Eine kurze Geschichte der Demokratie – Von Athen bis zur europäischen Union (3)

Luciano Canfora
2004
aus dem Italienischen von Rita Seuß

<< — (2)(1)

II
Der Geburtsakt: Die Demokratie im antiken Griechenland

Kleis-thenes
Hero-dot
Kambyses II. ernennt Otanes zum Richter anstelle seines gehäuteten Vaters Sisamnes, nach einem Gemälde von Peter Paul Rubens.
Mithri-dates VI.

I
Herodot berichtet von einer Debatte, die im Jahr 522/521 v. Chr. unter den Vornehmsten Persiens stattfand und die er in lebendiger dialogischer Form wiedergibt. Man diskutierte über die beste Staatsform, und einer der Vorschläge lautete, in Persien „die Demokratie“ einzuführen (Historien III, 80). An anderer Stelle sagt Herodot, der Satrap Mardonios habe in Vorbereitung auf den Angriff gegen Griechenland „alle Tyrannen in den ionischen Städten abgesetzt und Demokratien eingerichtet“ (Historien VI, 43). Wie in einem so ausgedehnten Reich wie dem Persischen die „Demokratie“ ausgesehen haben soll, ist schwer zu sagen; aber es ist keineswegs auszuschließen, daß es für diese Tradition eine Grundlage gab. Wahrscheinlich dachte der persische Adlige Otanes, von dem dieser Vorschlag stammte, an eine Erneuerung der im alten Persien herrschenden Praxis der „Gleichheit“, die er als den Nukleus der Geschichte jenes riesigen Reiches ansah. Der Vorschlag wurde zwar nicht angenommen, aber Otanes und seine Nachkommen erhielten einen Sonderstatus der Unabhängigkeit zuerkannt (Historien III, 83).
Womöglich maß Herodot der Sache deshalb eine so große Bedeutung bei – immerhin fügte er eine ausführliche Erörterung von Otanes‘ Vorschlag in sein Geschichtswerk ein -, weil er die persische Vorreiterrolle in Sachen Demokratie hervorheben wollte. (Die Episode spielt zehn Jahre vor den Reformen des Kleisthenes, die in der athenischen Überlieferung unumstritten als ein Ausgangspunkt für die Demokratie galten.)
Manche Archäologen glauben, daß überall dort, wo in den griechisch besiedelten Städten Spuren einer agorà entdeckt wurden, damit zugleich auch die Spuren einer irgendwie gearteten Praxis der „Volksversammlung“ nach gewiesen seien.25 Möglich, daß es im Nahen Osten in archaischer Zeit innerhalb lokaler Gemeinwesen Formen der Repräsentation und damit einen Keim demokratischer Strukturen gab; in Form von Gemeindeversammlungen und der Ernennung von Vertretern. Man sprach von „primitiver Demokratie“.26 Da aber solche Gemeinschaften, die auf lokaler Ebene die Volksversammlung der griechischen Städte vorwegzunehmen scheinen, sehr schnell in den zunehmend straffen und beengenden Rahmen der imperialen Ordnung eingegliedert wurden, erkannten die Zeitgenossen in diesen Traditionen keine eigenständige Stufe in der Entwicklung „demokratischer“ Institutionen. Auch später noch, im ungleich größeren politischen Zusammenhang des Römischen Reiches wurden in einer Reihe von Städten Gepflogenheiten und Institutionen der demokratischen Polis beibehalten. Dabei handelte es sich aber zumeist um sehr eingeschränkte Formen, obwohl sie von Zeit zu Zeit einen „Ruck“ hin zur alten Unabhängigkeit erlebten, was eo ipso eine vollständige Rückkehr zur Praxis der Demokratie mit sich brachte. Dies gilt für Athen zur Zeit des sullanischen Kriegs gegen Mithridates, der 88/87 v. Chr. auf griechischem Boden stattfand. Unabhängigkeit (das heißt volle Souveränität) und Demokratie gehören, aus verschiedenen Gründen, zusammen. Der wichtigste führt uns zurück zum Ursprung der antiken Idee der Bürgerschaft und der Demokratie als einer Gemeinschaft bewaffneter Männer.
Die erste Frage lautet also: Wer besitzt die Bürgerrechte? Wer sind jene „alle“, deren Freiheit das Wesen der Demokratie konstituiert? Und die zweite: Auch wenn alle Freien die Bürgerschaft besitzen, wie können die sozial schwächeren ihre Rechte wahrnehmen? Daran knüpfen weitere Fragen an: Welche Instrumente sind notwendig, um die politischen Bürgerrechte praktisch auszuüben (auch im Falle fehlender geistiger und materieller Ressourcen)? Was bedeutet das Prinzip der „Mehrheit“? Ein Problem ist auch das in der politischen Praxis auftauchende Dilemma, ob in erster Linie der „Wille des Volkes“ oder das „Gesetz“ zu berücksichtigen sei etc.
Im Feuer all dieser Probleme entstand – der Idee und dem Wort nach – die demokratia, die uns, seitdem sie erstmals bezeugt ist, als Begriff für „Auseinandersetzung“ überliefert ist, als ein parteilicher Terminus, der von den oberen Klassen geprägt wurde, um die „Übermacht“ (krátos) der Besitzlosen (démos) zu bezeichnen, wenn „Demokratie“ herrscht.

