Vom Aufstieg und Fall der technischen Vernunft [3]

Johannes Rohbeck
1993

Einleitung – (1) Aufklärung über Technik;
Einleitung – (2) Eine verborgene Tradition und Technische Rationalität;
Ziel und Weg als ethisches Problem [1], [2];
Vom Aufstieg und Fall der technischen Vernunft [1], [2]

-x-

3. Selbstregulation des ökonomischen Systems
(Francois Quesnay, Adam Smith)

Max Horkheimer

Solche Selbsteinschätzung wird bekanntlich von der politischen Ökonomie des 18. Jahrhunderts gründlich in Frage gestellt. Die erfahrenen gesellschaftlichen Zusammenhänge erweisen sich nunmehr als selbstregulative Systeme, die sich einer zentralen Planung entziehen. Dadurch wandelt sich der instrumentale Charakter des Sozialen grundlegend, so daß Zweck und Mittel noch einmal ihre Positionen vertauschen. Zwar werden Gesellschaft und Staat mit ihren sich ausdifferenzierenden Institutionen weiterhin als bloßes Mittel individueller Interessen betrachtet. Aber der allgemeine Zweck des öffentlichen Wohlstands ist nicht mehr Gegenstand einer antizipierenden und realisierenden Vernunft. In diesem Wandel sehe ich den wichtigsten Grund für das von Horkheimer beschriebene Phänomen einer Instrumentalisierung der Vernunft; es ist meiner Auffassung nach weniger das Motiv der Selbsterhaltung von Individuen, die keine rationale Bestimmung mehr zuläßt, als das spezifisch liberalistische Verständnis des sich gleichsam naturwüchsig herstellenden Allgemeininteresses, das die Vernunft aus ihrer angestammten Aufgabe der Zielreflexion verdrängt.

Zunächst einmal hat die politische Ökonomie die spezifischen Mittel ihres neuen Gegenstandes entdeckt und analysiert. Es ist vor allem das Geld, das sich sehr bald als das paradigmatische Mittel allen Wirtschaftens herausstellt. Da außerdem erkannt wird, daß Geld gegen alle Waren ausgetauscht und um Unterschied zu gewöhnlichen Waren unbegrenzt aufbewahrt werden kann, gilt es als universelles Mittel. Unterschieden wird einerseits die Funktion der Schatzbildung, andererseits die Funktion des Geldes als Vermittler des Warenverkehrs. Im letzteren Fall wird Geld als Kauf- bzw. Tauschmittel, als Zirkulationsmittel und – bei Kreditgeschäften – als Zahlungsmittel definiert.26 Es ist interessant zu beobachten, wie schon die erste Polemik gegen das Monetarsystem, das die Akkumulation von Reichtum zum Selbstzweck erklärt, mit Hinweis auf den instrumentellen Charakter des Geldes bestritten wird:

„Das Geld ist nur das Mittel und die bewegende Kraft, während die dem Leben nützlichen Waren das Ziel und Zweck sind.“27

Boisguillebert
John Locke

Mit der Entdeckung des Geldes als universelles Mittel geht jedoch eine noch entscheidendere Erfahrung einher, die darin besteht, daß dieses Mittel eine eigene Dynamik entwickelt. Nicht zufällig stehen die ersten Erkenntnisse ökonomischer Gesetzmäßigkeiten mit dem Geldumlauf in Verbindung. Sobald man beobachtet, daß beispielsweise die Beziehung von Geldmengen und Warenpreisen, die Fluktuation von Wechselkursen oder Ausgleichsbewegungen der Handelsbilanz gewissen Gesetzen unterworfen sind, wird das Geld dafür verantwortlich gemacht. So stellt das Gesetz von der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes eine der ersten Erkenntnisse dar, die es erlauben, der Wirtschaftstheorie einen der Naturwissenschaften vergleichbaren Rang zuzuschreiben. Die Folge ist, daß das Geld gleichsam als Motor des ökonomischen Kreislaufs behauptet wird. Ähnlich wie Boisguillebert formulierte Locke:

„Indem das Geld zirkuliert, treibt es die Räder des Handels an.“28

Wenn dann im 18. Jahrhundert diese typisch merkantilistische Hypostasierung teilweise zurückgenommen wird, kommt wiederum das Argument ins Spiel, daß Geld bloßes Mittel sei.

David Hume

„Geld ist nicht im eigentlichen Sinne Gegenstand des Handels und Verkehrs“, schreibt David Hume, „sondern bloß das Werkzeug, über dessen Gebrauch die Menschen übereingekommen sind, um den Austausch der einen Ware gegen die andere zu erleichtern. Es ist nur ein Rad im Handelsgetriebe, es ist das Öl, welches die Bewegung geschmeidiger und leichter macht.“29

Im Zuge der klassischen Ökonomie, die von der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ausgeht, sind es nun vor allem die Bedürfnisse der Menschen, die als wahre Triebkräfte einer Volkswirtschaft anerkannt werden.

