Antiamerikanismus [1]

Domenico Losurdo
2007
Aus dem Italienischen von Erdmute Brielmayer

1. Die tödliche Krankheit des Antiamerikanismus

Die selbstkritische Reflexion über den Fundamentalismus des Westens und vor allem seines Führungslandes wird leider durch eine Kampagne behindert, die mit dem letzten Krieg gegen den Irak ihren Anfang genommen hat. Bei dieser Gelegenheit hat man versucht, die Protestbewegung und die von einigen europäischen Regierungen vorgebrachten Kritiken und Reserven zum Schweigen zu bringen, indem man diese Feindseligkeits- bzw. Misstrauensbekundungen als Ausdruck von Antiamerikanismus abstempelte. Dieser Antiamerikanismus ist nicht nur als eine abwegige politische Einstellung, sondern vor allem als das mehr oder weniger akute Symptom einer Krankheit beschrieben worden: Fehlanpassung an die Moderne und Indifferenz der Demokratie gegenüber.

Der Antiamerikanismus – so wird behauptet – vereine linke und rechte Strömungen und kennzeichne die schlimmsten Geschehnisse der europäischen Geschichte; deshalb – folgert man – verspreche die Nachsicht gegenüber einer leichtfertig kritischen Haltung gegenüber den Vereinigten Staaten nichts Gutes. Erneut taucht der Dogmatismus der herrschenden Ideologie auf, die zwei Fragen ausweicht, die eigentlich elementar und obligat sein müssten: was manifestiert sich stärker: der Antiamerikanismus in Europa oder der Antieuropäismus in den Vereinigten Staaten? Und warum sollte die erste Haltung tadelnswerter sein als die zweite? Ohne Zeit mit diesen Problemen zu verlieren, werden beiderseits des Atlantiks die Bücher, die Abhandlungen, die journalistischen Beiträge immer häufiger, die die Ausbreitung von Antiamerikanismus beklagen, seine Symptome untersuchen, seine Entstehung zu rekonstruieren, um jeweils zu dem Schluß zu kommen, dass es sich um eine schlimme Krankheit handle, die sowohl in der Linken als auch in der Rechten grassiere.

2. Der Mythos des linken Antiamerikanismus

Karl Marx

Aber liegen die Dinge wirklich so? Hat die These von der Übereinstimmung eines linken und des rechten Antiamerikanismus in antidemokratischem Sinn irgendeine historische Grundlage? Was den linken Antiamerikanismus betrifft, kann man von Marx ausgehen, der die Vereinigten Staaten als das Land der vollendeten politischen Emanzipation“ oder als „das vollendete Beispiel des modernen Staats“ bezeichnet, der die Herrschaft der Bourgeoisie garantiert, ohne a priori irgendeine Gesellschaftsklasse vom Genuss der politischen Rechte auszuschließen1. Man kann hier freilich eine gewisse Nachsicht feststellen: es ist nicht so, dass die Zensusdiskriminierung in den Vereinigten Staaten fehlte, nur nimmt sie eine „rassische“ Form an.

Friedrich Engels (Brighton 1877)

Tendenziell noch pronordamerikanischer ist Engels‚ Haltung. Er unterscheidet zunächst zwischen „Abschaffung des Staats“ im kommunistischen, im feudalen oder im bürgerlichen Sinne und fügt dann hinzu:

„In bürgerlichen Ländern bedeutet Abschaffung des Staates die Zurückführung der Staatsgewalt auf den Maßstab von Nordamerika. Hier sind die Klassengegensätze nur unvollständig entwickelt; die Klassenkollisionen werden jedesmal vertuscht durch den Abzug der proletarischen Überbevölkerung nach dem Westen; das Einschreiten der Staatsmacht, im Osten auf ein Minimum reduziert, existiert im Westen gar nicht“2.