Thuky-dides
Aristo-teles
Solon
Kritias

2
Beginnen wir mit der ersten Frage: Wer besitzt die Bürgerschaft?
Polis ist gleichzeitig die Gesamtheit der polìtai, die als solche auch politeuómenoi sind, also die Bürgerrechte ausüben. Damit wären genau genommen alle Städte erfaßt, in denen es keinen „Tyrannen“ gibt (einen Herrscher, der sich faktisch, mit oder ohne „formale“ Legitimation, über die Gesetze stellt), das heißt Städte, in denen die politischen Rechte von der gesamten Gemeinschaft der Bürger ausgeübt werden. Nur: Wie definiert man die Gemeinschaft der Bürger (und warum variiert sie möglicherweise)?
Wenn wir Athen betrachten, das bekannteste und charakteristischste Beispiel, stellen wir fest, daß in perikleischer Zeit relativ wenige dieses unschätzbare Gut der Bürgerschaft besaßen: nämlich ausschließlich die männlichen Erwachsenen im wehrfähigen Alter, die als Söhne athenischer Väter und Mütter und als Freie geboren sein mußten. Strenge Kriterien, besonders wenn man bedenkt, daß selbst bei vorsichtigen Schätzungen das Verhältnis Freie/Sklaven eins zu vier betrug. Zu beachten ist weiterhin, daß auch die Zahl der von nur einem „reinblütigen“ Elternteil Abstammenden in einer derart auf Handel und den Kontakt mit der Außenwelt gerichteten Stadt keineswegs gering war. Ein athenischer Oligarch, dem wir das erste Werk in attischer Prosa, Athenaíon politeía (Vom Staate der Athener), verdanken, prangert genau diese intensiven Beziehungen Athens mit anderen Städten und Ländern an und führt darauf die „hybridisierenden“ Folgen für die Sprachen und die Speisen zurück (II, 8). Mindestens bis Solon (6. Jahrhundert v. Chr.) waren den Besitzlosen die vollen politischen Rechte, die ja den Inhalt der Bürgerschaft ausmachten, verwehrt. Und ob dann tatsächlich schon unter Solon diesen Besitzlosen der Zutritt zur Versammlung gewährt wurde, wie es Aristoteles in seinem Traktat über die athenische Verfassung (Staat der Athener) behauptet, steht für die heutige Geschichtswissenschaft keineswegs fest.
In klassischer Zeit wurde der Bürger mit dem Krieger gleichgesetzt. Bürger und damit volles Mitglied der Gemeinschaft, dazu berechtigt, an den Volksversammlungen (der beschlußfassenden Institution) teilzunehmen, war derjenige, der in der Lage war, die wichtigste Aufgabe der männlichen Freien zu erfüllen, auf die er in seiner ganzen paideía vorbereitet wurde: nämlich Krieg zu führen. Für die Arbeit zuständig blieben die Sklaven, teilweise auch die Frauen. Jetzt wird klar, warum eine Gemeinschaft, die zwar „autonom“, aber in ein großes, übergeordnetes Machtgefüge eingebunden war, das diese Gemeinschaft faktisch lenkte, nur eine verkürzte Demokratie praktizieren konnte.
Lange Zeit war nur derjenige Krieger, der die Mittel hatte, sich Waffen und Kriegsgerät zu beschaffen, und deshalb war Bürger/Krieger gleichbedeutend mit besitzend. Einzig diese Besitzenden, die über bestimmte Einkünfte, zumeist aus Grundbesitz, verfügten, vermochten sich „auf eigene Kosten“ zu bewaffnen (die sogenannten hópla parechómenoi oder Hopliten). Die Besitzlosen dagegen spielten eine geringe Rolle in der Politik und liefen immer Gefahr, unter bestimmten Umständen auch die bürgerlichen Rechte zu verlieren. Ihre Lage ähnelte jener der Nichtfreien. Mit der Öffnung Athens zum Meer, mit dem Aufbau einer Flotte rund hundert Jahre nach Solon, zur Zeit des Kriegs gegen die Perser, benötigte man eine Vielzahl von kriegstauglichen Arbeitkräften neuen Typs: seemännisches Personal als eine soziale Schicht und zugleich militärische Gruppe, von der man nicht mehr verlangte, „sich selbst zu bewaffnen“, sondern „das Ruder zu führen und die Schiffe zu bewegen“, wie der anonyme Oligarch der Athenaíon politéia gelangweilt anmerkt (I, 19f.). Hier vollzog sich ein Wandel. Dies war das politisch-militärische Ereignis, das die Ausweitung der Bürgerschaft auf die Besitzlosen (die „Theten„) zur Folge hatte, welche somit gleichfalls zu Bürgern/Kriegern aufstiegen: im Falle Athens die Ruderer der mächtigsten Flotte der griechischen Welt. Zu den Vorbedingungen der „Demokratie“ zählten selbstverständlich auch diese Faktoren – eben der Ausbau der Flotte und die militärischen und kommerziellen Aktivitäten zur See. Nicht von ungefähr unterscheidet der erwähnte anonyme Oligarch (hinter dem sich möglicherweise der „SokratikerKritias verbirgt, der im Jahr 404 v. Chr. in Athen die strengste oligarchische Herrschaft führte) zwischen zwei Kategorien politischer Grundordnungen: solche, die Seekriege führen (Athen und seine Verbündeten), und solche, die Landkriege führen (Sparta und vergleichbare Gemeinwesen, die auf die Dominanz des Hopliten-Standes gegründet sind).
Was sich änderte, war also nicht das Wesen der politischen Ordnung (deren Grundlage nach wie vor der Bürger/Krieger bildete), sondern die Zahl derer, die von dieser Ordnung profitierten. Als die Athener, oder besser gesagt athenischen Denker, die sich mit den verschiedenen Staatsformen auseinandersetzten, den Unterschied zwischen der eigenen politischen Ordnung und derjenigen Spartas klarer zu fassen suchten, verwiesen sie auf Elemente, die alles andere als substantiell waren. Man denke nur an Thukydides‚ immer wiederkehrende Bemerkung über die „Langsamkeit“ der Spartaner im Gegensatz zur „Schnelligkeit“ der Athener (Geschichte des Peloponnesischen Krieges I 70, 2; II 39f., VIII 96, 5). Im athenischen politischen Schrifttum stößt man auf das Lob der spartanischen Staatsform nicht nur als einer „guten Herrschaft“ (eunomía), sondern auch im Sinne einer grundsätzlichen Identität des athenischen und des spartanischen politischen Systems.

Büste d. Isokrates

So schreibt Isokrates:

„Unsere Vorfahren nämlich haben sich unter dieser demokratischen Ordnung sehr vor allen anderen ausgezeichnet“.

Und weiter:

„Aber auch die Spartaner haben die schönste politische Ordnung, weil bei ihnen ein Höchstmaß an Demokratie herrscht“
(Areopagitikos [Rede über den Areopag] 61)

Im deutlicher patriotisch geprägten Panathenaikos wiederholt Isokrates mehrere Jahre später mehr oder weniger denselben Gedanken:

Lykurg

„Ich gebe zu, daß ich vieles über die dortigen Einrichtungen [Spartas] sagen will, nicht etwa, weil Lykurgos eine davon erfunden oder sich ausgedacht hat, sondern weil er die Regierung unserer Vorfahren, so gut er konnte, nachahmte und bei den Spartanern eine Demokratie einführte, die mit der Herrschaft der Besten vermischt ist – ein System, das auch bei uns in Kraft war“ (153).

