßenkehrern“ verwechselt hatte, daß er mit einem blauen Auge davonkam, weil das zuständige Sondergericht in Dresden seine Erklärung, den Reichsleiter zunächst nicht richtig erkannt zu haben, für unwiderlegbar erachtete.96 Besonders frustriert waren die geheimen Ermittler der DAF schließlich über die Umdeutung einer Äußerung, die Ley am 31. Januar 1938 anläßlich eines Betriebsappells in Berlin-Siemensstadt gemacht hatte:

    „Wenn ich nicht ständig beim Führer wäre, dann wäre ich heute ein Meckerer und Kommunist.“97

    Dieser populistische Anbiederungsversuch wurde ihm mit der Gegenbemerkung vergolten, Ley sei nur deshalb Nazi, weil er ständig bei Hitler verkehre, und deshalb brauche man als normaler Sterblicher erst gar nicht zu versuchen, selber Nazi zu werden. Diese simpel gestrickte Schlußfolgerung hielt sich zum Leidwesen der nachrichtendienstlichen Experten der DAF monatelang und wurde weit über Berlin hinaus bekannt.

    Mit besonderer Energie kämpfte das Amt Information jedoch gegen das „Trojanische Pferd“, die Unterwanderung des Amtswalterkorps der Deutschen Arbeitsfront, durch Teile der Arbeiterlinken, die im Oktober 1935 auf der sogenannten Brüsseler Konferenz der KPD zu einer strategischen Leitlinie erhoben worden war. Dabei bewegten sich seine Mitarbeiter jedoch in einem unlösbaren Dilemma, denn einerseits betrieben sie ja selbst mit den ihnen genehmen Methoden die Durchsetzung einer de facto-Zwangsmitgliedschaft für alle Lohnabhängigen in der DAF, und andererseits mußten sie versuchen, den dadurch dem Widerstand ohnehin aufgezwungenen „Entrismus“ gegenüber der größten Massenorganisation der Nazidiktatur unter Kontrolle zu halten. Dieser Widerspruch machte sie unfähig, ihrerseits zu erkennen, daß die meisten Basisaktivisten des kommunistischen Widerstands die mit der Parole „Hinein in die DAF“ unweigerlich verbundene Unterwerfung unter die faschistischen Rituale und Inszenierungen genauso ablehnten wie das mit jeglicher Funktionsübernahme verbundene Zeitregime und das Risiko, von den Arbeitskollegen als „Verräter“ eingeschätzt zu werden, und folglich alles zurückwiesen, was über die tatsächlich unvermeidliche Zwangsmitgliedschaft hinausreichte.98 In dieser Hinsicht saß der DAF-Geheimdienst deshalb weitgehend Potemkinschen Dörfern auf. Mit Akribie wurde seit Ende 1935 die erbeutete Widerstandsliteratur nach Handlungsanleitungen darüber abgeklopft, auf welche Weise die Deutsche Arbeitsfront als Transmissionsriemen zur Wiederherstellung der freien Gewerkschaften und zur Etablierung einer breiteren Volksfront genutzt werden sollte.99

    Entsprechende schriftliche Instruktionen wurden auch durchaus gefunden, sichergestellt und ausgewertet. Es konnten jedoch keine illegalen Kadergruppen lokalisiert werden, die planvoll in den Apparat der DAF eindrangen, um örtliche oder betriebliche Schlüsselpositionen zu besetzen, und auch der Ansturm des linksproletarischen Milieus auf die betrieblichen und lokalen Basisstrukturen der DAF-Bürokratie ließ auf sich warten. Über viel mehr als vollmundige Absichtserklärungen des kommunistischen Exils wußte das Amt Information in seinen Analysen „über marxistische Zersetzungsarbeit innerhalb der DAF“ folglich nicht zu berichten,100 und es blieb ihm nichts anderes übrig, als bei der Diskussion der zweifelhaften Ermittlungsergebnisse den „alten Haß“ auf den sich nun hinterhältig einschleichenden Gegner zu beschwören und alle Regungen von „Großmut, besonders unterlegenen Gegnern gegenüber“, einmal mehr zurückzuweisen.101 Auch auf den 1936/37 immer länger werdenden Verhaftungslisten von DAF-Angehörigen dominierten die Zwangsmitglieder,102 die Zahl der Amtswalter der untersten Stufe (Zellenobmänner und Blockwalter) kam über ein paar Dutzend nicht hinaus.