Der Westen scheint nicht nur gleichbedeutend mit Abschaffung des Staates (sei es auch im bürgerlichen Sinn), sondern auch mit Ausweitung der Sphäre der Freiheit zu sein: es findet sich kein Hinweis auf das den Indianern vorbehaltene Schicksal, und über die Sklaverei der Schwarzen wird geschwiegen. Eine ähnliche Einstellung finden wir in Der Ursprung der Familie des Privateigentums und des Staats: die Vereinigten Staaten werden als das Land angeführt, in dem sich, zumindest in einigen Perioden seiner Geschichte und in gewissen Gebieten, der von der Gesellschaft getrennte militärische und politische Apparat praktisch auf Null reduziert3. Wir schreiben das Jahr 1884: zu diesem Zeitpunkt werden den Schwarzen nicht nur die politischen Rechte entzogen, die sie unmittelbar nach dem Sezessionskrieg errungen hatten, sondern sie werden in ein Regime der Apartheid gepresst und einer Gewalt unterworfen, die die grausamsten Formen der Lynchjustiz erreicht. Im Süden der Vereinigten Staaten war der Staat vielleicht schwach, aber umso stärker war dafür der Ku Klux Klan, sicherlich Ausdruck der Zivilgesellschaft, die allerdings selbst Ort der Ausübung von Macht und auch einer sehr brutalen Macht sein kann.

Wichtig ist vor allem, festzustellen, dass sich Engels auf dem Gebiet der internationalen Politik an der Ideologie des Manifest Destiny anzulehnen scheint, wenn er den Krieg gegen Mexiko rühmt: auch dank der „Tapferkeit der amerikanischen Freiwilligen“ sei „das herrliche Kalifornien den faulen Mexikanern entrissen“ worden, „die nichts damit zu machen wussten“; durch die Ausnutzung der neuen, riesigen Eroberungen gäben „die energischen Yankees“ der der Produktion und der Zirkulation des Reichtums, dem „Welthandel“, der Verbreitung der „Zivilisation“ neuen Auftrieb4. Engels entgeht ein Tatbestand, der zur gleichen Zeit von US-amerikanischen abolitionistischen Kreisen scharf verurteilt wurde: die Expansion der Vereinigten Staaten hatte die Wiedereinführung der Sklaverei in dem Mexiko entrissenen Texas bedeutet.

Antonio Gramsci, um 1920
Lenin (1921)
Nikolai Bucharin, v. 1930)

Wenden wir uns jetzt der kommunistischen Bewegung im eigentlichen Sinne zu. Bekannt ist die Faszination, die der Taylorismus und der Fordismus auf Gramsci und Lenin ausgeübt haben. Noch weiter geht Bucharin im Jahre 1923:

„Wir müssen dem Marxismus den Amerikanismus hinzuzählen“5.

Josef W. Stalin

Ein Jahr später scheint Stalin auf das Land, obschon es an der Intervention gegen Sowjetrussland teilgenommen hatte, mit so großer Sympathie zu blicken, dass er einen bedeutsamen Appell an die bolschewistischen Führungskräfte richtet: wenn sie wirklich auf der Höhe der „Grundlagen des Leninismus“ sein wollten, müssten sie in der Lage sein, „den russischen revolutionären Schwung“ mit der „amerikanischen Sachlichkeit“ zu verbinden. „Amerikanismus“ und „Sachlichkeit“ bedeuten hier nicht nur Konkretheit, sondern auch Ablehnung von Vorurteilen, sie verweisen letztlich auf Demokratie. Wie Stalin 1932 erklärt: sicher sind die Vereinigten Staaten ein kapitalistisches Land, aber dort haben „die Gepflogenheiten in der Industrie, die Gebräuche in der Produktionspraxis etwas von Demokratismus, was man von den alten europäischen kapitalistischen Ländern nicht sagen kann, wo noch immer der Herrengeist der feudalen Aristokratie lebendig ist“6. Dies ist der „Amerikanismus“, der auch von Gramsci wegen seiner Fähigkeit geschätzt wird, die Produktivkräfte zu entwickeln und neues Blut in die bestehenden gesellschaftlichen Hierarchien zu pumpen, also „wegen seiner Elemente, die die stagnierende europäische Gesellschaft umstürzen können“. Daher werde der diesseits des Atlantiks verbreitete „Antiamerikanismus“ verständlich, der „eher lächerlich als dumm ist“, weil er sich weltfremd an die Reste des Ancien Regime klammert, das dazu bestimmt ist, von der historischen Entwicklung überrannt zu werden7.