Maxi-milien de Robes-pierre
Gabriel Bonnot de Mably
Louis Antoine Saint-Just
Jean-Jacques Rousseau

(Es ist nicht verwunderlich, daß Lykurgos, der halbmythische Gesetzgeber und Schöpfer der spartanischen Staatsordnung, später einer der Bezugspunkte des Abbé Mably wurde, welcher zusammen mit Rousseau der Leitstern von Robespierre und Saint-Just war; oder daß Sparta in der jakobinischen Ideologie zum paradigmatischen Modell der Republik und der republikanischen Tugend wurde.)
Isokrates erfaßte ein grundlegendes Element, daß nämlich in beiden Gemeinwesen der Ort der Souveränität derselbe war. In beiden Gemeinwesen – und hier handelt es sich um einen charakteristischen Grundzug der gesamten antiken Welt bis zur Krise des Stadtstaats – war die entscheidungsbefugte Körperschaft zugleich diejenige, die kämpfte. Deshalb war die Bürgerschaft ein wertvolles Gut, das mit Bedacht verliehen wurde. Und es existierten mannigfache Ausschlußmöglichkeiten, um die Zahl der Nutznießer dieser Bürgerrechte in Grenzen zu halten.

Plutarch
Nikias
Sokrates
Lysias

3
Der Unterschied zwischen Athen und Sparta liegt ebenfalls in der Art und Weise der Grenzziehung zwischen Freiheit und Unfreiheit. In Athen erklärten die Freien die Unfreien zu Nichtpersonen; und nach Solon, der den verarmten, verschuldeten und zum Teil versklavten Bevölkerungsgruppen die Freiheit schenkte, tat sich zwischen Freiheit und Sklaverei eine unüberwindliche Kluft auf. Das Verhältnis Freie/Sklaven betrug, wie gesagt, eins zu vier, jedenfalls in der Zeit zwischen dem 5. und dem 4. vorchristlichen Jahrhundert. Die große Zahl der Nichtpersonen war unverzichtbar für das Funktionieren des Systems, das sich bis dahin durch Raubkriege, das heißt mit imperialer Macht hatte am Leben erhalten können. Die Sklaven bildeten das Fundament der privaten und staatlichen Wirtschaft. Noch der Ärmste und Elendeste besaß mindestens einen Sklaven, beispielsweise der „sokratische“ Aischines, ein Schüler des Sokrates, der Lysias‚ Porträt zufolge einer über siebzigjährigen Apothekenbesitzerin den Hof machen mußte, in der Hoffnung, einmal ihren Laden zu erben. Im staatlichen Wirtschaftsleben und vor allem im Bergbau wurden Sklaven von Feldhütern beaufsichtigt und befehligt, die ebenfalls im Sklavendienst standen. In privaten Haushalten oblag die Überwachung der Sklaven den Frauen, die ebenfalls Nichtpersonen, das heißt Subjekte waren, die in der politischen Ordnung Athens keine Rolle spielten. In Sparta war die Gesellschaft nach Ethnien und Kasten aufgeteilt. Die herrschenden Dorier hielten die unterworfenen Bevölkerungen in unterschiedlichen Stufen der Abhängigkeit. Einzig die „reinblütigen“ Spartaner oder Spartiaten waren „frei und gleich“, ebenso wie die „reinblütigen“ Athener. Wenn sie den Rest der Bevölkerung nicht anders als durch Gewalt und Schrecken in Schach hielten, dann deshalb, weil sie sich vor deren Überzahl fürchteten. Der Großteil der athenischen Sklaven vegetierte, angekettet und unter erbärmlichen Umständen, in den Bergwerken vor sich hin, wie Plutarch über die Sklaven des Nikias schreibt (Crassus 34, 1). Schwer zu leugnen, daß ein solches Leben sehr viel schlimmer war als das der Heloten, die immerhin einen Teil dessen, was sie mit ihrer Hände Arbeit erwirtschafteten, für sich behalten durften.

4
Die Ausweitung der Bürgerzahl – und das kennzeichnete den konkreten Unterschied zwischen dem athenischen und dem spartanischen Modell – ist also eng mit dem Aufstieg Athens zur Seemacht verbunden. Einer Großmacht, deren „demokratische“ Seeleute die Untertanen wie Sklaven auspreßten. Das Band der Solidarität mit den Verbündeten bildete die Ausbreitung der Idee einer demokratischen Ordnung (also die Zuerkennung der Bürgerschaft an die Besitzlosen) auch in den anderen Gemeinwesen. Eine maßgebliche soziale Gruppe in den verbündeten Städten hielt trotz der Ausbeutung durch die Großmacht Athen an diesem Bündnis fest und stärkte das Band durch die – freiwillige oder erzwungene – Übernahme des politischen Systems Athens. Auch in denn unterworfenen Bundesstädten existierte also eine soziale Basis für die Demokratie, auch wenn ihre Anhänger zahlenmäßig nicht die Mehrheit bildeten.
In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß die Teilnahme an den beschlussfassenden Versammlungen und damit eine aktive demokratische Mitwirkung keineswegs ein Automatismus war. Man könnte vielmehr sagen, daß sich mit dem Hinzukommen neuer sozialer Gruppen andere zurückzögen – ein Phänomen ähnlich wie im revolutionären Paris 1794 nach dem Trauma des Thermidor: Robespierre war gestürzt, die Macht der radikaleren Sektionen der Sansculotterie gebrochen; neue soziale Subjekte beherrschten jetzt die „Sektionen“; gewissermaßen ein „anderes Volk“ wurde Träger dieser direkten Demokratie (antiken Zuschnitts). Davon wird noch zu reden sein. Hier soll der Hinweis genügen, daß im letzten Viertel des 5. Jahrhunderts v. Chr. selbst bei der Zahl von rund 30.000 erwachsenen, freien und „reinblütigen“ Männern im wehrfähigen Alter, die eine Vollbürgerschaft innehatten, so gut wie nie die Anwesenheit von tatsächlich 5.000 Bürgern bei einer Versammlung erreicht wurde. So argumentierten auch, ohne Furcht vor Widerspruch, die Oligarchen, als sie im Jahr 411 den antidemokratischen Staatsstreich mit dem Ziel organisierten, die Vollbürgerschaft auf 5.000 Athener zu beschränken (Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges VIII 72, 1). Was die Oligarchen verschwiegen, war ihre Absicht, die Entscheidungsbefugnis anderen 5.000 zu übertragen (die dem Kriterium genügten, sich auf eigene Kosten zu bewaffnen) und damit den bisherigen 5.000 („Theten“, Schiffsvolk etc., die in Zeiten der radikaldemokratischen Dominanz an der Volksversammlung teilgenommen hatten) die Vollbürgerschaft zu entziehen. Auch nach der Wiederherstellung der vollen Demokratie zwei Jahre später, im Jahr 409 v. Chr., mußte die Teilnahme an der Volksversammlung erst durch Anreize schmackhaft gemacht werden. Dabei handelt es sich um die berühmte „Diobelie“ – ein Unterstützungsgeld von zwei Obolen -, die Aristoteles (Staat der Athener 28, 3) auf die Initiative Kleophons zurückführt (einem der letzten uns heute überhaupt bekannten Volksführer, die vor der militärischen Niederlage 404 v. Chr. aktiv waren) und deren Einführung durch Inschriften für die Jahre 410/405 v. Chr. bezeugt ist. Durch diesen Anreiz – eine Entschädigung für die entgangenen Einkünfte des verlorenen Arbeitstags – sollte verhindert werden, daß die Besitzlosen den Versammlungen fernblieben.