    –> (3)

    Anmerkungen

    Ludwig Eiber
    Walter Schellen-berg
    Werner Best
    Hans Mommsen
    Manfred Grieger

    46 Zur Gründung und Entwicklung der Ehren- und Disziplinarhöfe der DAF vgl. Amtliches Nachrichtenblatt der DAF, Jg. 1935 und 1936.
    47 Diese Schätzung stimmt mit dem Ergebnis der Untersuchungen überein, die Ludwig Eiber in seiner unveröffentlichten Dokumentation über den Arbeiterwiderstand in Hamburg zusammengefaßt hat. Vgl. Ludwig Eiber, Der Arbeiterwiderstand in Hamburg 1933-1939. Ein Dokumentenwerk (Einleitung), in: Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. Sammlung Eiber, Nr. 1.
    48 Vgl. dazu die wichtigsten Aktenüberlieferungen : BArchB, R 58/3, 463, 3.464.
    49 Schreiben der Gestapa, gez. Werner Best an das Amt Information der DAF vom 19. 10. 1936, BArchB, R 58/3.362, fol. 142.
    50 Amt Information an alle I-Referenten, Betr. Zusammenarbeit der örtlichen DAF-Dienststellen mit der Geheimen Staatspolizei in Eilfällen, 21. 11. 1936, BArchB, R 58/605, fol. 38. Abgedruckt als Dok. Nr. 8 in dieser Edition50a.
    50a Rundschreiben des Amts Information an alle I-Referenten, Betr. Zusammenarbeit der örtlichen DAF-Dienststellen mit der Geheimen Staatspolizei in Eilfällen, 21. 11. 1936.
    „[…]
    Aufgrund der oben näher bezeichneten Anordnungen sind die I-Referenten als alleinige Verbindungsstelle der DAF zu der Geheimen Staatspolizei eingesetzt worden. Bei der Bearbeitung von Streiks, Arbeitsniederlegungen und anderen Eilfällen von staatspolizeilichem Interesse i privatwirtschaftlichen Betrieben hat es sich herausgestellt, daß die Staatspolizeistellen häufig erst auf Umwegen von derartigen staatsfeindlichen Handlungen Kenntnis erhalten.
    Im Interesse der unbedingt notwendigen, schnellen Klärung und Erfassung aller obengenannten Vorkommnisse und um den Stapo-Stellen die Möglichkeit zum erforderlichen schlagartigen Einschreiten in Eilfällen zu geben, werden die oben näher bezeichneten Anordnungen des Amtes Information wie folgt erweitert und ergänzt: Die Orts- und Kreisobmänner der DAF sind nach Rücksprache mit dem Gauobmann sofort anzuweisen, daß alle vorgenannten staatsfeindlichen Vorkommnisse in Zukunft als Eilfälle zu behandeln und unmittelbar der nächsten Stapo-Stelle bzw. Polizeibehörde unter gleichzeitiger Benachrichtigung der I-Dienststelle zu melden sind.
    Die I-Referenten werden ersucht, die Kreisobmänner und, wenn möglich auch die Ortsobmänner durch persönliche Rücksprache von der Wichtigkeit und Notwendigkeit der sachgemäßen Behandlung aller Eilfälle zu unterrichten.
    Auf Grund der von den örtlichen DAF-Dienststellen eingehenden Vollzugsmeldungen ist die Zusammenarbeit der I-Referenten mit den Stapo-Stellen sofort aufzunehmen und das Ergebnis der staatspolizeilichen Feststellungen dem Amt Information zu melden unter gleichzeitiger Verständigung des zuständigen SD-Ober- bzw. -Abschnittes.
    Die I-Referenten sind dem Amt Information für die reibungslose Durchführung dieser erweiterten Anordnung und für eine enge Zusammenarbeit mit der Staatspolizei verantwortlich.
    Heil Hitler
    Gez. Unterschrift.“
    51 Vgl. vor allem BArchB, NS 5 IV, Nr. 94.
    52 Ausführlich dokumentiert in: BArchB, R 58/447; NS 5 IV, Nr. 88.
    53 Die Übergabelisten mit ihren aufschlußreichen Betreff-Beschreibungen blieben teilweise erhalten, vgl. BArchB R 58/447, fol. 176 ff.
    54 Dank an das Amt Information. Anordnung 15/38, gez. Reichsleiter Dr. Ley in: Amtliches Nachrichtenblatt der DAF, 4. Jg., Folge 3 v. 28. 3. 1938, S. 38.
    55 Vgl. die Vorgänge in: BArchB, R 58/828.
    56 Aktennotiz Betr. SS-Standartenführer Felix Schmidt, o. D., o. V., Abschrift, BArchB. ehemaliges BDC, SSO Felix Schmidt.
    57 Ebenda.
    58 Vermerk der Stabskanzlei des SD-Hauptamts, gez. Schellenberg über eine Besprechung mit Grosche am 9.8.1939, ebenda fol. 16f.
    59 Vgl. Hans Mommsen / Manfred Grieger, Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996, S. 214 f.
    60 DAF, Organisationsamt/Oberste Leitung der PO60a, NSBO, Sonderrundschreiben bezüglich Sicherung der Verbände der Deutschen Arbeitsfront gegen versteckte marxistische Sabotage, Berlin 27. 6. 1933, BArchB, NS 26/283. Die folgenden Zitate ebenda. Abgedruckt als Dokument Nr.1 in dieser Edition [vorl. Buch – d. Publ.].
    60a PO: Partei-Organisation.