Ho Chi Minh
Martin Heidegger

Auf seine Weise hat Heidegger recht, wenn er den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion (und der kommunistischen Bewegung) vorwirft, metaphysisch gesehen dasselbe Prinzip zu verkörpern, und zwar die Entfesselung der Technik und „Vermassung des Menschen“8. Zweifellos fühlen sich die Bolschewiki vom Amerika des melting pot, des self-made-man und der Entwicklung der Produktivkräfte angezogen. Andere Aspekte sind für sie entschieden abstoßend. Wir kennen schon Ho Chi-minhs entrüstete Anprangerung der fürchterlichen Praxis der Lynchjustiz und ganz allgemein des Regimes der White Supremacy. Dies läuft jedoch keineswegs auf eine unterschiedslose Verurteilung der Vereinigten Staaten hinaus: der Ku Klux Klan, der die ganze „Brutalität des Faschismus“ zeige, werde am Ende von Schwarzen, Juden und Katholiken (auf verschiedene Weise Opfer dieser Brutalität), von „allen anständigen Amerikanern“ besiegt werden9. Wir haben es hier sicher nicht mit einem undifferenzierten Antiamerikanismus zu tun.

3. Verherrlichung des „Amerikanismus“
und imperiale Mythologie

So verschiedenartige Persönlichkeiten der kommunistischen Welt wie Bucharin, Stalin und Gramsci haben sich, wie wir gesehen haben, vorteilhaft über den „Amerikanismus“ bzw. über die „amerikanische Sachlichkeit“ und über ein Land ausgedrückt, dem mit einer gewissen Großzügigkeit das Verdienst zugeschrieben wird, dank seiner Fähigkeit die Kasten- und Rassenschranken zu überwinden, eine großartige Revolution der Produktivkräfte in die Wege geleitet zu haben. Der „Amerikanismus“ kann jedoch auch unter einem entgegengesetzten Vorzeichen gepriesen werden. Ein zeitgenössischer US-Historiker hat das Klima expansionistischen Überschwangs, das in seinem Land um die letzte Jahrhundertwende auf der Woge der triumphalen Sieges über Spanien entstanden war, als sich das abzeichnete, was später das „amerikanische Jahrhundert“ genannt werden wird, wie folgt beschrieben:

Theodore Roosevelt

„Diesem anmaßenden Impuls sind verschiedene Namen gegeben worden: Chauvinismus, Nationalismus, Imperialismus und sogar Faschismus und Nazismus. (Theodore) Roosevelt zog es vor, den einfachen und für ihn schönen Namen Amerikanismus zu benutzen“10.

Nicht umsonst ist der Staatsmann, von dem man hier redet, der „Bote des amerikanischen Militarismus und Imperialismus“ und auch ein wenig des „Rassismus“11.

Simeon Fess

In diesem Kontext ist „Amerikanismus“ die Parole, die das Manifest Destiny und die imperiale Mission der Vereinigten Staaten, der Angelsachsen, der weißen Rasse legitimiert und weiht. In seinem Namen werden in erster Linie die Monroe-Doktrin und die Untertänigkeit Lateinamerikas bekräftigt: es stimmt – erklärt 1916 Simeon Davison Fess, Kongressmitglied -, Washington gebührt die Aufgabe, „den Amerikanismus auf diesem Kontinent zu erhalten“12.

Im Inneren entfesselt der Ku Klux Klan die Pogrome und die Lynchjustiz vor allem gegen die Schwarzen und die weißen „Verräter“ (ohne bei seiner Hasskampagne die Juden, die Orientalen, die Katholiken auszusparen) und propagiert dabei den „reinen Amerikanismus“ bzw. den „hundertprozentigen Amerikanismus“13. Später, im Kalten Krieg, bespitzelt, entlässt, verhaftet, verfolgt der McCarthyismus nicht nur Kommunisten, sondern auch alle Anderen, die verdächtigt werden, un-american zu sein und jedenfalls vom authentischen Amerikanismus abweichende Ideen zu vertreten.