Alkibia-des in jungen Jahren
Herme des Perikles
Kleis-thenes
Aristo-phanes (Vorders. Doppel-büste)

5
In Athen, dem führenden Staat, bewirkte die Ausweitung der Bürgerschaft auf die Besitzlosen eine neue Dynamik innerhalb der politischen Ordnung. Die das politische Leben dominierenden Gruppen entstammten, wohlgemerkt, nach wie Perikles vor der sozialen Elite, den beiden reichsten Vermögensklassen. Strategen wie Hipparchen (die Militärbeamten, die in der Stadt die eigentliche Macht innehatten) und Hellenotamiai (die die Bundeskasse des Seebundes verwalteten und die Finanzen kontrollierten) kamen aus diesen Klassen. Per Los wurden die Mitglieder des Rats der 500 bestimmt, der sich aus je 50 Angehörigen der von Kleisthenes geschaffenen 10 Phylen (Stämme) zusammensetzte. Das Losverfahren bedeutete, daß jeder Bürger in diesen Rat eintreten und turnusgemäß – wenngleich nur für kurze Zeit – eine Position besetzen konnte, die dem eines „Präsidenten“ der Republik entsprach. Auch für die jährlich neu aufgestellte Liste der rund 6.000 Bürger für das Richterkollegium, aus dem die Richter zusammengestellt wurden, konnte sich jeder bewerben, unabhängig von seiner sozialen Klasse. Und man weiß, welch bedeutende Rolle die Gerichte im alltäglichen Leben spielte, wo sich so vieles um Geld drehte.
Trotzdem bleibt die Bedeutung der oberen und reicheren Klassen für die Geschicke der Stadt unbestreitbar. In der Regel verhielten sich die Reichen, die „Herren“, diesem System gegenüber loyal und waren bereit, es zu leiten – besser gesagt, sie übernahmen naturaliter die Führungsrolle. Perikles, Alkibiades, Nikias und Kleon, um nur die bekanntesten zu nennen, waren entweder sehr vermögend oder adlig oder beides. Was auch immer die nachgerade obsessive Überzeichnung Kleons in den Komödien des Aristophanes bedeuten mag – auch Kleon entstammte dem Ritterstand, einer der höchsten Vermögensklassen. Lenkten sie oder wurden sie gelenkt? Sogar die Zeitgenossen waren darüber uneins. Der Verfasser der Athenaion politeia erklärt unumwunden:

„Wer aber, ohne zum Volke zu gehören, es vorgezogen hat, in einem demokratischen Gemeinwesen zu wohnen statt in einem oligarchischen, der hat es darauf abgesehen, im Trüben zu fischen, und hat erkannt, daß es eher in einem demokratischen Gemeinwesen angeht, ganz unentdeckt ein Schurke zu sein, eher als in einem oligarchischen“ (II, 20).

Platon-porträt
Xeno-phon

Aus diesen Zeilen läßt sich eine äußerst kritische Position ablesen. Doch der Verfasser spürt, daß er die Meinung einer Minderheit vertritt. Betrachtet man im übrigen eine so überdimensionale Symbolfigur wie Perikles, so mag es aufschlußreich sein zu sehen, daß er für Thukydides der Antidemagoge par excellence war, der lenkte und sich nicht lenken ließ, auch nicht von den Impulsen und Instinkten des Volkes (Geschichte des Peloponnesischen Krieges II, 65), während derselbe für Platon (Gorgias) geradezu als Inkarnation des Demagogen galt, des großen Volksverführers, der vom Volk unterstützt, eben deshalb korrupt war. Wiederum Thukydides zufolge verhielt sich Perikles in der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten derart antidemagogisch, daß er ihn als „Ersten Mann bezeichnete, ja mehr noch, daß er es für gerechtfertigt hielt, zu sagen, unter seiner Regierung herrsche in Athen nur dem Namen nach die „Demokratie“. Wenn Thukydides ihm allerdings in der wichtigen Rede für die Toten des ersten Kriegsjahrs das Wort erteilt, läßt er ihn sagen, daß in Athen „das Gesetz“ herrscht, während Xenophon, auch er ein Sokratiker, ihm in seinen Memorabilien die Worte in den Mund legt, in der Demokratie zähle letztlich einzig der Wille des Volkes, der sogar über dem Gesetz stehe. Jedenfalls ist sich Thukydides der Macht der Demagogie bewußt genug, um zu einem ausgewogenen Urteil über die Beziehung zwischen Perikles und der Masse der Teilnehmer an der Volksversammlung zu kommen:

„Er wurde nicht in stärkerem Maß von ihnen gelenkt als sie von ihm“.