    Schmitz-Voigt Paul
    Erich Klapper
    Jür-gen Reu-lecke
    Detlev Peukert
    Bernd Stöver
    Berthold Karwahne

    61 Muchow beschwerte sich Ende Juli 1933 darüber, daß die Meldungen zur „Liste der Geächteten“ nur schleppend einliefen. Vgl. DAF, Organisationsamt, gez. Muchow, Anweisung Nr. 7/33 vom 25. 7. 33 Punkt 3: „Liste der Geächteten“. Ebenda.
    62 Schreiben Reicharts an Klapper vom 7. 10. 1933, BArch, NS 5 IV, Nr. 16, fol. 61. Abgedruckt als Dokument Nr. 2 in dieser Edition [vorl. Buch – d. Publ.].
    63 Ebenda, fol. 62.
    64 Schreiben Reicharts an Klapper vom 9. 10. 1933, BArchB, Nr. 5 IV, Nr. 16, fol. 63-58.
    65 Vgl. die Beispiele aus den west- und mitteldeutschen Industriegebieten in: BArchB, Nr. 5 IV, Nr. 14-23.
    66 Meldungen des Abwehr-Referenten 4 (Düsseldorf) an SA-Sturmbannführer Behringer vom 8. 5. 1934, BArchB Nr 5 IV, Nr. 24, fol. 44. In der Meldung heißt es weiter: „Das können wir uns keineswegs aus der Nase gehen lassen. Engste und beste Zusammenarbeit in dieser Beziehung mit der Stapo einem vortrefflichen Kommissar Voigt ist gegeben.“
    67 Bericht des A-Referenten 13 (Gau Köln-Aachen) an Behringer v. 2. 3. 1934. Ebenda, Nr. 44, fol. 30 f. Der Abwehr-Referent monierte, daß der Staatsschutz den Bereitschaftswagen nicht ständig zur Verfügung hatte, sondern erst anfordern mußte, so daß 45 Minuten bis zur Festnahmeaktion verstrichen. Vgl. die Wiedergabe als Dokument Nr. 18 in dieser Edition [vorl. Buch – d. Publ.].
    68 Bericht des Gau-I-Referenten Chemnitz an den Leiter des Amts Information. Betr. Kommunistische Arbeit im Kreis Chemnitz, 4. 1. 1935. Ebenda, Nr. 44.
    69 Vgl. die Vorgänge in: BArchB, NS 5 IV, Nr. 18.
    70 Vgl. BArchB, NS 5 IV, Nr. 17, fol 39 f.
    71 Vgl. die Vorgänge in: BArchB, NS 5 IV, Nr. 20.
    72 Vorgänge in: BArchB, Nr. 5 IV, NS 18, 22.
    73 Vgl zahlreiche Vorgänge in: BArchB, NS 5 IV, Nr. 15-22.
    74 Bericht des A-Referenten 42 (Gau Süd-Hannover-Braunschweig), Betr. KPD, 4. 6.1934, BArchB, NS 5 IV, Nr. 22. fol. 15 f. Abgedruckt als Dokument Nr. 20 in dieser Edition.
    75 Ebenda.
    76 Vgl. dazu Timothy W. Mason Arbeiteropposition im nationalsozialistischen Deutschland. in: Detlev K. Peukert / Jürgen Reulecke (Hg.), Die Reihen fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus. Wuppertal 1981, S. 293-313; ders. Arbeiter ohne Gewerkschaften. Massenwiderstand im NS-Deutschland und im faschistischen Italien, in: Journal für Geschichte, 5/83 (6.11.1983), S. 28-36.
    77 Über die neue Qualität dieser dritten koordinierten Fahndungs- und Verhaftungswelle gegen die Reste der illegalen Widerstandsbewegung hat vor allem die Gruppe „Neu Beginnen“ ausführlich berichtet. Vgl. Bernd Stöver, Berichte über die Lage in Deutschland. Die Lagemeldungen der Gruppe Neu Beginnen aus dem Dritten Reich 1933-1936, Bonn 1996, S. 520 ff. (Dokument Nr. 14, Bericht Nr. 15 vom Juni 1935).
    78 Vgl. beispielsweise die Dokumentation des Vorgehens der Abteilung Information der DAF-Gauwaltung Ostpreußen gegen den kriegsinvaliden Arbeiter Ernst Keller, in: BArchB, NS 5 IV, Nr. 71, fol. 2 ff.
    79 Vgl. repräsentativ für die Dokumentation vieler Einzelfälle ebenda, Nr. 30 (Bruno Auerswald); Nr. 31 (Robert Gorisch); Nr. 69 (Otto Hübner); Nr. 92 (Jacob Rieper).
    80 Umfangreich dokumentiert in: BArchB, NS 5 IV, Nr. 96; R58/3379.