Gut verständlich daher, dass der junge Ho Chi-minh den Ku Klux Klan mit dem Faschismus gleichstellt. Im Übrigen entgehen die Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Bewegungen auch US-amerikanischen Zeitzeugen nicht; nicht selten vergleichen sie, mit positivem oder negativem Werturteil, die weißgekleideten Männer des Südens der Vereinigten Staaten mit den italienischen „Schwarzhemden“ und mit den deutschen „Braunhemden“, den Ku Klux Klan mit der faschistischen und nazistischen Bewegung14. Zweifelsohne übt ein gewisser „Amerikanismus“ einen starken Einfluß auf die europäische Reaktion aus.

Arthur Moeller van den Bruck
Leopold Ziegler, um 1905

Im Jahre 1919 rühmt Moeller van den Bruck, einer der Propheten des Dritten Reichs, den „Amerikanismus“ bzw. das „Amerikanertum“, dieses „große“ und „junge Prinzip“, das, richtig verstanden, dazu führe, für die „jungen Völker“ und die „jungen Rassen“ Stellung zu nehmen15. „Amerikanismus“, betont ein paar Jahre später Leopold Ziegler, bringe nicht nur die „Mentalität der kolonisierenden Rassen“ zum Ausdruck und sei synonym mit „Kolonisation“, sondern sei synonym mit Kolonisation in großem Umfang, mit Expansion in „großen Räumen“ im „gewaltigen Lebensraum“. Die Geschichte der Vereinigten Staaten sei „die Geschichte einer unerhörten Ausbreitung, Erweiterung, Aufschwellung“ und sie bestätige plastisch das Prinzip der „Ungleichheit und Ungleichwertigkeit der verschiedenen Rassen untereinander“ und unter den verschiedenen Individuen ein und derselben Rasse16.

Angelo Mosso
Napo-leone Colajanni
Enrico Corradini

Am Anfang des 20. Jahrhunderts stimmt in Italien der Nationalist Enrico Corradini ein Loblied auf den „Eroberer-Amerikanismus“ und auf seinen „herrlichen Helden“ (Theodor Roosevelt) an. Ähnlich gebärdeten sich – merkt von demokratischen Positionen aus Napoleone Colajanni kritisch an – „die Nietscheanischen Imperialisten Italiens“, die ebenfalls von der expansionistischen Vitalität und von der „Apologie der Stärke und der Gewalt“ des US-Präsidenten fasziniert seien17. Und wirklich erklärt ein eifriger Befürworter des Imperialismus, Angelo Mosso, der ganz besonders vom Epos des Far West begeistert war, voller Bewunderung: „Der Yankee ist der Übermensch„!18

Benito Mussolini, um 1930
Adolf Hitler
Robert Michels

Später werden Corradini und die Nationalisten der faschistischen Partei beitreten. Auch bei Mussolini und im italienischen Faschismus kann man eine Bewunderung für ein Land und sein Volk feststellen, das sich durch „Jugend“ und Kraft auszeichnet, „gesund“ ist, ohne gewisse „dekadente“ Merkmale des „ziemlich veralteten Europas“ aufzuweisen19. Im Jahre 1930 behauptet, ja rühmt Robert Michels die „Affinität zwischen dem Yankeetypus und dem Faschistentypus“. Sie sei, fährt der deutsch-italienische Politologe fort, keinem „besser bewußt als Benito Mussolini selbst, der in seiner Botschaft an das amerikanische Volk sagte: ‚Le due Nazioni infatti, hanno molti punti in comune. L’Italia d’oggi, come l’America, è sana, semplice e piena di fiducia in sé stessa‚“20. Der Duce des Faschismus bewundert besonders die „harte und faszinierende“, die „große Eroberung“ des Far West, die der kolonialen Expansion als Modell dienen könne21 und die in der Tat später Hitler bei seinem Ausrottungskrieg gegen die „Eingeborenen“ Osteuropas inspiriert.