Theseus mit dem Kopf des Minotaurus
Büste Kimons

Diese Worte Thukydides‘ für denjenigen, den er wenig später den „Ersten Mann“ der Stadt nannte, offenbaren das stille Wissen um die Tatsache, daß derjenige, der in der Politik bewußt die Nähe zur Menge (plethos) sucht, auch unvermeidlich „gelenkt wird“ (ágesthai). Vielleicht liegt hier der Grund, daß Isokrates wenige Jahrzehnte später mit der fiktiven Rede ein Instrument der politischen Publizistik schuf, das außerhalb des demokratischen Rahmens der Volksversammlung die maßgeblichen Gruppen unmittelbar zu beeinflussen suchte. Die geschriebene Rede selektierte ihr Publikum allein schon dadurch, daß sie sich ausschließlich an die Lesekundigen wandte. Doch auch hier ging es um die erfolgreiche Strategie- Indikator des Erfolgs war die Anzahl der Schüler, die ihrerseits aktive Politiker waren und den plethos zu berücksichtigen hatten (anders als die Schule Platons, die von den „demokratischen“ Führern als Fremdkörper, wenn nicht sogar als Feind angesehen wurde).
Es ist also schwierig, ein korrektes Bild der Interessenverflechtungen, Kompromisse und Zugeständnisse zwischen den „Herren“ (den Wortführern und großen Familien) und dem „Volk“ in der athenischen Demokratie zu zeichnen. Dabei darf auch der subjektive Faktor nicht vernachlässigt werden. Wer von der Autorität, der Kompetenz und vom Ansehen des Perikles spricht, denkt zwangsläufig auch an dessen sorglosen, ja (seinen Gegnern zufolge) geradezu „demagogischen“ Einsatz der wirtschaftlichen Ressourcen der Stadt. Es ist jedenfalls nicht falsch, Thukydides‘ Standpunkt für begründet zu halten und in Perikles den zur Hegemonie fähigen Führer zu sehen, der durchaus bereit war, sich unpopulär zu machen. Die einzige wirklich politische Rede, die Thukydides Kleon in den Mund legt, schreckt vor unpopulären Tönen gleichfalls nicht zurück. Man könnte daher sagen, daß – dieser Rede nach zu urteilen – auch Kleon „mehr lenkte, als daß er gelenkt wurde“. Und so schlug Demosthenes im nachfolgenden Jahrhundert exakt diesen Ton an, als er in die perikleische Rolle des unpopulären „Erziehers des Volkes“ schlüpfte. Vielleicht wird es nie ganz gelingen, den dunklen Beziehungen zwischen Führer und Volk, Führer und Massen auf den Grund zu gehen, diesem Hin und Her, welches das Wesen des politischen Handelns ausmacht. Es bleibt jedoch festzuhalten, daß die athenische Demokratie nicht die „Herrschaft des Volkes“ bedeutete, sondern die Übernahme der Führungsrolle innerhalb der „Volksherrschaft“ durch den nicht kleinen Teil der „Reichen“ und „Herren“, die dieses System akzeptierten.
Mit der Ausweitung der Bürgerschaft auf die Besitzlosen erhielt die Demokratie ein neues, dynamisches und explosives Element. Angesichts der Tatsache, daß die Besitzlosen nunmehr politische Macht besaßen, kam es innerhalb der Führungselite – derjenigen, die aufgrund ihres höheren sozialen Rangs über eine politische Bildung verfügten, die Redekunst beherrschten und damit für die Führung prädestiniert waren – zu einer Spaltung. Ein Teil (wohl der größere; doch wir verfügen über keinen Maßstab einer „quantitativen“ Kontrolle) akzeptierte die Führung in einem Staatswesen, in dem die Besitzlosen die dominerende Kraft darstellten. Aus diesem größeren Teil der Oberschicht (den großen Familien, der reichen Ritterschicht etc.) rekrutierte sich die politische Führungsschicht Athens von Kleisthenes bis Kleon. Innerhalb dieser Elite entwickelte sich eine politische Dialektik, die häufig im persönlichen Wettstreit um Prestige, um Macht und um die Führung gründete. Man war getragen von der Überzeugung, die allgemeinen Interessen vertreten und die politische Bühne beherrschen zu müssen, um das Gemeinwesen optimal zu führen. Es herrschte ein Wettstreit um die politisch-militärische Führungsrolle in der Stadt. Keiner war ein Gegner des „Systems“. Jeder verstand sich als „Demokrat“ (in dem Sinn, daß er das System akzeptierte, sich an die Spielregeln hielt und danach strebte, an der Spitze zu stehen). Perikles ebenso wie Kimon, Nikias und Kleon und Alkibiades.
Auf der anderen Seite gab es unter den „Herren“ eine Minderheit, die das neue System ablehnte. In mehr oder weniger geheimen Klubs (den sogenannten „Hetairien„) organisiert, stellen sie eine beständige Bedrohung des „Systems“ dar. Sie spürten dessen Schwächen auf, insbesondere in Zeiten militärischer Verwundbarkeit. Diese Minderheit waren die „Oligarchen“ (olígoi, „die Wenigen“) – eine Bezeichnung, die ihre Gegner für sie prägten. Sie selbst übernahmen diese Bezeichnung nicht und sie taten auch nicht kund, daß sie die Herrschaft einer eng begrenzten Camarilla anstrebten. Sie sprachen vielmehr von einer „guten Regierung“, von der Rückkehr zur „Weisheit“ (sophrosyne),27 und traten für die drastische Beschränkung der Bürgerschaft ein, von der die Besitzlosen ausgeschlossen sein sollten. Die vollen Bürgerrechte sollten also erneut nur diejenigen zustehen, die „in der Lage waren sich auf eigene Kosten zu bewaffnen“. In dieser Hinsicht galten die Oligarchen Sparta als Vorbild einer „guten Regierung“, wo die Zahl der „Gleichen“, der freien, mit Bürgerrechten ausgestatteten Spartaner gegenüber der Masse der Nichtfreien und Beherrschten gering war. Allerdings wäre die Maßnahme, die ihnen für die Realisierung dieses Modells, dieses idealen Staates, vorschwebte und derentwillen man sie als „Spartafreunde“ bezeichnete, in Sparta selbst undenkbar gewesen: einem Teil der Freien die Bürgerschaft abzuerkennen. Und hier liegt der Widerspruch: Sie „träumten“ von Sparta, hätten aber nie „wie Sparta sein“ können. Wenn sie es versuchten, waren sie jedesmal enttäuscht. Im übrigen waren auch sie, die Oligarchen, Teil einer wirtschaftliche und militärischen Ordnung (des Reiches), und das machte es ihnen praktisch unmöglich, gleichsam in vitro in Attika ein zweites Sparta zu schaffen, das zugleich in einem Antagonismus zu Sparta stand, wie auch immer die politische Ordnung aussehen würde, die ihnen vorschwebte. Als sie im Jahr 411 v. Chr. tatsächlich durch einen oligarchischen Umsturz an die Macht kamen, sahen sie sich dem Unvorhergesehenen gegenüber: Sparta setzte den Krieg fort und war keineswegs bereit, ihren „Frieden“ zu akzeptieren; denn Sparta ging es vorrangig um die Zerschlagung der Großmacht Athen. Während des Umsturzes hatte nur einer der Drahtzieher, Phrynichos, die richtige Ahnung über Spartas Nein zum Frieden. Schroff und unumwunden äußerte er sich seinen Mitstreitern gegenüber, daß der Demos auch ihr Anliegen sei und vor allem ihnen nütze.28 Schließlich zogen auch die „Wenigen“, selbst wenn sie nicht mit politischen Führungsaufgaben betraut waren, materielle Vorteile daraus. Der einzige uneingeschränkte und konsequente „Spartafreund“ war Kritias, der, wie die athenischen Quellen nicht müde wurden, zu wiederholen, während seiner kurzen Herrschaft (404 v. Chr.) viele Vermögende ermorden ließ, die in der Demokratie führende Positionen innehatten, und die soziale Basis der Demokratie, den „démos“, en bloc aus der Stadt zu vertreiben suchte. Ihm schwebte offenbar eine Zerschlagung der politischen Einheit Attikas vor, die viele Jahrhunderte zurückreichte, bis in die Zeit des sagenhaften Königs Theseus. Dieser Plan scheiterte an einer fest verankerten politischen Ordnung, die am Ende von den Spartanern hinweggefegt werden sollte.