Adam Smith (1787)

Derartige Modifikationen ändern indessen nichts an der Tatsache, daß die Selbstregulation des ökonomischen Systems im ganzen anerkannt bleibt. So regeln sich beispielsweise die Marktpreise bei Adam Smith von selbst:

„Demnach ist der natürliche Preis sozusagen der Zentralpreis, gegen den die Preise aller Waren beständig gravitieren.“30

Das Ziel des allgemeinen Wohlstandes wird daher nicht mehr von einer Planungsvernunft bestimmt, sondern ist – nach Smith – das Resultat des „natürlichen Laufs der Dinge“, d. h. eines naturwüchsigen und letztlich blinden Mechanismus. In diesem Sinn kann auch von der gesellschaftlichen Vernunft gesagt werden, daß sie zielblind geworden sei. Die Tätigkeit, Zwecke zu setzen und zu realisieren, wird auf die sich selbst regulierenden Mittel übertragen.31 Die Gesellschaft hat damit ihre Zwecksetzungskompetenz an den ökonomischen Mechanismus delegiert.

François Quesnay

Freilich wird diese Delegierung nicht offen zugestanden. Sowohl Quesnay als auch Smith führen zur Legitimierung ihrer liberalen Wirtschaftstheorien philosophische Hilfskonstruktionen ein, die den wahren Zusammenhang eher wieder verdecken. Quesnay spricht anhand seiner Reproduktionsschemata von einer „natürlichen Ordnung“, die mit einer göttlichen Vernunftsordnung korrespondiert und dem mechanischen System nachträglich rationale Dignität zuschreibt. Auf säkularisierte Weise unterstellt Smith eine „unsichtbare Hand“, die jedoch ebenfalls keine andere Funktion als die einer nachträglichen Rationalisierung erfüllen soll.32 Aber die solcherart postulierten höheren Instanzen sind ohnehin von nur eingeschränkter Natur, weil sie bloß sich selbst gleichbleibende Wirtschaftskreisläufe und geschlossene ökonomische Systeme stabilisieren helfen sollen. Eine wirklich zwecksetzende Perspektive, die Antizipationen für die Zukunft einschließt, ist im Rahmen der politischen Ökonomie nur indirekt realisierbar.

>> Vom Aufstieg und Fall der technischen Vernunft [4]

Fußnoten / Literaturangaben

William Petty
Jens Brock-meier
Thomas Mun
Edward Misselden
Günther Anders

26 Thomas Mun: „England’s Treasure by Forraign Trade“; Misselden: „The Circle of Commerce“; Vanderlint: „Money Answers all Things, or An Essay to Make Money Sufficiently Plentiful“; Smith: „Reichtum der Nationen“, 2, 1. Buch, 4. Kapitel – Ausführlich belegt bei Klein 197326a, 22 ff.; Rohbeck 197826b, 331 ff; Brockmeier /Rohbeck 1981, 195 ff.
26a Ernst Klein: Die englischen Wirtschaftstheoretiker des 17. Jahrhunderts, Darmstadt 1973.
26b Johannes Rohbeck: Egoismus und Sypathie. David Humes Gesellschafts- und Erkenntnistheorie, Frankfurt/M., 1978.
27 Boisguillebert, „Le détail de la France“, zit. nach Rohbeck, 197826b, 61. – In welchem Maße das Geld tatsächlich als Mittel theoretisch reflektiert wurde, zeigen Explikationen, die es mit anderen technischen und wissenschaftlichen Instrumenten vergleichen. William Petty etwa erkennt im Geld einen Maßstab, um den Wert der Waren bestimmen zu können, und zieht die Parallele zu physikalischen Meßmethoden: „Political Arithmetic“, „Quantulumcunque concerning Money„. Belege dazu bei Brockmeier/Rohbeck 198127a, 196 f.
27a Jens Brockmeier/Johannes Rohbeck: Beobachten – Kalkulieren – Eingreifen. Zusammenhänge zwischen Gesellschaftstheorie und Naturtheorie bei der Entstehung der rechnend-experimentellen Wissenschaft im 17. Jahrhundert. In: Rechenstein – Experiment – Sprache. Historische Fallstudien zur Entstehung der exakten Wissenschaften. Hrsg. v. Peter Damerow u. Wolfgang Lefèvre. Stuttgart 1981, 171 ff.
28 Locke, „Some Considerations of the Consequences of the Lowering of Interest, and Raising the Value of Money“, zit. nach Rohbeck 197826b, 61.
29 Zit. nach Rohbeck 197826b, 62.
30 „Reichtum der Nationen“, 1. Buch, 7. Kap. – Mit dieser idealtypischen Interpretation wird nicht die konkrete Stellung von Smith zum Wirtschaftsliberalismus erfaßt.
31 Vgl. eine entsprechende Anmerkung von Anders in „Die Antiquiertheit des Menschen“31a, Bd. 1, 346.
31a Günther Anders: „Die Antiquiertheit des Menschen. 2 Bde. München 1956/80.
32 Quesnay, „Die natürliche Ordnung“, Bd. 1, 75 ff.; Smith, „Reichtum der Nationen“, 1. Buch, 7. Kap. – Vgl. Rohbeck 198732a, 98 ff.
32a Johannes Rohbeck: Die Fortschrittstheorie der Aufklärung. Französische und englische Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/M., New York 1987.

Johannes Rohbeck

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(Johannes Rohbeck: Technologische Urteilskraft – Zu einer Ethik technischen Handelns, Frankfurt am Main 1993, S. 64-67)

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