Wenn man, um die Kritik an der Politik Washingtons zum Schweigen zu bringen, an den wesentlichen Beitrag erinnert, den die Vereinigten Staaten zusammen mit anderen Ländern (bei der Sowjetunion angefangen) im Kampf gegen Nazideutschland und seine Verbündeten geleistet haben, sagt man nur einen Teil der Wahrheit. Der andere Teil betrifft die beachtliche Rolle, die die reaktionären und rassistischen US-amerikanischen Bewegungen als Inspiration und Förderung der Agitation gespielt haben, die zuletzt zum Triumph Hitlers führte. Im Übrigen ist die von den Vereinigten Staaten auf die Reaktion ausgeübte Faszination kein auf das 20. Jahrhundert beschränktes Phänomen: man darf nicht vergessen, dass schon vom 18. Jahrhundert an die nordamerikanische Republik ein Anziehungspunkt und gelegentlich eine Zufluchtsstätte für die Sklavenhalter wurden, die nach und nach von der Revolution oder von der abolitionistischen Agitation bedrängt wurden22.

4. Der Nazismus und die Faszination des Rassestaats im Süden der Vereinigten Staaten

Aber hier ist es besser, sich auf das 20. Jahrhundert zu konzentrieren. Schon in den zwanziger Jahren werden zwischen dem Ku Klux Klan und deutschen rechtsextremistischen Kreisen Beziehungen aufgenommen, die den Austausch und die Zusammenarbeit im Zeichen des gegen die Schwarzen und die Juden gerichteten Rassismus vorsehen. Daraus meint eine zeitgenössische US-amerikanische Forscherin den Schluß ziehen zu können:

„Hätte die große Depression Deutschland nicht mit der ganzen Gewalt getroffen, mit der sie es getroffen hat, könnte der Nationalsozialismus so behandelt werden, wie manchmal der Ku Klux Klan behandelt wird: als eine historische Kuriosität, deren Schicksal schon vorgezeichnet war“23.

Eher der unterschiedliche ökonomische Kontext als die unterschiedliche ideologische und politische Geschichte könnte also das Scheitern des invisible empire in den Vereinigten Staaten und den Ausbruch des Dritten Reichs in Deutschland erklären. Es kann sein, dass diese Behauptung übertrieben ist. Aber die Eingebungen, die der Nazismus von bestimmten Aspekten der nordamerikanischen Republik empfängt, bleiben eine Tatsache.

Alfred Rosenberg

Im Jahre 1937 feiert Rosenberg die Vereinigten Staaten als ein „herrliches Land der Zukunft“: weil es die politischen Rechte ausschließlich auf die Weißen beschränkte und auf allen Ebenen und mit allen Mitteln die White Supremacy durchsetzte, habe es das Verdienst, den glücklichen „Rassestaatsgedanken“ formuliert zu haben, einen Gedanken, den es jetzt mit „junger Kraft“ durch die Ausweisung und Deportation „der Nigger und Gelben“ in die Praxis umzusetzen gelte24. Es genügt, einen Blick auf die von Hitler gleich nach der Machtergreifung verabschiedeten Gesetze zu werfen, um die Analogien mit der Lage in den Vereinigten Staaten und insbesondere im Süden zu bemerken: von den politischen Rechten, die den Ariern vorbehalten sind, werden die Juden, die „Zigeuner“ und die wenigen in Deutschland lebenden „Mischlinge“ (nach dem Ersten Weltkrieg hatten farbige Truppen des französischen Heeres an der Besetzung des Landes teilgenommen) ausgeschlossen. Und wie in den Vereinigten Staaten ist auch im Dritten Reich die miscegenation, d. h. die von sexuellen Beziehungen und Ehen zwischen Mitgliedern der niedrigeren Rassen herrührende Kontamination des Blutes, gesetzlich verboten. „Die Niggerfrage“ – schreibt Rosenberg – „steht an der Spitze aller Daseinsfragen in den U. S. A.“; und wenn erst einmal das absurde Gleichheitsprinzip für die Schwarzen aufgehoben ist, gibt es keinen Grund, nicht auch „die notwendigen Folgerungen gegenüber den Gelben und den Juden“ einzuleiten25.