Antonio Labriola

6
Schon die Bezeichnung „Wenige“ (olígoi) sei verwirrend, meinte Aristoteles, der scharfsinnige Interpret des wahren Wesens, der „Substanz“, von Demokratie und Oligarchie. Die gesamte politische Theorie des antiken Griechenlands entstand als eine Antwort auf das „Skandalon“ der Demokratie. Antonio Labriola schrieb in seinem Werk über Sokrates, dessen gesamte Philosophie sei aus seinem „unvermeidlichen Gegensatz“ zur Demokratie entstanden.29 Die Sokratiker unterschiedlicher Richtungen, allen voran Platon, hegten diesem politischen System gegenüber eine tiefe Abneigung. Aristoteles dagegen untersuchte es mit größerem inneren Abstand und ging dem Problem wirklich auf den Grund, indem er jenem Merkmal der Demokratie das Gewicht nahm, das Kritikern in der Nachfolge des Sokrates als zentral und grundsätzlich inakzeptabel erschien: dem Prinzip der Mehrheit. Was die beiden politischen Systeme unterscheide, so Aristoteles, sei eben nicht die Tatsache, daß in dem einen „viele“, in dem anderen „wenige“ die vollen Bürgerrechte besitzen.

„Der Punkt, in dem sich Demokratie und Oligarchie voneinander unterscheiden, ist Armut und Reichtum“;

ob viele oder wenige regieren, sei dagegen „zufällig“ (Politik 1279 b 35). Aristoteles gebührt das Verdienst, den Klassengehalt dieser Systeme hervorgehoben zu haben. Er verweist darauf, daß „auch in der Oligarchie […] der überwiegende Teil des Volkes“ regiert (1290 a 31), daß also auch in der Oligarchie die Mehrheit entscheidet – für ihn die Bestätigung dafür (falls es einer solchen noch bedurfte), daß es zwischen dem Mehrheitsprinzip und der Demokratie keinen substantiellen Zusammenhang gibt.
Gerade in Athen war das numerische Übergewicht der Besitzlosen innerhalb des sozialen Gesamtgefüges alles andere als unumstößlich. Die Besitzenden, die die Führungsrolle in der Stadt innehatten, konnten jederzeit einen Teil der Armut auf ihre Seite ziehen, um in der Volksversammlung die Mehrheit zu gewinnen. Der „kleine Mittelstand“30 konnte die Stimmungen und Bestrebungen des „démos“ teilen, sich aber auch von ihm entfernen, was in Zeiten der Krise auch geschah.

„Auch für die kleinen Handwerker und Bauern bedeutet ja die Herrschaft des Proletariats den Zugang zu allen Kulturgütern und die Möglichkeit, gelegentlich im Staatsdienst sich von den Mühen der Alltagsarbeit zu erholen“.

Dio-dorus Sicu-lus

Gut hundert Jahre nach dem oligarchischen Umsturz 411, nach der militärischen Niederlage Athens gegen die makedonische Monarchie (Ende des 4. Jahrhunderts, dem sogenannten Lamischen Krieg) schlossen dann die Besitzenden mit militärischer Unterstützung der Makedonen die zwölftausend Besitzlosen von der Bürgerschaft aus (Diodorus Siculus, XVIII 18, 5; i. V. m. Plutarch, Phokion 28, 7), deren Gewährung nun an ein Vermögen von 2.000 Drachmen geknüpft wurde. Damit brach ein Stützpfeiler der attischen Demokratie zusammen; die Folge war die vollständige Isolierung der Besitzlosen. Der „kleine Mittelstand“ mit Phokion, Demades und anderen „Reformern“ wurde dabei von Makedonien unterstützt.

7
Eines der Hauptelemente, die das Bündnis zwischen den Besitzlosen und den „Herren“ stabilisierten, waren die „Leiturgien„, die mehr oder weniger freiwillige Abgabe oft beträchtlicher Summen, mit denen die Reichen bestimmte Aufgaben des Staates finanzierten: den Schiffsbau ebenso wie die Feste und das Theater. Die antike „Volksherrschaft“ (jedenfalls in ihrer griechischen Ausprägung) kannte die Enteignung nur als Form der Bestrafung für bestimmte Vergehen. Die Reichen durften reich bleiben (nur Platon und die Utopisten stellten das Eigentumsrecht in Frage). Dafür wurde ihnen eine große soziale Aufgabe auf die Schultern geladen.

„Der Kapitalist“,

Arthur Rosen-berg

schrieb Arthur Rosenberg in einer sympathisch aktualisierenden Sprache,

„war wie eine Kuh, die von der Allgemeinheit gründlichst gemolken wurde. Da lag es nah, dafür zu sorgen, daß diese Kuh auch recht kräftiges Futter erhielt. Das athenische Proletariat hatte gar nichts dagegen, wenn der athenische Fabrikant, Kaufmann und Schiffsbesitzer im Ausland möglichst viel Geld verdiente; im Gegenteil, um so mehr konnte er nachher im Inland zahlen“.31

Daher das Interesse an der Ausbeutung der Verbündeten und ganz allgemein an einer imperialistischen Außenpolitik, das der athenische „Proletarier“ mit dem „Kapitalisten“ teilte.
Daher das Interesse an der Ausbeutung der Verbündeten und ganz allgemein an einer imperialistischen Außenpolitik, das der athenische „Proletarier“ mit dem „Kapitalisten“ teilte.
In der Epoche, da die Besitzlosen die bestimmende Macht in der Stadt Athen waren, unterstützten sie rückhaltlos die Eroberungspolitik. Bemerkenswert, daß Athen ausgerechnet in dieser Phase seiner Geschichte die beiden – gescheiterten – überseeischen Raubkriege unternahm: gegen die Perser zur Eroberung Ägyptens und gegen den großen Handelsrivalen Korinth, ein siebenundzwanzig Jahre dauernder Krieg, in dessen Verlauf Athen sogar versuchte, durch die Annexion Siziliens seine Herrschaft nach Westen auszudehnen.
Um ihr Prestige zu erhöhen und die Gefolgschaft der unteren Bevölkerungsschichten zu gewinnen, finanzierten die Herren nicht nur Staatsausgaben in Form von „Leiturgien“, sondern spendeten großzügig auch für Bereiche, die dem démos unmittelbar zugute kamen, so zum Beispiel Kimon, der Gegenspieler des Perikles, der seine Besitzungen der Öffentlichkeit zugänglich machte.