    81 1936 ließ der Amtsleiter des RBG81a Chemie, Karwahne, die ehemaligen leitenden Funktionäre des Fabrikarbeiterverbands durch das Amt Information bespitzeln, weil er befürchtete, daß sie den Verband insgeheim weiterführten. Vgl. BArchB, NS 5 IV, Nr. 57.
    81a RBG: Reichbetriebsgruppen, Reichsbetriebsgemeinschaften.
    82 Vgl. beispielsweise den Unterschlagungsfall Otto Martin von der DAF-Kreisverwaltung in Lörrach, in: BArchB, NS 5 IV, Nr. 93.
    83 Vgl. beispielsweise die detailliert dokumentierte Observation einer KdF-Wandergruppe aus Rostock: BArchB, NS 5 IV, Nr. 39. Vgl. dazu auch das Dokument Nr. 31 dieser Edition.
    84 Vgl. Beate Dapper/Hans-Peter Rouette, Zum Ermittlungsverfahren gegen Leipart und Genossen wegen Untreue am 9. Mai 1933, in: IWK 20 (1984), H. 4, S. 509-533. Dieses Verfahren mußte zur Rechtfertigung der Plünderung der Vermögenswerte der Arbeiterbewegung herhalten, weil es dem NSBO/DAF-Komplex nicht gelang, die Enteignung der Arbeiterbewegung reichsgesetzlich zu verankern. Der entsprechende Entwurf eines Gesetzes über die Einziehung des Vermögens der ehemaligen freien Gewerkschaften befindet sich zusammen mit einer Begründung und dem Entwurf einer Durchführungsverordnung in: BArchB, NS 26/283.
    85 Vgl. Heinz Boberach, Die Regelung der Ansprüche von Gewerkschaftlern auf beschlagnahmtes Vermögen durch die Reichsfeststellungsbehörde 1938 bis 1944, ebenda 25 (1989), H. 2, S. 188-194.
    86 Umfangreich dokumentiert in: BArchB, R 58, Nr. 3.376 und 3.379.
    87 Vgl. beispielsweise Amt Information, gez. Sommer, Rundschreiben an alle I-Referenten, Betr. Überprüfung der politischen Zuverlässigkeit der Mitglieder der Unfall- und Unterstützungskasse des ehemaligen Verbandes der Fabrikarbeiter Deutschlands und der Einzelmitglieder der ehemal. Unterstützungsvereinigung der in der Arbeiterbewegung tätigen Angestellten, v. 16. 10. 1937, BArchB, R 58/3.379.
    88 Vgl. dazu vor allem BArchB, R 58 IV, Nr. 88.
    89 Amt Information, Abteilung V, Aktennotiz Betr. Anweisung zur Bearbeitung der Akten, 23. 9. 1936. BArchB, R 58/2.476 d.
    90 Sie sind teilweise überliefert in: BArchB, R 582.476 d; vgl. auch Heinz Braun, Zum Schicksal der Archive und Bibliotheken der deutschen Gewerkschaften nach 1933 (wie Anm. 8 [in Teil (1) – d. Publ.] )
    91 Amt Information, Abteilung V, Zusammenstellung der bisher vom Amt Information festgestellten Unterschlagungen, Beilage zu einem Schreiben der Abt. V. an das Arbeitswissenschaftliche Institut der DAF vom 8. 3. 1937, 87 Bl. BArchB, NS 5 IV, Nr. 87. Abgedruckt als Dokument 14 in dieser Edition [vorl. Buch – d. Publ.]
    92 Meldung A 14 (Gau-Abwehr Referent Kurmark) an das Organisationsamt der DAF, Abt. Vermittlung, Betr. Gerüchte über Dr. Ley, 9. 8. 1934. BArchB, NS 5 IV, Nr. 21, fol. 27 f.
    93 Aktennotiz der Gau-I-Abteilung, Breslau, Betr. Telefonische Meldung des Kreiswalters von Hindenburg, Ring, 16. 7. 1936. Ebenda, Nr. 45, fol. 16.
    94 Maschinenschriftliche Abschrift eines anonymen Schreibens aus Köln vom 2. 3. 1936, enthalten in Bericht Nr. 9489 des Amts Information. BArchB, NS 5 IV, Nr. 61.
    95 Schreiben der Abteilung Information der DAF-Gauwaltung Saarpfalz an das Amt Information. SS-Obersturmbannführer Schmidt, Betr. Verächtlichmachung der Partei und führender Persönlichkeiten der Partei, 28. 2. 1938. Ebenda, Nr. 73. Abgedruckt als Dokument 37 in dieser Edition [vorl. Buch – d. Publ.].