All das darf nicht verwundern. Zentrales Element des Naziprogramms ist der Aufbau eines „Rassestaates“. Nun gut, welche möglichen Modelle gab es damals dafür? Gewiss nimmt Rosenberg auch auf Südafrika Bezug: es sei gut, dass es fest „in nordischer Hand“ bleibe (dank opportuner „Gesetze“ nicht nur gegen die Inder“, sondern auch gegen die „Schwarzen, Mischlinge und Juden“), und einen „gefestigten Stützpunkt“ gegen die Gefahr des „schwarzen Erwachens“ bilde26. Aber der Naziideologe weiß gewissermaßen, dass die segregationistische Gesetzgebung in Südafrika weitgehend vom Regime der White Supremacy beeinflusst worden ist, das sich nach dem Sezessionskrieg und nach der Abschaffung der Sklaverei im eigentlichen Sinn im Süden der Vereinigten Staaten durchgesetzt hat27. Deshalb blickt er in erster Linie auf dieses Regime.

Nicht anders ist Hitlers Orientierung. Nach der Behauptung, die „Blutsvermengung des Ariers mit niedrigeren Völkern“ bringe verderbliche Folgen mit sich, lesen wir weiter in Mein Kampf:

„Nordamerika, dessen Bevölkerung zum weitaus größten Teile aus germanischen Elementen besteht, die sich nur sehr wenig mit niedrigeren farbigen Völkern vermischten, zeigt eine andere Menschheit und Kultur als Zentral- und Südamerika, in dem die hauptsächlich romanischen Einwanderer sich in manchmal großem Umfange mit den Ureinwohnern vermengt hatten“28.

Wie man sieht, sind die Vereinigten Staaten ein Modell für weiße und arische Reinheit. Bei anderer Gelegenheit huldigt der zukünftige Führer ausdrücklich dem „Amerikanertum“ als lebendigem Ausdruck eines „jungen rassisch ausgesuchten Volkes“29, eines Volkes, das gerade dank der eifersüchtigen Bewahrung seiner rassischen Reinheit eine außerordentliche Vitalität zeige. Wir können die von den Vereinigten Staaten auf den Nazismus ausgeübte Faszination umso besser verstehen, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Hitler nicht auf eine allgemeine koloniale Expansion abzielt, sondern auf die Errichtung eines kontinentalen Reichs, durch die Annexion und die Germanisierung der direkt an das Reich angrenzenden Ostgebiete. Deutschland sei dazu berufen, sich in Osteuropa wie in einer Art Far West auszudehnen und dabei die „Eingeborenen“ wie die Indianer zu behandeln30, ohne je das US-amerikanische Modell aus den Augen zu verlieren, dessen „unerhörte innere Kraft“ der Führer verherrlicht31.