„Er ließ nämlich“,

berichtet Plutarch,

„die Einfriedungen von seinen Gütern entfernen, damit sowohl die Fremden wie die bedürftigen Mitbürger die Freiheit hätten, ungescheut von den Früchten zu nehmen, und bei sich zu Hause ließ er alltäglich ein zwar einfaches, aber für viele ausreichendes Mahl bereiten, zu dem jeder Arme, der es wollte, hereinkommen und so seinen Unterhalt haben konnte, ohne zu arbeiten, um so allein für die öffentlichen Geschäfte frei zu sein“
(Kimon 10, 1).

Nach dem Zeugnis des Aristoteles (frg. 363 Rose) allerdings hatte Kimon nicht für alle Athener, sondern nur für die Angehörigen seines démos, offene Tafel gehalten. Bei den Festen wurden die Besitzlosen kostenlos verpflegt und bekamen Fleisch zu essen, das teuer war und daher selten auf dem Speiseplan stand. Der „alte Oligarch“, Verfasser einer Schrift über den Staat der Athener, zeigt kein Verständnis für das Schmarotzertum des Volkes und kritisiert es explizit:

„Sie opfern demnach auf Gemeindekosten […] viele Opfertiere, das Volk aber ist es, das dabei schlemmt und die Opfertiere erlost“ (II 9).

Kimon sorgte auch für die Bekleidung der Armen:

„Ihn selbst begleiteten stets befreundete junge Leute in guter Kleidung“,

heißt es bei Plutarch,

„und jeder von ihnen mußte, wenn dem Kimon ein dürftig gekleideter älterer Bürger begegnete, die Kleider mit ihm tauschen; und das erschien den Leuten sehr großzügig“ (Kimon 10, 2).

Kleo-menes III.
Poly-bios
Lys-ander

8
Die „reinblütigen“ Bürger waren zwar bereit, gegeneinander die Waffen zu erheben, um das kostbare Gut der Bürgerschaft zu erkämpfen, Einigkeit herrschte jedoch darin, mit allen Mitteln zu verhindern, daß die Vollbürgerschaft außerhalb der „Gemeinschaft“ ausgedehnt wurde.32 Nur in Augenblicken der größten Gefahr und tiefer Verzweiflung erkannten die Athener das Potential, das in der drastischen Ausweitung der Bürgerzahl lag. Die Sklaven, die zum verlustreichen Seesieg bei den Arginusen-Inseln (406 v. Chr.) beitrugen, wurden mit der Entlassung aus der Sklaverei belohnt. Dem durchschnittlichen Athener aber behagte diese Art der Zugeständnisse ganz und gar nicht. Ein sicherer Lacherfolg in den Fröschen des Aristophanes war die Szene, in der der furchtsame Diener Xanthas ein lautes Wehklagen darüber anstimmt, daß er an dieser Schlacht nicht teilgenommen hat (der Sklave ist per definitionem ein Dieb und ein Schuft, er ist unzuverlässig etc. und will an einer Schlacht teilnehmen, die längst erfolgreich geschlagen ist). Nach der Vernichtung ihrer letzten Flotte in der aufreibenden Schlacht bei Agiospotamoi (405 v. Chr.) gewähren die Athener – eine beispiellose Geste – den Bewohnern von Samos33 als Lohn für ihre Treue das athenische Bürgerrecht (Samos war seit der gewaltsamen Niederschlagung des Aufstands 441/440 Athens treuester Bündnispartner). In dieser Extremsituation machten die Athener also den verzweifelten Versuch, ihre Gemeinschaft auf das Doppelte zu vergrößern. Vergeblich, denn diese viel zu späte Maßnahme wurde mit der bedingungslosen Kapitulation im April 404 und der Vertreibung der Demokraten aus Samos durch den Sieger Lysander (Xenophon, Hellenika 2, 3, 6f.) hinfällig, nach Wiederherstellung der Demokratie (403/402 v. Chr.) gegenüber den demokratischen Exilanten von Samos jedoch erneut angewandt.34 Die Episode zeigt, daß man sich über die Bedeutung des „numerischen“ Faktors durchaus im klaren war; sie zeigt aber auch, wie stark das Bewußtsein der „Klassenzugehörigkeit“ in den einzelnen Städten blieb. Diesen Umstand sollte man nicht aus den Augen verlieren, korrigiert er doch die pauschalisierende Sicht der Verbündeten als „Opfer“ Athens. Es waren die Besitzenden in den verbündeten Städten, denen es schlecht ging, und nicht der „démos„. was der Autor der Athenaion politeía polemisch beschreibt.
Ähnlich, wenn nicht noch gravierender, war die Situation in Sparta. Hier wurde die Vorherrschaft der Spartiaten (der einzigen wirklich „Gleichen“) kurz nach dem großen militärischen Sieg über Athen durch die Verschwörung des Kinadon 398 v. Chr. in Frage gestellt, der die Interessen der in Armut geratenen, freien Spartaner vertrat. Die Verschwörer wurden aus der Gemeinschaft verbannt. Um den Rückgang der Bürgerzahl zu stoppen, verfiel man zur Zeit der Aufstände der Messenier auf die Idee, Spartiaten-Frauen mit Perioiken Kinder zeugen zu lassen. In Sparta war man dieser „Züchtung“ gegenüber keineswegs abgeneigt, um das virulente demographische Problem in den Griff zu bekommen. Doch alle Überlegungen, den Bevölkerungsrückgang aufzuhalten, wurden viel zu spät in die Tat umgesetzt, nämlich erst im Zuge der Reformen des „revolutionären“ Königs Kleomenes III., der in der Schlacht von Sellasia 222 v. Chr. durch den Makedonenherrscher Antigonos besiegt wurde; diesen hatte Arat, der von Polybios (dem Sänger der „friedensstiftenden“ Herrschaft Roms über Griechenland) verherrlichte Führer des Achaiischen Bundes, zu Hilfe gerufen.