    Gerhard Paul
    Klaus-Michael Mall-mann

    96 Vgl. die Dokumentation der Vorgänge ebd., Nr. 74.
    97 Vgl. Amt Information, Verdrehung der Rede von Pg. Dr. Ley am 31. Januar 1938 beim Betriebsappell in Siemensstadt in marxistischem Sinne. Bericht Nr. 23872 vom 8. 2. 1938.
    98 Vgl. Gerhard Paul/Klaus Michael Mallmann, Milieus und Widerstand. Eine Verhaltensgeschichte der Gesellschaft im Nationalsozialismus (Widerstand und Verfolgung im Saarland 1935-1945, Bd. 3). Bonn 1995, S. 434 ff.; Michael Schneider, Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933-1939, Bonn 1999, S. 978 ff.
    99 vgl. BArchB, NS 5 IV, Nr. 58-82.
    100 Marxistische Zersetzungsarbeit im Jahre 1936 innerhalb der DAF. Sonderbericht des Amtes Information der DAF, o. D., 20 Bl., in: BArchB, R 58/2476 a, fol. 18-38. Abgedruckt als Dokument Nr. 10 in dieser Edition [vorl. Buch – d. Publ.])
    101 Abteilung Ia des Amts Information, Folgerungen und Rückschlüsse aus dem Jahresbericht 1936 der Abteilung Ia „Illegale Tätigkeit der Marxisten“, o. D. BArchB, NS 5 IV, Nr. 94, fol. 56-59.
    102 Vgl. ebd, Nr. 95, Abgedruckt als Dokument Nr. 11 in dieser Edition [vorl. Buch – d. Publ.].

    Karl Heinz Roth

    (Karl Heinz Roth: Facetten des Terrors. Der Geheimdienst der „Deutschen Arbeitsfront“ und die Zerstörung der Arbeiterbewegung 1933 – 1938. Bremen 2000, S. 7 – 44; hier S. 20-30)

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