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Fußnoten / Anmerkungen

1 Marx/Engels, 1955-891a, Bd. 1, S. 351, Bd. 3, S. 62.
1a Karl Marx/Friedrich Engels, 1955-89, Werke, Dietz, Berlin.
2 Marx/Engels, 1955-891a, Bd. 7, S. 288.
3 Marx/Engels, 1955-891a, Bd. 21, S. 166.
4 Marx/Engels, 1955-891a, Bd. 6, S. 273-75.
5 Bucharin, zit. in Figes, 20035a, S. 24.
5a Orlando Figes, 2003: The Greatest Relief Mission of All, in „The New York Review of Books“, 13. März, S. 22-4.
6 Stalin, 1971-736a, Bd. 6, S. 164-65; Bd. 13, S. 101-102.
6a Josef W. Stalin, 1971-73: Werke, Roter Morgen, Hamburg.
7 Gramsci, 19757a, S. 347, 635 u. 2152.
7a Antonio Gramsci, 1975: Quaderni des carcere, hrsg. von V. Gerranta, Einaudi, Torino.
8 Losurdo, 19958a, S. 106.
8a Domenico Losurdo, 1995: Die Gemeinschaft, der Tod, das Abendland. Heidegger und die Kriegsideologie, Metzler, Stuttgart/Weimar.
9 In Wade, 19979a, S. 203-204.
9a Wyn C. Wade, 1997: The Fiery Cross. The Ku Klux Klan in America, Oxford University Press, New York/Oxford.
10 Morris, 198010a, S. 461.
10a Edmund Morris, 1980: The Rise of Theodore Roosevelt, Ballanzine Books, New York.
11 Hofstadter, 196711a, S. 206.
11a Richard Hofstadter, 1967: The American Political Tradition And the Men Who Made It (1948), Knopf, New York.
12 Weinberg, 196312a, S. 436.
12a Albert K. Weinberg, 1963: Manifest Destiny. A Study of Nationalistic Expansionism in American History (1935), Qadrangle Books, Chicago.
13 MacLean, 199413a, S. 4-5 u. 14.
13a Nancy MacLean, 1994: Behind the Mask of Civalry. The Making of the Second Ku Klux Klan, Oxford University Press, New York/Oxford.
14 MacLean, 199413a, S. 184.
15 Moeller van den Bruck, 191915a, S. 39-40.
15a Artur Moeller van den Bruck, 1919: Das Recht der jungen Völker, Piper, München.
16 Ziegler, 192616a, S. 69-71, 73 u. 77.
16a Leopold Ziegler, 1926: Amerikanismus, in: „Weltwirtschaftliches Archiv“, Bd. 23, S. 69-89.
17 Colajanni, 190617a, S. 317, Anm.
17a Napoleone Colajanni, 1906: Latini e Anglo-Sassoni (Razze inferiori e razze superiori), Rivista Popolare, Roma/Napoli, 2. Aufl.
18 Nani, 199618a, S. 32.
18a Michele Nanni, 1996: Fisiologia sociale e politica della razza latina. Note su alcuni dispotivi di naturalizzazione negli scritti di Angelo Mosso, in A. Burgio/L. Casali (Hrsg.), Studi sul razzismo italiano, Clueb Bologna.
19 Vgl. De Felice, 198119a, Bd. 2, S. 291, 328-29 u. 108 (der Ausdruck „ziemlich veraltetes Europa“ stammt von Vittorio Mussolini).
19a Renzo De Felice R., 1981: Mussolii il duce. 2. Bd. , Lo Stato totalitario 1936-1940, Einaudi, Torino.
20 Michels, 193020a, S. 225 (der Hinweis gilt Mussolinis Botschaft vom Dezember 1926).
20a Robert Michels, 1930: Italien von heute. Politische und wirtschaftliche Kulturgeschichte von 1860-1930, Orell Füssli Verlag, Zürich.
21 Siehe die Intervention vom 14. November 1933, in Mussolini, 197921a, S. 282.
21a Benito Mussolini, 1979: Scritti politici, hrsg. von E. Santarelli, Feltrinelli, Milano.
22 Losurdo, 201022a, S. 196.
22a Domenico Losurdo, 2010: Freiheit as Privileg. Eine Gegengeschichte des Liberalismus, Papyrossa, Köln.
23 MacLean, 199413a, S. 184.
24 Rosenberg, 193724a, S. 673.
24a Alfred Rosenberg, 1937: Der Mythus des 20. Jahrhunderts (1930), Hoheneichen, München.
25 Rosenberg, 193724a, S. 668-69.
26 Rosenberg, 193724a, S. 666.
27 Noer, 197827a, S. 106-107, 115 u. 125.
27a Thomas J. Noer, 1978: Briton, Boer, and Yankees. The United States and South Africa 1870-1914. The Kent State University Press.
28 Hitler, 193928a, S. 313-14.
28a Adolf Hitler, 1939: Mein Kampf (1925-27). Zentralverlag der NSDAP, München.
29 Hitler, 196129a, S. 125.
29a Adolf Hitler, 1961: Hitlers Zweites Buch. Ein Dokument aus dem Jahre 1928, eingeleitet u. kommentiert von G. L. Weinberg, Deutsche Verlags Anstalt, Stuttgart.
30 Hitler, 198030a, S. 541 u. 591 (Gespräch vom 8. u. 30. August 1942).
30a Adolf Hitler, 1980: Monologe im Führerhauptquartier 1941-1944. Die Aufzeichnungen Heinrich Heims, hrsg. Von W. Jochmann, Albert Knaus, Hamburg.
31 Hitler, 193928a, S. 153-154.

Domenico Losurdo (2011)

(Domenico Losurdo: Obama und Orwell: Die Sprache des Imperiums und das Newspeak. In: Ders.: Die Sprache des Imperiums Ein historisch-philosophischer Leitfaden, Köln 2011, S. 111 – 136; hier: 111-121)

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