Publius Cornelius Tacitus
Clau-dius

Während er über die Ursachen des Niedergangs der Welt der griechischen Städte Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr. nachdenkt, läßt der Historiker Cornelius Tacitus den Kaiser Claudius in einer denkwürdigen Rede über das Recht auf Bürgerschaft sagen:

„Was sonst würde den Spartanern und Athenern trotz ihrer militärischen Übermacht zum Verhängnis, wenn nicht die Tatsache, daß sie – nach ihrem Sieg – die Besiegten als fremdstämmig (pro alienigenis) ausschlossen?“ (Annalen XI 24, 4).

Statuen der Tyrannen-mörder Harmodios und Aristogeiton.
Philipp II v. Make-donien
Demos-thenes
Hyper-eides

Tacitus erkennt hier den Wirkungszusammenhang zwischen der Abschottung einer Gemeinschaft und deren Niedergang. Übrigens sprach schon Polybios von oliganthropia (XXXVI 17).
Das berühmteste und lehrreichste Beispiel einer solchen beharrlichen, tödlichen Abkapselung war der so kurzlebige wie ungeschickte Versuch, die Sklaven Attikas massenhaft freizulassen. Zu dieser Maßnahme griff man voller Panik nach dem Sieg Philipps von Makedonien über den hellenischen Bund unter Führung des Demosthenes 338 v. Chr. Die makedonische Phalanx schlug die griechischen Truppen in die Flucht, und nichts hätte die tatenlustigen und ehrgeizigen Sieger daran hindern können, gegen das schutzlose Athen vorzurücken. Philipp, der wahrscheinlich nicht unverdient den Ruf eines Zerstörers besiegter Städte hatte, stellte eine derartige Bedrohung dar, daß der Rhetor Hypereides, ein hochangesehener Politiker und nicht gerade erklärter Freund Makedoniens, den Vorschlag machte, gewissermaßen aus dem Nichts eine riesige Armada zur Verteidigung Athens aufzustellen. Zu diesem Zweck schlug er die sofortige Freilassung von rund 150.000 Sklaven vor, die in der Landwirtschaft und in Bergwerken auf attischem Boden arbeiteten (frg. 27-29 Blass-Jensen). Doch wurde ihm wegen „gesetzwidrigen Handelns“ (der in Athen am meisten gefürchteten Anklage) umgehend der Prozeß gemacht. Wer steckte hinter dieser Anklage? Es war Aristogeiton, das Paradebeispiel eines Volksanführers und hündischen Opportunisten, der im Namen der Verteidigung der Demokratie (das ist der Sinn eines Prozesses wegen „gesetzwidrigen Handelns“) gegen die unverdiente, unerhörte Ausweitung der Bürgerzahl auftrat. Die gerade einmal 20.000 Vollbürger Attikas wären in der Flut einer Demokratie aller untergegangen. Aristogeitons Argumentation (die uns aus einer späteren Quelle bekannt ist) war in dieser für die Geschichte Athens dramatischen und einzigartigen Situation durchaus typisch für die demokratische Rhetorik.

„Die Feinde der Demokratie“,

tönte Aristogeiton,

„achten die Gesetze, solange Frieden herrscht, und sind gewissermaßen gezwungen, sie nicht zu übertreten; aber wenn der Krieg ausbricht, finden sie leicht alle möglichen Vorwände, um die Bürger in Angst und Schrecken zu versetzen und zu behaupten, nur mit gesetzwidrigen Maßnahmen sei es möglich, die Stadt zu retten!“35

Demokratische Legalität, Angriff auf die Demokratie, die Interessen des „Volkes“ – das war auch das rhetorische Instrumentarium, mit dem ein syrakusischer Demagoge namens Athenagoras leichtfertig verkünden konnte, die Warnung vor einem „angeblichen“ athenischen Angriff sei lediglich ein „oligarchisches Manöver“ (Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges VI 36-40), während die athenische Flotte doch bereits in Richtung Syrakus ausgelaufen war. Und mit eben dieser Rhetorik verweigerte jener egoistische Eiferer Aristogeiton im Namen derer, die die Bürgerrechte schon besaßen, die gleichen Privilegien den Sklaven, die die Verteidigung Athens hätten stärken können, während der verhaßte Philipp bereits vor den Toren der schutzlosen Stadt stand. Unnötig zu sagen, daß Aristogeiton gegenüber der „gesetzwidrigen“, „antidemokratischen“ Initiative des Hypereides die Oberhand gewann.

–> Teil (4)

Anmerkungen und Endnoten

Henri van Effen-terre
Igor Michailo-witsch Djakonow
Sergej Lwowitsch Utschenko
Bene-detto Croce

25 Vgl. von Effenterre über die agorà von Mallia (oder Malia): Fouilles exécutées à Mallia. Le centre politique: l’Agora, in: „Ètudes crétoises“ 17, 1969.
26 S. L. Utcenko und I. M. Diakonov, Social stratification of ancient society, Nauka Verlag, Moskau 1970.
27 Thukydides VIII 63, 5.
28 Thukydides VIII 48, 6.
29 Antonio Labriola, Socrate, Neuausgabe, hg. von Benedetto Croce. Laterza, Bari 1909, S. 9f.

Marcus Niebuhr Tod
Hippias von Elis

30 Der Ausdruck stammt von Arthur Rosenberg, Demokratie und Klassenkampf im Altertum, Ahriman-Verlag. Freiburg (Breisgau) 1997, S. 53.
31 Arthur Rosenberg, Demokratie und Klassenkampf im Altertum, Ahriman-Verlag. Freiburg (Breisgau) 1997, S. 51.
32 Es blieb der philosophische Dissenz über die Sklaverei, die als widernatürlich angesehen wurde, besonders von den Sophisten wie Hippias und Antiphon. Vgl. z. B. Joseph Vogt, Sklaverei und Humanität im klassischen Griechentum, Verlag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, Wiesbaden 1953, S. 172f.
33 M. N. Tod, A selection of Greek historical inscriptions, Bd. I und II, Clarendon Press, Oxford 1946-1948, Nr. 96.
34 M. N. Tod, A selection of Greek historical inscriptions, Bd. I und II, Clarendon Press, Oxford 1946-1948, Nr. 97.
35 Konradus Jander, Oratorium et rhetorum Graecorum fragmenta nuper reperta, Königsberg, Phil. Diss. 1913, S. 48f.

Luciano Canfora

(Luciano Canfora: Der Geburtsakt: Die Demokratie im antiken Griechenland. Kapitel II in: Eine kurze Geschichte der Demokratie von Athen bis zur Europäischen Union, aus dem italienischen von Rita Seuß, Köln 2006, S. 34 – 53)

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